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Opposition provoziert

Heftige Auseinandersetzungen in Ukraine. Exinnenminister im Krankenhaus

Von Reinhard Lauterbach *

In der Ukraine konzentrieren sich die Proteste gegen Präsident Wiktor Janukowitsch inzwischen offenbar auf einen harten Kern von Regierungsgegnern. Dieser sucht angesichts abnehmender Teilnehmerzahlen des Dauerprotests auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz die physische Konfrontation mit der Staatsmacht. Dabei ist ein hohes Maß von Gewaltbereitschaft zu beobachten. Ein Beispiel dieser Taktik sind die Vorgänge aus der Nacht vom Freitag zum Samstag. Eine Gruppe von Anhängern des sogenannten »Automaidan« hatte zunächst vor einem Kiewer Amtsgericht für drei Angeklagte demonstriert, die sich dort für einen Sprengstoffanschlag auf ein Lenindenkmal verantworten müssen. Schon dort warfen sie Steine und Flaschen auf die Polizei. Anschließend blockierten sie mit ihren Autos eine Wagenkolonne der Sonderpolizei »Berkut«. Bei den folgenden gewaltsamen Auseinandersetzungen wurden etwa 20 Demonstranten und 20 Polizisten verletzt, viele davon schwer.

Prominentestes Opfer auf seiten der Demonstranten war der frühere Innenminister der Regierung Timoschenko, Juri Luzenko. Daß dem Mann die Hand locker sitzt, hatte er bereits vor einigen Jahren auf dem Frankfurter Flughafen bewiesen. Damals hatte er betrunken eine Lufthansa-Maschine betreten. Als sich der Pilot weigerte, ihn zu befördern, randalierte Luzenko, bewarf eine Stewardeß mit seinem Mobiltelefon und wurde schließlich von der Bundespolizei in Handschellen abgeführt. Weitere Konsequenzen hatte die Sache damals nicht, weil Luzenko einen Diplomatenpaß besaß. Bei der Prügelei mit der ukrainischen Polizei am Freitag abend kam er weniger glimpflich davon. Luzenko erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma und wurde in die Intensivsta­tion einer Kiewer Klinik eingeliefert.

Die Pro-EU-Opposition hat offensichtlich ihre Taktik geändert. Seit etwa drei Wochen nimmt die Zahl der Dauerdemonstranten auf dem Unabhängigkeitsplatz ab. Das Bild von der friedlich protestierenden »Zivilgesellschaft« hat sich medial abgenutzt. Also muß stärkerer Tobak her. Daß Ende Dezember die oppositionelle Enthüllungsjournalistin Tatjana Tschornowil von Unbekannten auf der Straße von Kiew zum internationalen Flughafen ausgebremst und verprügelt wurde, gab für ein paar Tage Stoff für Schlagzeilen und Spekulationen. Um dieselbe Zeit konstituierte sich – offenbar vorwiegend aus Anhängern der nationalistischen Freiheitspartei – ein sogenannter »Automaidan«. Das sind motorisierte Kommandos, die seitdem mit Pickups, SUVs und tiefergelegten Machoschleudern regelmäßig Autokorsos zu Privatresidenzen wichtiger Regierungspolitiker veranstalten und dort Auge in Auge mit der Polizei gegenüberstehen.

Der Aktionismus der Basis überdeckt, daß die politische Führung der Opposition weiterhin weit von einer Einheit entfernt ist. Jede der drei Parteien »Vaterland« (Julia Timoschenko), »Schlag« (Witali Klitschko) und »Freiheit« rangelt hinter den Kulissen um die beste Ausgangsposition für die Präsidentschaftswahlen 2015. So gab es neulich Aufregung über einen angeblich von der regierenden Partei der Regionen eingebrachten Gesetzentwurf, wonach Kandidaten mindestens seit zehn Jahren in der Ukraine gemeldet sein und dort Steuern gezahlt haben müssen. Diese Vorschrift würde den Boxer Klitschko aus dem Rennen werfen, weil er meist in Deutschland gelebt hat. Etwas später sickerte allerdings durch, daß die Gesetzesinitiative gemeinsam von der Partei der Regionen und dem amtierenden »Vaterland«-Chef Arseni Jazeniuk gestartet worden war. Denn Klitschko hätte nach aktuellen Umfragedaten als einziger die Chance, Janukowitsch in einem zweiten Wahlgang zu besiegen.

So weit wollen es die »Freunde« nicht kommen lassen. Als Fleisch vom Fleische der ukrainischen Politik sehen sie die Staatsmacht genauso als Pfründe an, wie sie es Janukowitsch und seinen Leuten vorwerfen. Knapp die Hälfte der ukrainischen Bevölkerung durchschaut das. Die andere Hälfte läßt sich von Jazeniuk auf dem Maidan erzählen, unter Führung der heutigen Opposition werde die Ukraine ab 2015 De-facto-Mitglied der EU sein. Das aber ist schlicht und einfach gelogen. Nicht einmal visafreien Reiseverkehr hat die EU den Ukrainern angeboten, eine Mitgliedschaft erst recht nicht.

* Aus: junge Welt, Montag, 13. Januar 2014


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