Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Der Mob in Odessa

Der Dokumentarfilm "Lauffeuer" begibt sich auf Spurensuche nach dem Pogrom in der Schwarzmeerstadt

Von Roland Zschächner *

Leftvision kann nicht nur Demofilmschnipsel. Am Mittwoch präsentierte das Videokollektiv im Berliner Kino Moviemento erstmals »Lauffeuer«. Der Film von Ulrich Heyden und Marco Benson ist ein bedrückendes Zeugnis über das Pogrom von Odessa am 2. Mai 2014 und der erste deutschsprachige Dokumentarfilm darüber. Damals wurden im und um das Gewerkschaftshaus mindestens 46 Menschen von Faschisten ermordet. Angehörige sprechen von mehr als hundert Opfern; sie starben im Feuer, wurden zu Tode geprügelt, erschossen oder »verschwanden«.

Die Überlebenden und die Hinterbliebenen demonstrieren regelmäßig vor dem Gewerkschaftshaus. Sie verlangen eine unabhängige Untersuchung der Geschehnisse und dass die Täter und ihre Hintermänner zur Rechenschaft gezogen werden. »Lauffeuer« nimmt diese Forderungen auf und fragt nach den Organisatoren des Massakers.

Der Film, der nur durch Spenden ermöglicht wurde, zeichnet anhand von Internetvideos, Zeichnungen und Interviews mit Augenzeugen minutiös die Ereignisse am 2. Mai nach: Rechte Hooligans und Anhänger des »Rechten Sektors« kamen damals in die Stadt. Sie suchten die Auseinandersetzung mit Aktivisten des Antimaidan, jenes Bündnisses, das unter anderem in Odessa gegen den rechten Putsch in Kiew protestierte.

Die Polizei wurde vom späteren Tatort abgezogen und ließ den Faschisten freie Hand. Die nutzten die Gelegenheit und zogen vor das Gewerkschaftshaus, wo ein Protestlager des Antimaidan errichtet war – das Massaker begann.

16 Augenzeugen kommen in »Lauffeuer« zu Wort. Sie berichten, wie sie in das Gewerkschaftshaus flohen, sich dort vor dem Mob verschanzten, der ihnen nach dem Leben trachtete. Manche der Interviewten wollen aus Angst vor Polizei und Faschisten ihr Gesicht nicht zeigen. Viele junge Aktivisten sind nach dem 2. Mai untergetaucht, weswegen vor allem ältere vor der Kamera sprechen. Bis auf die Gedenkkundgebungen gibt es heute keinen regierungskritischen Protest mehr in Odessa – ein Ergebnis des Massakers.

Der Film sei zu »opferlastig«, wurde den Filmemachern am Mittwoch in Berlin von Zuschauern vorgehalten. Doch die vermeintliche Kritik lief ins Leere. Benson betonte, dass er sich an der Seite der Opfer sehe. Und Heyden erwiderte auf den Einwand, dass er die Rolle Russlands in der Ukraine nicht hinterfragen würde, dass er sich nicht von Putin distanzieren müsse, wenn er einen Film über Odessa macht.

Neben den Augenzeugen kommen auch zwei Journalisten, Kai Ehlers und Peter Schaber, sowie der Kiewer Soziologe Wolodimir Ischtschenko zu Wort. Während Schaber vom Lower Class Magazine einen interessanten Einblick in die faschistische Bewegung in der Ukraine gibt, bleiben Ehlers und Ischtschenko wortreich oberflächlich.

Ein Verdienst des Films ist, die Frage aufzuwerfen, wem die Ereignisse nutzten. Die Spuren führen zu den neuen Machthabern. So begrüßte Präsident Petro Poroschenko das Massaker: Nun sei endlich Ruhe in Odessa. Auch der Oligarch und Gouverneur von Dnipropetrowsk, Igor Kolomojskij, profitierte. Ihm gelang es, seinen Herrschaftsbereich bis in die Schwarzmeerstadt auszudehnen. Auch die Rolle von Andrij Parubij, dem damaligen Sekretär des nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats, wird hinterfragt. Er besuchte nur wenige Tage vor dem Pogrom Odessa, wo er sich auch mit dem lokalen Statthalter des Euromaidan, Nikolai »Mykola« Wolkow, traf. Dieser ist in Videos vom 2. Mai zu sehen, wie er mit seiner Pistole auf das Gewerkschaftshaus schießt.

Das Massaker von Odessa war ein Wendepunkt im Ukraine-Konflikt, ohne den der weitere Verlauf bis hin zum Krieg im Donbass nicht zu verstehen ist. In manchen Momenten geht im Film zwar der Erzählstrang verloren, was den hohen Ambitionen – möglichst objektiv und umfassend – geschuldet ist. Die Stärke von »Lauffeuer« ist indes, die richtigen Fragen zu stellen und Augenzeugen zu Wort kommen zu lassen. Viele Zuschauer sind ihm zu wünschen; gern auch bei Diskussions- und Informationsveranstaltungen, wie die Filmmacher betonten.

"Lauffeuer« von Ulrich Heyden und Marco Benson, 2015, 45 Minuten.

* Aus: junge Welt, Freitag, 20. Februar 2015 In zirka zwei Wochen wird der Film kostenlos im Internet verfügbar sein: www.leftvision.de


Zurück zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage