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"Die Ukraine bleibt ein einheitlicher Staat"

Gespräch mit Olexander Moros. Über die Aufgaben der Opposition in seinem Land, die Rolle der extremen Rechten, politische Perspektiven und die Frage der Legitimität der neuen Staatsführung *


Olexander Moros, Jahrgang 1944, geboren in einem Dorf südlich Kiews. Der Vater war Tischler, die Mutter Kolchosbäuerin. Nach dem Studium an der Landwirtschaftsakademie Agraringenieur in verschiedenen Landwirtschaftsbetrieben, Besuch der Parteihochschule in Moskau und seit 1983 in verschiedenen Parteifunktionen in der Ukraine tätig. Seit 1990 viermal als Abgeordneter in die Werchowna Rada gewählt. Von 1994 bis 1996 Vizevorsitzender der Verfassungskommission, von 1994 bis 1998 und 2006/07 Parlamentspräsident. 1994, 1999 und 2004 Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen. Von 1991 bis 2010 Vorsitzender der Sozialistischen Partei der Ukraine. Seit 2004 Vorsitzender der Bürgervereinigung zum Schutz der Kriegskinder.


Sie gehörten 1991 zu den Gründern der Sozialistischen Partei, nachdem die Kommunistische Partei der Ukraine verboten worden war; die SPU ist eine der ältesten Parteien im Lande. Fast zwei Jahrzehnte waren Sie deren Vorsitzender. Wie stark ist Ihre Partei heute?

Wir haben aktuell etwa 100000 Mitglieder, was beachtlich ist angesichts der gesellschaftlichen und medialen Ausgrenzung. Seit unserem Ausscheiden aus dem Parlament 2007 kommen wir in der Presse kaum noch vor. Der öffentliche Fokus, Sie werden das aus Deutschland kennen, richtet sich nun einmal nur auf die Regierenden und auf die im Parlament vertretenen Parteien.

Ihre Partei reklamiert für sich, von Anbeginn als linke oppositionelle Bewegung schon immer gegen das Präsidialsystem in der Ukraine gestritten zu haben, 2000 startete Ihre Partei die Kampagne »Ukraine ohne Kutschma«. Leonid Kutschma war zunächst Ministerpräsident, dann Präsident der Ukraine, Sie selbst veröffentlichten damals die Mitschnitte von Telefongesprächen, aus denen eine mögliche Mitwirkung des Präsidenten an der Ermordung eines Journalisten im Jahr 2000 hervorging …

Das löste damals Massenproteste aus, doch mehrere Mißtrauensanträge in der Werchowna Rada zur Abwahl des Präsidenten scheiterten damals. Er blieb bis 2004, also volle zwei Wahlperioden, im Amt, eine dritte war nicht möglich. Kutschma war mit viel Geld von mehreren Oligarchen ins Amt gehoben worden. 2011 wurde aber das Ermittlungsverfahren in dieser Mordsache eingestellt. Die Klage sei auf der Grundlage unzulässiger Indizien und damit zu Unrecht eingeleitet worden, hieß es zur Begründung. Aber das ist vergossene Milch, darüber müssen wir uns nicht mehr unterhalten.

Warum waren und sind Sie gegen das Präsidialsystem?

Zunächst aus parteiegoistischer Sicht: Weil es sich gegen unsere Partei richtet – das war unter Kutschma so und unter seinem Nachfolger Juschtschenko. Und unter Janukowitsch war es nicht anders. Die Sozialisten waren nicht käuflich, sie dienten nicht ihren Regimes, die Präsidenten aber nutzten ihr eigenes System, um uns zu blockieren. Beispiel: Bei den Parlamentswahlen im Oktober 2012 wurden wir – obgleich die Partei in allen Wahlkreisen präsent war – zu keiner lokalen Wahlkommission zugelassen. Ausgenommen mein Wahlkreis, in welchem ich als Direktkandidat antrat. Dort gestattete man die Mitwirkung von SPU-Mitgliedern in der Wahlkommission. Wir konnten dennoch Wahlmanipulationen und -fälschungen nachweisen. So waren etwa Mitglieder der Wahlkommissionen gekauft worden, um das gewünschte Ergebnis herbeizuführen. In Mironiwka beispielsweise, einem kleinen Ort mit etwa 10000 Wahlberechtigten, wurden dem Kandidaten der Macht 4000 Stimmen mehr zugeschrieben, als er tatsächlich bekommen hatte. Auf unsere Intervention wurde wie üblich reagiert: Die Nachprüfungen hätten die Behauptungen nicht bestätigt.

2007 war es nicht anders. Wir erzielten ein achtbares Ergebnis, aber auf Anweisung des Präsidenten Juschtschenko wurde das Wahlergebnis nach unten korrigiert. Damit blieb die Partei unter der Dreiprozenthürde.

Das hat ja mit dem Präsidialsystem als solchem nichts zu tun, eher mit dem Präsidenten.

Mein Hinweis auf den Parteiegoismus war ja auch nur ironisch gemeint. Wir waren und sind aus politischen Gründen für eine Gewaltenteilung und das von Anfang an. Wir hatten und haben in der Ukraine stets eine Verflechtung von politischer Legislative und Exekutive, allgemein: der Macht und dem Busineß, die schon Friedrich Engels treffend beschrieb. In der demokratischen Republik »übt der Reichtum seine Macht indirekt, aber um so sichrer aus. Einerseits in der Form der direkten Beamtenkorruption, wofür Amerika klassisches Muster, andrerseits in der Form der Allianz von Regierung und Börse«. In der Verfassung von 1996, die unter maßgeblichem Einfluß meiner Partei erarbeitet und dann mit unseren Stimmen im Parlament auch angenommen wurde, und mit nachfolgenden Gesetzen, insbesondere aber mit der Verfassungsänderung von 2004, wurden die Befugnisse des Präsidenten sukzessive eingeschränkt und Schritte hin zu einer anderen Machtbalance unternommen. Nach etwa zwei Jahren wurde das Reformpaket – wozu die Abschaffung der regionalen Administration und die Förderung der regionalen Selbstverwaltung gehörten – im Parlament gekippt. Von der Regierungspartei »Batkiwtschina«, der Partei von Julia Timoschenko. Jetzt aber will diese Partei zu dieser Verfassung zurück und ruft nach Fortsetzung der Reform.

Fühlen Sie sich also um die Früchte Ihrer Arbeit betrogen?

Nein, darum geht es nicht. Ich will nur auf die Verlogenheit dieser Leute hinweisen.

Das ist überall das gleiche. Bundeskanzler Konrad Adenauer soll einmal gesagt haben, als man ihn an frühere Aussagen erinnerte: »Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?« – Aber auch die im März gestürzte Macht hatte mit den Reformvorschlägen Ihrer Partei nichts am Hut.

Stimmt. Wir haben bereits im September 2013 Janukowitsch vorgeschlagen, den politischen Teil des Assoziierungsabkommens mit der EU zu unterzeichnen, um auf diese Weise voranzukommen bei der Demokratisierung, bei der Reform des Gerichtssystems, des Wahlrechts und bei der Korruptionsbekämpfung …

Das ist jetzt geschehen, das Abkommen unterzeichnet.

Ja, aber unter welchen Bedingungen?

Wohin wollen Sie, wohin Ihre Partei? Wo steht sie im politischen Spektrum des Landes?

Wir stehen als Sozialistische Partei für soziale Gerechtigkeit, für Demokratie und Menschenrechte, gegen Diktatur gleich welcher Art und für einen blockfreien Status der Ukraine. Wir sehen uns im Kontext der europäischen Linkszentristen. Genaueres läßt sich in unserem neuen Parteiprogramm nachlesen, das wir vor etwa einem halben Jahr angenommen haben.

Im Mai wird ein neuer Präsident gewählt. Die aktuellen Bewerber stehen nicht gerade für einen demokratischen Aufbruch. Timoschenko ist eine verurteilte Kriminelle, und mit ihrer jüngsten Drohung an die russische Adresse hat sie sich selbst bei ihren treuesten Fans in der deutschen Führung unmöglich gemacht. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hält sie für »ungeeignet«, selbst die Bundesregierung nannte ihre Äußerungen »undiskutabel«. Petro Poroschenko ist ein milliardenschwerer Oligarch. – Offensichtlich hat das ukrainische Volk keine Chance, eine akzeptable, mehrheitsfähige Persönlichkeit ins höchste Staatsamt zu wählen. Oder wie sehen Sie das?

Ich denke, daß die Beurteilung Timoschenkos durch den Bundestagspräsidenten sehr milde ist. Man muß sich nur einmal Timoschenkos Rhetorik anhören: »Ich werde sichern …, ich werde verteidigen …, ich werde lösen …« Ich, ich, ich … Sie redet wie eine Zarin. Solche Befugnisse, die sie sich in Erwartung des Amtes anmaßt, sieht die Verfassung nicht vor. Die Macht wird und muß geteilt werden, und die Gesetze gelten für alle. Erst dann kann man von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie reden.

Es gibt unter den Bewerbern durchaus Leute mit Erfahrungen im Busineß …

Im politischen oder im wirtschaftlichen?

Sowohl als auch. Und denen die nationalen und die globalen Probleme bewußt sind. Dazu zähle ich übrigens auch Poroschenko. Aber diese Personen haben ihre politischen Erfahrungen im autoritären System gesammelt, Poroschenko beispielsweise war Minister unter Juschtschenko/Timoschenko und Janukowitsch/Asarow. Ich meine, daß wir einen Präsidenten brauchen, der keinem verpflichtet ist, weder der Wirtschaft noch den etablierten politischen Kreisen.

Also ein Oligarch wie Poroschenko. Als milliardenschwerer Oligarch ist er unabhängig.

Meine Favoritin ist die Ärztin Olga Bogomolets. Sie ist jung, keine 50 Jahre alt, politisch unverbraucht und unabhängig im Urteil.

Ist das jene, die im Westen als die »Mutter Teresa vom Maidan« bezeichnet wurde?

Ja, sie leitet ein medizinisches Institut in Kiew, das ihr Großvater gegründet hat, sie studierte in den USA, ist überdies Liedermacherin und eine gute Sängerin. Gut, das qualifiziert sie nicht unbedingt für ein politisches Amt. Das tun viel eher ihre Souveränität und die Unabhängigkeit im Urteil, sie hält sich von politischen Gruppierungen fern, läßt sich nicht vereinnahmen, das ihr von Arseni Jazenjuk angetragene Ministeramt hat sie abgelehnt. Sie machte übrigens darauf aufmerksam, daß sowohl Männer auf dem Maidan als auch Milizionäre mit der gleichen Scharfschützenmunition ermordet wurden. Und der Verdacht lautet natürlich, daß dies dem »Rechten Sektor« und den politischen Strippenziehern zuzuschreiben war, die »Märtyrer« brauchten. Jetzt aber wird ausschließlich gegen »Berkut« und Janukowitsch ermittelt.

Wie stehen Sie persönlich zum Maidan?

Ich glaube, daß man sehr genau unterscheiden muß. Jene, die zuerst dorthin zogen, protestierten in erster Linie gegen die schlechten sozialen Verhältnisse. Diese Demonstration war begründet und berechtigt. Im Laufe der Zeit jedoch nahmen die Gegner der politischen Macht den Maidan unter ihre Kontrolle. Unsere Partei hat in dieser Anfangsphase Vermittlungsversuche unternommen, ich selbst habe ebenfalls Vorschläge zu einer raschen und friedlichen Lösung des Konflikts unterbreitet. Doch die militanten Protestierer wollten die Entwicklung eskalieren und rasch einen »point of no return« erreichen, bei der eine Rückkehr zum Ausgangspunkt unmöglich werden sollte. Das gelang. Und der Präsident hat versagt, weil er zuvor nichts tat. Die Toten auf dem Maidan sind Opfer eines Verbrechens, wer immer daran Schuld trägt. Ihr Tod war sinnlos. Die einzigen, die davon profitieren, sind die Dirigenten von außen.

Ist beim Putsch das Land unter die Räuber gefallen?

Das ist Quatsch. Die neue Macht widerspiegelt die alte Macht. Aber, und das stimmt mich – im Unterschied zu vielen anderen – durchaus optimistisch: Die alte-neue Macht kann nicht mehr so weitermachen wie bisher. Der öffentliche Druck seit dem Maidan ist ein anderer.

Ich mag da nicht so recht daran glauben. »Swoboda« und der nachweislich neonazistische »Rechte Sektor« haben heute mehr Einfluß auf die ukrainische Politik und die Gesellschaft als vorher. Ich sehe das Problem auch, würde es aber nicht dramatisch überbewerten.

In der deutschen Berichterstattung über die Demonstrationen in der Ukraine wurden die sozialen Ursachen der Proteste ausgeblendet, wie auch deren politische Instrumentalisierung durch den Westen und durch die inländische Reaktion kaum eine Rolle spielte. Es ging nur um Demokratie und Freiheit und andere Phrasen, von denen bekanntlich Menschen nicht satt werden. Wie schlecht ist die Lebenslage der meisten Ukrainer tatsächlich?

Sie ist sehr schlecht. Wir haben eine sehr hohe Arbeitslosigkeit. Die Oligarchen kontrollieren die Produktionen, sie zahlen wie zu Sowjetzeiten, produzieren also zu niedrigen Kosten. Die Lebenshaltungskosten allerdings sind dramatisch gestiegen. Und das, was produziert wird, veräußern sie auf dem Weltmarkt zu den dort üblichen Preisen, sofern es sich verkaufen läßt. Die so erzielten Profite sind gigantisch, insbesondere bei Rohstoffen. Die Industrie wird kaum modernisiert. Und die traditionelle Landwirtschaft ist so gut wie vernichtet. Man orientiert sich an den Bedürfnissen des Weltmarktes, produziert in Monokultur beispielsweise Getreide für Biokraftstoffe. Und das Ausland interessiert sich für die Ukraine nur als verlängerte Werkbank für profitable Produktionen und als Absatzmarkt seiner eigenen Waren.

Wir brauchen viel Zeit, um das Land zur Verbesserung des Lebens umzugestalten. Dafür brauchen wir Frieden, Demokratie und Erfolge bei der Korruptionsbekämpfung und der Herstellung regionaler Selbstverwaltung.

Warum hat das Parlament so kampflos kapituliert? Wie war das möglich, daß 70 Abgeordnete der Partei der Regionen, der Regierungspartei, überliefen und mit der »Opposition« stimmten? Wenn das Parlament im Oktober 2013 demokratisch gewählt worden ist – wovon alle Beobachter ausgingen –, dann entsprachen die Mehrheitsverhältnisse dem Volkswillen. Indem jedoch etliche Parlamentarier überliefen, veränderten sie illegal die demokratischen Mehrheitsverhältnisse. Deshalb kann man von einem Putsch sprechen. Sehen Sie das auch so?

Nicht ganz. Es gab keinen Putsch in der Ukraine. Das Parlament wurde 2012 auf der Basis eines Gesetzes gewählt, das eigentlich ein Komplott aller im Parlament vertretenen Parteien darstellte. Das Wahlergebnis entsprach den Vorstellungen der maßgebenden Kräfte. Und auch wenn dieses Parlament heute schwach ist, ist es doch völlig legitim und die oberste Gewalt im Staate. Zugegeben, einige Entscheidungen standen nicht mit der Verfassung im Einklang, aber die Verfassung sieht keine Option vor, was zu tun ist, wenn der Präsident plötzlich seine Sachen packt und verschwindet. Er wurde nicht weggeputscht, sondern floh mit seinem Gefolge.

Legitim? Was ist mit den 70 Überläufern von der Regierungspartei zur Opposition?

Unter den Bedingungen eines autoritär geführten, halbkriminellen Staates ist es nicht ungewöhnlich, wenn 70 Abgeordnete überlaufen. Ich behaupte, daß es unter den Überläufern auch ehrenwerte Persönlichkeiten gibt, die mit der eigenen Regierung und mit dem Präsidenten unzufrieden waren. Aber es gab natürlich auch welche, die sich mit dem Seitenwechsel einen Posten bei der neuen Macht erhofften.

Angesichts dieser Situation bin ich mehr denn je für eine Änderung des Wahlsystems. Wir brauchen offene Wahllisten und damit eine Chance, die Geschäftsleute im Parlament loszuwerden. Die Macht muß transparent und kontrollierbar werden, wovon wir weit entfernt sind.

Nun ist jedes nationale Parlament zunächst für das eigene Land verantwortlich. Allerdings hat jedes Parlament – da macht die Werchowna Rada keine Ausnahme – auch eine internationale Verantwortung. Nach Meinung unparteiischer Beobachter hat das Kiewer Parlament sowohl nach innen wie nach außen vollständig versagt. Es hat die Gesellschaft gespalten, sie polarisiert, den inneren Frieden gestört. Und in bezug auf den Nachbarn Rußland handelt es aggressiv, es schürt Haß. In Deutschland erfüllte das den Tatbestand der Volksverhetzung. Sehen Sie das auch so?

Das aktuelle Parlament mit veränderten Mehrheitsverhältnissen hat keine internationalen Verpflichtungen verletzt. Und von welchem »inneren Frieden« sprechen Sie? Das Parlament hat das Blutvergießen nicht provoziert oder gar gebilligt. Um mich nicht mißzuverstehen: Ich bin ein scharfer Kritiker des Parlaments dieser Legislaturperiode, ich mißbillige seine Arbeit. Es gibt saudumme Aussagen von Abgeordneten, umstrittene Entscheidungen im Dutzend und manches Chaotische. Rußland ist kein Wolf und die Ukraine kein Lamm. Dennoch halte ich manchen Schritt und manche Äußerung Putins für falsch, was ich ihn auch in einem offenen Brief wissen ließ.

Wie groß ist die Gefahr, daß in der Ukraine eine profaschistische Diktatur entsteht?

Ich schließe eine profaschistische Diktatur in der Ukraine kategorisch aus. Dafür gibt es keinen sozialen Nährboden. Die Gefahr einer Radikalisierung sehe ich nur im Falle einer russischen Aggression.

Aber natürlich registriere ich mit Unmut, daß es rechte Provokateure gibt und, mit Verlaub, nationalistische Idioten, die dadurch Einfluß gewannen, weil sie von der Macht nicht entschieden bekämpft worden sind. Man sah ungerührt zu, wie sie mit Fackelumzügen und Appellen die Bandera-Leute und andere Nazikollaborateure ehrten. Jetzt ernten wir den Sturm, den andere gesät haben.

Wie will man die vielen Waffen, die bei der Erstürmung der Polizeistationen gestohlen wurden, wieder einsammeln? Es sollen bereits bewaffnete Banden das Land durchstreifen?

Es gibt inzwischen entsprechende Gesetze und Anordnungen für Innenministerium, Geheimdienst und Generalstaatsanwaltschaft, am 1. April wurde die Entwaffnung vom Parlament beschlossen. Das Problem ist in der Tat brisant, ich hoffe, es kann gelöst werden.

Welche Perspektiven sehen Sie für die Ukraine? Wird es bei einem einheitlichen Staat bleiben? Gibt es eine Föderation oder gar eine Spaltung?

Die Perspektive hängt grundsätzlich vom künftigen Machtsystem ab, von der personellen und politischen Zusammensetzung. Ich persönlich bin davon überzeugt, daß die Ukraine ein einheitlicher Staat bleibt. Die Idee der Föderalisierung ist eine im Ausland geborene Idee. Hier denkt niemand ernsthaft darüber nach. Ich halte das für eine gefährliche und wenig hilfreiche Initiative. Es gibt meines Wissens in der Geschichte auch kein Beispiel einer Föderalisierung eines unitären Staates. Wir sollten besser über die Selbständigkeit der Regionen sprechen.

Sie haben selbst eine Parteihochschule besucht. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe, daß von 75 Jahren marxistisch-leninistischer Bildung so wenig im öffentlichen Bewußtsein haften geblieben ist?

Ich absolvierte übrigens die Parteihochschule mit Auszeichnung. Ich glaube, unser Problem bestand im Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Aber das ist ein weites Feld, was den Rahmen unseres Gesprächs gewiß sprengt.

Wenn sich die Zeit bis 1985 zurückdrehen ließe: Was würden Sie anders machen?

Die Frage heißt besser: Was mußten wir ändern? Das hing aber nicht von mir allein, von einem einzelnen, ab. Aber die Antwort auf die Frage ist heute nichts wert. Wir leben in der Gegenwart, und diese muß verändert werden.

Interview: Frank Schumann

* Aus: junge Welt, Samstag, 5. April 2014


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