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Kiews Sicherheitsrat berät über Vergeltung

Nach Abschuss von Truppentransporter und 49 Toten Abbruch diplomatischer Beziehungen zu Russland angedroht

Von Klaus Joachim Herrmann *

Meldungen über eine Evakuierung der Zivilbevölkerung aus dem Donbass erwiesen sich am Sonntag als verfrüht. Doch Entspannung ist nach dem Abschuss einer IL 76 in weite Ferne gerückt.

Nach der Staatstrauer am Sonntag für die 49 Opfer des Abschusses eines Militärtransporters im ostukrainischen Lugansk durch prorussische Milizen tritt zu Wochenbeginn in Kiew der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat zusammen. Er wurde von Präsident Petro Poroschenko, der Vergeltung angekündigt hatte, einberufen. Den Angriff, bei dem 40 Fallschirmjäger und neun Besatzungsmitglieder den Tod fanden, nannte er einen »zynischen Akt des Terrors, der bestraft werden wird«. Kiew drohte Russland auch mit einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen.

Unklar blieb bislang, mit welchen Waffen der Transporter am Samstag beim Landeanflug auf den Flughafen im ostukrainischen Lugansk abgeschossen wurde. Das Verteidigungsministerium in Kiew sprach von Schüssen aus einem großkalibrigen Maschinengewehr. Ein Sprecher der Separatisten verwies hingegen laut der russischen Nachrichtenagentur RIA/Nowosti auf eine Boden-Luft-Rakete. Beobachter äußerten, die Katastrophe hätte vielleicht vermieden werden können. Es sei bekannt gewesen, dass in Lugansk die Regierungsgegner über starke Positionen verfügten. Unklar blieb, ob die Entlassung eines Generalmajors im Generalstab auf Anweisung der Präsidialverwaltung mit diesen Ereignissen eine Verbindung hatte.

In der »Zone der Anti-Terror-Operation« der Regierung wurde auch am Wochenende weiter gekämpft. Die Spannung war hoch. Über soziale Netzwerke machte eine Information die Runde, dass die zivile Bevölkerung aus den Gebieten Donezk und Lugansk in den nächsten 36 Stunden evakuiert werde. Das wurde am Sonntag vom Stab der Operation dementiert. Er beklagte »destruktive Prozesse«.

Allerdings war 48 Stunden zuvor in Charkow von einem Runden Tisch beraten worden, wie einer drohenden »humanitären Katastrophe« begegnet werden könne. Wegen der bei Beschuss entstandenen Schäden brach in mehreren Städten die Wasserversorgung zusammen. Die Versorgungslage ist vielerorts kritisch.

Nur eine Ankündigung blieben bislang humanitäre Korridore. Nach Angaben aus dem Innenministerium müssten erst Kontrollpunkte eingerichtet werden, an denen die Personalien der Flüchtlinge aufgenommen werden sollen. Zu verhindern sei, dass gegnerische Kämpfer Einkesselungen wie die von Slawjansk verlassen.

Die angespannten ukrainisch-russischen Beziehungen nahmen weiteren Schaden. So wurde in der Nacht zu Sonntag die Botschaft Russlands in Kiew von Hunderten Demonstranten angegriffen. Diplomatenfahrzeuge wurden umgestürzt, Fensterscheiben eingeworfen und die russische Fahne niedergerissen. Befürchtet wurde ein Sturm des Gebäudes.

Der ukrainische Außenminister Andrej Deschtschiza, der nach eigenen Angaben die Menge davon abhalten wollte, bezeichnete inmitten der Meute Russlands Präsidenten Wladimir Putin als »Scheißkerl«, was in einem Video dokumentiert wurde. Das russische Außenministerium protestierte, beklagte die »Schändung« der russischen Flagge und warf den Behörden »Untätigkeit« vor. Auch die US-Regierung ermahnte die Ukraine, die Sicherheit der diplomatischen Vertretung zu gewährleisten.

Weiter für Verwirrung sorgten drei Panzer russischer Bauart T 64, die in der Ostukraine gesichtet wurden. Während Kiew und die NATO ein russisches Eindringen vermuteten, erklärte Milizenführer Andrej Purgin, die Militärtechnik sei aus ukrainischen Depots erbeutet worden. Russland seinerseits beschwerte sich über das Vordringen ukrainischer Schützenpanzer auf sein Territorium.

Im Gasstreit läuft am Montag das russische Ultimatum ab. Es droht eine Lieferung nur noch gegen Vorkasse.

* Aus: neues deutschland, Montag, 16. Juni 2014


Wer schoß Kiews Flugzeug ab?

Ukrainischer Militärtransporter abgeschossen. Poroschenko spricht von Terrorakt, Aufständische weisen Verantwortung zurück

Von Reinhard Lauterbach **


Beim Abschuß eines Transportflugzeugs des ukrainischen Militärs sind am Samstag am Flughafen Lugansk alle 49 Insassen ums Leben gekommen. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko sprach von einem »feigen Terrorakt« und beschuldigte Rußland, die Aufständischen mit immer moderneren Luftabwehrwaffen zu versorgen. Ein Sprecher der Rebellen bestritt dagegen, daß Kämpfer der »Volksrepublik Lugansk« die Maschine abgeschossen hätten. Die Analyse von Videoaufnahmen des Abschusses zeige, daß die Rakete von einem Ort abgeschossen worden sei, der unter Kontrolle der Kiewer Truppen stehe. Der Sprecher behauptete, das Flugzeug sei in Wahrheit von Fallschirmjägern aus dem westukrainischen Lwiw abgeschossen worden. Diese hätten verhindern wollen, daß die gemeinsam mit ihnen auf dem Flugplatz stationierten Soldaten der Luftlandebrigade aus Dnipropetrowsk verstärkt werden sollten. Zwischen Angehörigen beider Einheiten sei es schon mehrfach zu Schußwechseln gekommen.

Die auf den ersten Blick phantastisch anmutende Theorie verdient – auf den zweiten Blick –, zumindest als eine Variante in Betracht gezogen zu werden. Die in Dnipropetrowsk stationierte 25. Luftlandebrigade war in den Anfangstagen der Rebellion im Donbass mehrfach dadurch aufgefallen, daß ihre Soldaten sich weigerten, auf die eigene Bevölkerung zu schießen – ebenso wie sie im Februar den Befehl verweigert hatten, gegen den »Euromaidan« in Kiew vorzugehen. Die Grundausstattung der Aufständischen von Slowjansk mit Panzerfahrzeugen wurde jedenfalls von Einheiten genau dieser Brigade erbeutet. Vor dem Hintergrund solcher möglichen internen Konflikte wird auch eine Meldung plausibel, wonach Poroschenko unmittelbar nach dem Abschuß die Bestrafung derjenigen gefordert habe, die »die Sicherheit der in Lugansk eingesetzten Truppen nicht gewährleistet« hätten. Diese Reaktion wäre wenig verständlich, wenn nicht der Verdacht von »friendly fire« bestünde. Von einer Atmosphäre gegenseitigen Mißtrauens in den ukrainischen Streitkräften zeugt auch ein Appell, den der Kommandeur des aus Angehörigen des faschistischen »Rechten Sektors« bestehenden »Bataillons Donbass«, Semjon Semjontschenko, über Facebook an Poroschenko richtete. Darin forderte er den Präsidenten auf, einen neuen Geheimdienst nach dem Muster der sowjetischen Spionageabwehr aus dem Zweiten Weltkrieg zu schaffen, um Fälle von »Verrat« im ukrainischen Offizierskorps aufzudecken.

Auf die Nachricht von dem Abschuß der Transportmaschine hin versammelten sich in Kiew mehrere hundert Aktivisten vor dem Gebäude der russischen Botschaft. Sie warfen Steine und Brandsätze auf das Gebäude, sprayten Hakenkreuze auf den Zaun und demolierten geparkte Autos von Botschaftsmitarbeitern. Ein Sprecher der Demonstranten forderte die Diplomaten auf, das Land zu verlassen. Der ukrainische Außenminister Andrij Deschtschiza erschien am späten Samstag abend vor der Botschaft und bekundete den Randalierern seine Solidarität. Wäre er nicht Minister, stünde er auf ihrer Seite, erklärte er nach russischen Agenturberichten. Am Sonntag jedenfalls zitierten dann auch westliche Medien Deschtschiza mit der Aussage, es könne erforderlich werden, daß die Ukraine die Beziehungen zu Rußland abbreche. Moskau reagierte auf die Äußerungen des Ministers mit der Forderung nach dessen Entlassung.

** Aus: junge Welt, Montag, 16. Juni 2014


Verhandlung, nicht Vergeltung

Klaus Joachim Herrmann über die Verschärfung der ukrainischen Krise ***

Der Krieg um die Ukraine kostet immer mehr Menschenleben. Der Maidan in Kiew, die Gewerkschaftszentrale von Odessa und nun auch der Flughafen von Lugansk sind zu blutigen Malen einer unerbittlichen Auseinandersetzung geworden. Dabei gehen nur dem Anschein nach Landesosten und -westen aufeinander los. Im Kern wird um den geopolitischen Standort des Landes gekämpft. Dafür lassen Russland und die USA faktisch einen Stellvertreterkrieg führen.

Niemand zweifelt doch ernstlich, dass die Führung in Kiew US-amerikanischen Interessen dienstbar ist. Wohl noch mehr wird allgemein davon ausgegangen, dass Russland seinen Einfluss im ukrainischen Osten geltend macht. Beide mächtigen Gegenspieler führen propagandistisch einander vor, meiden aber aus höchst plausiblen Gründen ein direktes Aufeinandertreffen. Längst zwischen die Fronten geraten, versucht die EU einen Schaden, den sie mit verursachte, von sich selbst noch irgendwie abzuwenden.

Doch der Konflikt eskaliert. Jeder drischt immer brutaler auf den anderen ein, feiert Triumphe oder fordert »Vergeltung!« Gerufen werden muss jedoch »Verhandlung!« Diese aber direkt zwischen Moskau und Washington. Denn mit auch noch so viel mörderischen Siegen ihrer jeweiligen Gefolgsleute wird der Großmachtkonflikt nicht zu lösen sein.

*** Aus: neues deutschland, Montag, 16. Juni 2014 (Kommentar)


Gehirnwäsche

Deutsche Medien und Kiews Propaganda

Von Reinhard Lauterbach ****


Die Ereignisse im Irak, wo den USA die von ihnen geschaffene Nach-Saddam-Ordnung um die Ohren fliegt, haben die Lage in der Ukraine aus den Schlagzeilen verdrängt. Aber mit diesem journalistischen Routineverhalten allein ist nicht zu erklären, warum die deutsche Ukraine-Berichterstattung so wortkarg geworden ist.

Daß die Kiewer Machthaber ihre »Antiterroroperation« intensiviert haben, kaum war die Wahl des Oligarchen Petro Poroschenko zum Präsidenten absolviert, wurde Ende Mai geradezu augenzwinkernd kommentiert: Zu viel Gewalt vor der Wahl hätte ja womöglich Proteststimmen mobilisieren können. Seitdem gibt es nur noch Routinemeldungen über Erfolge der Kiewer Truppen. Fragen, wie die Verstärkung der Angriffe gegen die von den Aufständischen besetzten Städte zu den Friedensbekundungen Poroschenkos passen – Fehlanzeige. Seine auf Russisch zu den Bewohnern der Ostukraine gesprochenen Worte in der Inaugurationsrede, »Ich werde schon bald zu euch kommen«, können dort nur als Drohung verstanden werden. Einstweilen »kommt« Poroschenko in Gestalt von Luftangriffen auf Wohnviertel. Es ist Zeitungen wie dem britischen Guardian vorbehalten, der westlichen Öffentlichkeit mitzuteilen, wie es tatsächlich in Slowjansk aussieht, einer Stadt ohne Strom und Wasser, unter täglichem Artilleriebeschuß, in der es keine Lebensmittel mehr gibt und in der die vorhandenen Vorräte in der Sommerhitze verfaulen. Eine Stadt, aus der flieht, wer kann, und in der sich der Rest der Bewohner in den Kellern versteckt. Das selbsternannte »Informationsflaggschiff« Tagesschau sendet derweil Bilder von Generalsrunden in Kiew, die zur Ansprache ihres Befehlshabers mit dem Kopf nicken.

Und jetzt übernimmt die deutsche Presse die Kiewer Sprachregelung, der Abschuß eines Militärtransporters im Anflug auf Lugansk sei ein »hinterhältiger Terrorakt« gewesen. Wie bitte? Im Donbass herrscht Krieg, eine Transportmaschine ist ein militärisches Ziel, und die 49 Umgekommenen waren Soldaten in Ausübung ihrer Mission. Wem es um ihr Leben wirklich leid tut, der sollte sich eher Gedanken über eine Verhandlungslösung des Konflikts machen, als nach Vergeltung zu rufen. Und, Stichwort Terrorakt: Wie soll man denn die Autobombe gegen das Fahrzeug des Anführers der »Volksrepublik Donezk«, Denis Puschilin, vom letzten Donnerstag nennen? Die deutsche Presse macht Fortschritte. Die plumpe Anweisung der Deutschen Welle vom April, die Referenden in der Ostukraine routinemäßig mit dem Adjektiv »illegitim« zu versehen, war gestern. Heute wird ein Krieg zur Unterwerfung einer Bevölkerung, die die Kiewer Machthaber als »ihre« beanspruchen, terminologisch gerechtfertigt. Der Terror gegen Wohnviertel von Donezk und Slowjansk von heute macht deutlich, was die Bevölkerung des Donbass von einem Frieden à la Poroschenko zu erwarten hätte.

**** Aus: junge Welt, Montag, 16. Juni 2014 Kommentar)


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