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Alle Augen richten sich auf den Minsker Gipfel

Zweite Begegnung der Präsidenten Putin und Poroschenko unter EU-Beobachtung / In Moskau warnt man vor überzogenen Erwartungen

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Viele Köche verderben bekanntlich den Brei. Vor allem, wenn es um internationales Krisenmanagement geht. In der belarussischen Hauptstadt Minsk indes könnte sich heute das Gegenteil bewahrheiten.

Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko, im Westen oft als »letzter Diktator Europas« bezeichnet, würde gerne die Rolle des Vermittlers im Ukraine-Konflikt übernehmen. Als Gastgeber eines mit Spannung erwarteten russisch-ukrainischen Spitzentreffens ist er der Erfüllung dieses Wunsches ziemlich nahe.

Eigentlich findet in Minsk am Dienstag »nur« ein Gipfeltreffen der Eurasischen Zollunion statt, der Russland, Belarus und Kasachstan angehören. Die Zollunion ist die Vorstufe der Eurasischen Wirtschaftsunion, mit der Moskau die wirtschaftliche Reintegration ehemaliger Sowjetrepubliken vorantreiben will. Die Ukraine hat Beobachterstatus bei der Union, was die Gelegenheit bot, deren Präsidenten Petro Poroschenko in die Minsker Runde zu laden. Und zu dessen Unterstützung – und Kontrolle – sind gleich drei EU-Kommissare anwesend: die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton, Energiekommissar Günther Oettinger und Handelskommissar Karel de Gucht. Gemeinsam will man nach Lösungen für die vielen Probleme suchen, die mit dem Ukraine-Konflikt verbunden sind.

Diesen Krisengipfel kann Moskau noch vor Verhandlungsbeginn als weiteren Erfolg russischer Außenpolitik abheften. Präsident Wladimir Putin und sein Außenminister Sergej Lawrow hatten für ein ähnliches Format schon im Herbst 2013 und damit lange vor Beginn der Ukraine-Krise geworben. Moskau, Kiew und Brüssel, so lautete damals die Begründung, müssten gemeinsam nach Auswegen aus dem Konflikt suchen, der für den Fall einer EU-Assoziierung der Ukraine drohte. Um ihre Wirtschaften vor europäischen Billigprodukten zu schützen, die gegebenenfalls den ukrainischen Markt überschwemmen, seien Russland und die anderen Staaten der Zollunion gezwungen, der Ukraine das Freihandelsabkommen zu kündigen, auf das sich die UdSSR-Spaltprodukte gleich nach dem Ende der Sowjetunion 1991 geeinigt hatten.

Brüssel lehnte damals ab: Das Assoziierungsabkommen sei eine Angelegenheit, die die EU und die Ukraine unter sich ausmachen müssten. Doch der damalige ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch ließ nach Moskaus Warnungen Kosten und Nutzen des Assoziierungsabkommens, das Ende November 2013 beim Gipfel der östlichen Partnerschaft im litauischen Vilnius unterzeichnet werden sollte, nochmals durchrechnen und verweigerte im letzten Moment die Unterschrift. Kurz danach begannen die Massenproteste auf dem Kiewer Platz der Unabhängigkeit.

Westliche Beobachter verharmlosten sie zu Differenzen zwischen proeuropäischen und prorussischen Kräften, verdrängten dabei jedoch, dass sich dort ein uralter Konflikt entlud: der Konflikt von Regionen mit unterschiedlicher Historie, Sprache, Kultur und Religion. In der überwiegend russischsprachigen Südostukraine verschärfte er sich inzwischen zum Bürgerkrieg. Vor solchen Entwicklungen hatten russische Kenner der Materie, darunter auch regimekritische, von Anfang an gewarnt. Jetzt warnen sie und nahezu alle großen russischen Zeitungen vor überzogenen Erwartungen an den Gipfel in Minsk. Solange die zweite Seite des Konflikts – die aufständischen Separatisten – nicht an den Verhandlungen beteiligt werden, könne man nicht mit Fortschritten rechnen. Die Aufständischen jedoch haben sich am Sonntag durch die Vorführung gefangener ukrainischer Soldaten und Nationalgardisten in Donezk als Verhandlungspartner nicht beliebter gemacht.

Vor allem aber: Die Fronten sind inzwischen so verhärtet, dass ein ehrenvoller Rückzug für alle Akteure in dem Konflikt der Quadratur des Kreises gleichkommt. Zumal Kompromisse ihnen zu Hause als Schwäche ausgelegt werden könnten. Einerseits.

Andererseits war der Weltfrieden seit Ende des Zweiten Weltkriegs selten so bedroht wie derzeit. Durchaus wohlwollend registrierten Präsidial- und Außenamt in Moskau daher, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel am vergangenen Sonnabend in Kiew moderate Töne anschlug, obwohl Deutschland die Ukraine-Krise durch eine aktive Unterstützung der Opposition in vieler Hinsicht stimuliert habe, wie es hier heißt. Die Bundesrepublik sei eben an guten Beziehungen mit Russland interessiert. In der Welt gebe es noch viele andere Konflikte, bei denen Deutschland und Russland zusammenarbeiten sollten, um weiterzukommen.

»Europa hat Angst vor der Perspektive einer nächsten Gaskrise und vor übermäßigen Ausgaben für die Rettung der Reste der ukrainischen Wirtschaft«, meinte Fjodor Lukjanow, Chef des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik Russlands, in einem Interview für den Radiosender »Kommersant FM«. Handelsfragen und der Streit um die ukrainischen Gasschulden bei Russland werden deshalb auch eine wichtige Rolle bei den Gesprächen in Minsk spielen. »Alle streben zwar einen Waffenstillstand (in der Ostukraine – d. Red.) an. Solange in anderen Bereichen wie der Gas- oder der Krim-Frage keine Einigungen erzielt werden, ist dies jedoch kaum möglich«, glaubt Lukjanow, der überdies feststellte: »Die Lage an der Front ist ein wesentlicher Faktor, der sich auf die Verhandlungspositionen auswirkt. Die Seiten werden den Krieg erst dann stoppen wollen, wenn sich zumindest das Schema eines politischen Deals abzeichnet.«

Ob es in Minsk tatsächlich zu einem separaten Treffen zwischen Putin und Poroschenko kommt, ließen beide Seiten lange Zeit offen, obwohl sie emsige Vorbereitungen darauf nicht verheimlichten. Beide Präsidenten waren das erste und einzige Mal Anfang Juni während der Feierlichkeiten anlässlich des 70. Jahrestages der Landung der Alliierten in der Normandie aufeinandergetroffen. Die Unterredung, bei der Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident François Hollande anwesend waren, dauerte seinerzeit ganze 15 Minuten.

Am Montag erklärte der russische Außenminister Sergej Lawrow vor der Presse in Moskau, Putin sei »im Prinzip« zu jedem Format der Diskussion über die Lage in der Ukraine bereit – sowohl zu direkten bilateralen Kontakten als auch zum »Normandie-Format« oder zu Verhandlungen im Rahmen der Genfer Vier (Russland, Ukraine, USA, EU) – »Hauptsache, es gibt ein Resultat«.

* Aus: neues deutschland, Dienstag 26. August 2014


Ohnmächtige Beobachter

Die Berichte der OSZE-Missionen in der Ukraine vermitteln ein anderes Bild von dem Konflikt als die Medien

Von Hannes Hofbauer, Wien **


Was macht eigentlich die Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in der Ukraine? Unser Korrespondent fragte in der Wiener OSZE-Zentrale nach.

Seit Ende Mai 2013 zwei Beobachtergruppen der OSZE im Osten der Ukraine festgesetzt wurden, ist es still geworden um die Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Selbst als die separatistischen Selbstverteidigungskräfte die Teams einen Monat später freiließen, ging das in der medialen Berichterstattung fast unter. Die OSZE blieb indes an Ort und Stelle und beobachtet die Situation.

Laut Auskunft der OSZE-Pressestelle in Wien besteht zurzeit regelmäßiger Kontakt zu allen 248 Mitarbeitern der »Special Monitor Mission«, die sich in der Ukraine aufhält. Neben ihrem Hauptsitz in Kiew unterhält die OSZE Missionen in zehn ukrainischen Städten von Tscherniwzi und Lwiw im Westen bis nach Donezk und Lugansk im Osten. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt in den umkämpften Gebieten des Donezbeckens.

Täglich veröffentlichte Berichte der OSZE zeichnen ein etwas anderes Bild der Lage, als es die Medien vermitteln, die sich auf die Kämpfe konzentrieren und nebenher kräftig antirussische Ressentiments befeuern. Aber auch die ohnmächtige Stellung der internationalen Organisation wird beim Lesen der Pressemeldungen deutlich. Dokumentiert werden alle Arten von Zwischenfällen, die den Beobachtern zugetragen werden. Am 19. August 2014 berichtete die OSZE beispielsweise von einer Attacke auf ein ukrainisches Parlamentsmitglied, die sich drei Tage zuvor in der Kleinstadt Zmijiv, 40 Kilometer südlich von Charkow, zugetragen hatte. Dort beging die vormalige Regierungspartei, die Partei der Regionen, eine Gedenkveranstaltung zur Befreiung des Ortes von der deutschen Besatzung vor 70 Jahren. Ukrainisch-nationalistische Maidan-Aktivisten aus Charkow protestierten lautstark dagegen, beflaggten die Umgebung mit ukrainischem Blau-Gelb und bewarfen den Abgeordneten mit einer Säure.

Die örtliche Polizei sah die Proteste gegen die Befreiung von nazideutscher Okkupation friedlich verlaufen, der attackierte Mandatsträger warf den Sicherheitskräften dagegen vor, untätig geblieben zu sein. Im selben OSZE-Report vom 19. August wurde anschließend noch von zwei Kundgebungen in Charkow berichtet: Bei einer von ihnen wurde unter Fahnen der rechtsradikalen Swoboda-Partei Geld für freiwillige Kämpfer im Donbass gesammelt. Gleichzeitig versammelten sich großteils ältere Frauen unter dem Lenin-Denkmal, um für Föderalismus zu demonstrieren.

Neben der Dokumentation politischer und militärischer Zusammenstöße widmet sich die OSZE im Osten der Ukraine hauptsächlich der Beobachtung von Flüchtlingsströmen. So registrierte ein internationales Team am Grenzübergang zur nun russischen Krim am 18. August innerhalb von 24 Stunden 55 voll besetzte Busse, die aus dem Donbass Fliehende in Sicherheit brachten. Tags zuvor war ein anderes OSZE-Team an der ukrainisch-russischen Grenze bei Nowoasowsk südlich von Donezk auf eine kilometerlange Autokolonne gestoßen, deren Insassen darauf warteten, nach Russland fliehen zu können.

In russischen Medien wurde wiederholt der Leiter der OSZE-Mission an der russisch-ukrainischen Grenze, Paul Picard, zitiert. Nicht nur, dass er die Rückkehr des jüngsten russischen Hilfskonvois aus der umkämpften Stadt Lugansk »ohne Zwischenfälle« bestätigte. Picard wusste bisher auch nicht von russischen Militärkolonnen zu berichten, die – wie Kiew behauptet – die Grenze überquert haben sollen.

Eine Aufrüstung der OSZE-Mission mit unbewaffneten Drohnen zur Überwachung der ukrainischen Außengrenze könnte demnächst bevorstehen. Die österreichische Firma Schiebel bereitet sich schon auf die Lieferung entsprechender Geräte vor.

* Aus: neues deutschland, Dienstag 26. August 2014


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