Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"In Kiew ist der reinste Karneval der Reaktion"

Gespräch mit Alan Freeman. Über Medienpropaganda im Ukraine-Konflikt, die Rolle des "Euromaidan", innerimperialistische Konkurrenz und faschistische Hilfstruppen des Neoliberalismus


Alan Freeman war lange Jahre als Ökonom an der Greater London Authority tätig, der Verwaltungsbehörde, die für die zentralen Bezirke der britischen Hauptstadt zuständig ist. Er publiziert regelmäßig Beiträge zu wirtschaftsbezogenen und politischen Themen (u.a. in der Zeitschrift Critique of Political Economy) und ist Gastprofessor an der London Metropolitan University. 2002 veröffentlichte er (zusammen mit Boris Kagarlitsky) das Buch »The Political Economy of Empire and the Crisis of Globalisation«. Er lebt in Winnipeg, Kanada.


Wie beurteilen Sie die Berichterstattung über den Ukraine-Konflikt in den englischsprachigen Medien?

Ich stamme aus Britannien und lebe seit drei Jahren in Kanada. Da ich viel in der Welt herumkomme, bin ich mit einem breiten Spektrum von Diskursen vertraut. Mein Eindruck ist, daß die Medien in gewissem Sinn ihre Funktion als Instanzen der Wahrheitssuche verloren haben. Das hat mit der Umstrukturierung der Medienlandschaft durch neue Technologien zu tun, dem Konkurrenzdruck auf dem Markt, aber auch mit einer neuen globalen Realität.

Im Grunde wiederholen mehr und mehr Journalisten einfach, was sie von ihrem jeweiligen Außenministerium an Informationen aufgetischt bekommen und was ihnen als verläßliche Quelle erscheint – es sind also Leute, die einfach staatstragende Botschaften recyceln. Das gibt es auf beiden Seiten, auch auf der russischen. Nun heißt es im Westen: Furchtbar, wie die Russen ihre Medien kontrollieren – ohne zu sehen, daß ihre im Grunde genauso funktionieren.

Es gibt da im Englischen so eine Redensart: Eine Lüge kann dreimal um die Welt reisen, bevor die Wahrheit sich auch nur die Schuhe zugeschnürt hat. In diesem Fall ist die Botschaft, die die Welt dreimal umkreist hat, die, daß die Russen an allem schuld sind. Rußland erscheint als ein monolithischer politischer Block, der nahezu vollständig identisch ist mit Putin. Der, eine Art Diktator, kontrolliere, manipuliere und orchestriere alles mit Hilfe seines nahezu perfekt funktionierenden Apparats. Was immer in der Ukraine vor sich geht, ist so gesehen ein Produkt von Putins Machenschaften. Wann immer jemand ein Recht verteidigt, wie das auf freie Verwendung des Russischen, die Erhaltung der russischen Kultur, oder einfach das Recht auf Autonomie oder das Organisationsrecht fordert, wird das sofort mit dem Etikett versehen: »Von Putin inspirierte Initiative«, von seinen »Wasserträgern« ins Werk gesetzt. Sklavisch und gebetsmühlenartig wird dieser Refrain in den Medien wiederholt. Und zwar einseitig in einer Weise, wie es selbst beim Thema Nahost nie der Fall gewesen ist.

Aber auch da gibt es doch in den großen englischsprachigen Medien die Tendenz zu wiederholen, was vom US-Außenministerium vorgegeben wird …

Ja, aber immerin waren da immer auch sehr ernsthafte investigative Journalisten wie John Pilger oder Robert Fisk, die, erfahren und skeptisch, sich mutig auf die Recherche vor Ort begeben und die offizielle Sicht der Dinge hinterfragt haben. In den britischen Medien finden Sie heute niemanden, der sich in der Ukraine einer ähnlichen Gefahr aussetzte, direkt in die Kriegsgebiete fährt, nachforscht und Fragen stellt zu dem, was sich vor Ort tatsächlich ereignet. Der Journalismus, wie wir ihn kannten, ist entweder tot oder tut nicht mehr das, was er sollte: informieren.

Angesichts der auch geopolitischen Relevanz des Ukraine-Konflikts fällt auf, daß der reine Umfang der Berichterstattung gegenüber den Ereignissen im Nahen und Mittleren Osten in der britischen Presse vergleichsweise gering ausfällt …

Das hängt damit zusammen, daß britische Interessen nicht direkt berührt sind. In der US- und der kanadischen Presse findet da deutlich mehr statt, nicht zuletzt, weil amerikanische Interessen hier unmittelbar betroffen sind. Die Berichterstattung ist entsprechend umfangreich – vor allem, weil der Konflikt als Chance für die USA wahrgenommen wird, neuen Einfluß in dieser Region zu gewinnen. Und wegen ihrer Ölvorkommen ist sie natürlich von enormer strategischer Bedeutung.

Abgesehen vom Run aufs Öl und andere wichtige Rohstoffe: Welche internen und externen Faktoren sind ursächlich für die derzeitigen Zuspitzungen in der Ukraine?

Die strategischen Ölinteressen stehen natürlich im Zentrum. Aber angetrieben wird das Ganze von der Politik. Was sich darum gruppiert, sind militärische geopolitische Motive. Fast seit Anbeginn ihrer Existenz waren die Vereinigten Staaten bestrebt, sicherzustellen, daß ihnen kein Gegner auf dem europäischen Kontinent erwächst. Lange Zeit bestanden die Anstrengungen darin, Britannien als Seemacht auszuschalten. Dann aber entschieden die US-Eliten, daß Deutschlands Ambitionen auf dem Kontinent und seine industrielle Stärke das Land zum Hauptfeind machten. Nach einigen Debatten schlugen sich die USA im Ersten Weltkrieg auf die Seite der Briten, was sie dann auch im Zweiten taten. Aufgrund seiner ökonomischen Macht ist China derzeit ihr Hauptfeind, nicht Rußland. Daß Washington Rußland jetzt dennoch ins Visier nimmt, hat einfache Gründe: Es hat eine auf Europa ausgerichtete Wirtschaft, es verbindet zwei Meere, seine Nähe zu Gebieten, die Amerika zu seiner Einflußsphäre zählt, macht es zu dessen Rivalen. Folgerichtig war es von einem frühen Zeitpunkt an konstantes Ziel amerikanischer Politik, Rußland in Schach zu halten, es im Idealfall zu zerteilen. Die Aufspaltung der Ukraine, die eng mit Rußland verbunden, Teil seiner Geschichte und seiner Wirtschaft ist, wurde von US-Politikern offenbar als Chance gesehen, die zu gut war, um sie zu verpassen.

Was sich bei diesem Konflikt jedoch herausstellt, sind offensichtliche Rivalitäten nicht nur zwischen Washington und Moskau, sondern auch Spannungen zwischen EU-Europa und den USA. Betrachtet man die Interessen des deutschen Kapitals, so fallen die umfangreichen Investitionen auf, die es nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Rußland getätigt hat und die nun in gewisser Weise auf dem Spiel stehen.

Deutschland hat sicher nie eine Gelegenheit übersehen, territorialen Einfluß zu gewinnen. Das gilt auch im Falle Jugoslawiens – hier war nur das Problem, daß es Deutschland an militiärischem Durchsetzungsvermögen gebrach. Bei der Ukraine sahen zentrale Figuren in Brüssel jetzt die Chance, ein Abkommen zu Bedingungen abzuschließen, die für das EU-Kapital ganz außerordentlich vorteilhaft gewesen wären und die das Land komplett seinem Einflußbereich zugeschlagen hätten. Der Fehler bestand allerdings in dem Glauben, Wiktor Janukowitsch umstandslos eine Unterschrift zu diesem Assoziierungsabkommen abnötigen zu können, welches die ukrainische Wirtschaft praktisch stranguliert hätte. Jedenfalls waren sie nicht clever genug, Janukowitsch auszutricksen. Der vorgeschlagene Deal war so offensichtlich zum Nachteil der ukrainischen Wirtschaft, daß er selbst seitens der Oligarchen Widerspruch ausgelöst hat – von den protestierenden Massen im Land ganz zu schweigen. Eine Reihe prominenter ukrainischer Oligarchen wandte ein, daß die Kosten des Abkommens sich wegen dessen ungünstiger Konditionen für die Ukraine auf 40 Milliarden US-Dollar beliefen. Selbst da verhandelte Janukowitsch noch weiter und bekundete die Absicht, das absehbare Defizit, auf das ihn auch seine eigenen Berater aufmerksam machten, auf anderen Wegen auszugleichen, nämlich durch Gelder des Weltwährungsfonds. Als auch dieser Ausweg versperrt war, stoppte er schließlich die Verhandlungen.

In der Presse lesen wir über diesen Vorgang nun folgendes: Putin hat Janukowitsch unter Druck gesetzt, einen bereits geschlossenen Vertrag zu brechen, was wiederum zur Protestbewegung auf dem Maidan führte. Tatsächlich befand sich Janukowitsch schlichtweg in einer unhaltbaren Position: Das Abkommen war für die Ukraine ökonomisch untragbar, aus Sicht Brüssels aber alternativlos. Das ist übrigens auch der Grund für das grausame Austeritätsprogramm, das die gegenwärtigen Machthaber in Kiew durchgesetzt haben – es ist die einzig mögliche Grundlage, auf der das Land der EU beitreten kann.

Am 21. Februar handelte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier einen Kompromißvorschlag für eine Interimsregierung in Kiew aus, an der neben Janukowitschs Partei der Regionen auch Vertreter der Opposition wie die Vaterlandspartei Timoschenkos und Swoboda-Faschisten beteiligt sein sollten. Die Vereinbarung wurde bereits tags darauf gebrochen, der Putsch nahm seinen Lauf – mit den Ergebnissen, die wir kennen. Am Umsturz im Hintergrund beteiligt war Washington, das fünf Milliarden Dollar für diesen Zweck investiert hatte, wie die US-Diplomatin Victoria Nuland – »Fuck the EU« – offen bekannte. Im Interesse des deutschen Kapitals konnte das kaum gewesen sein.

In der Tat, aber um diesen Konflikt in seiner Komplexitiät zu verstehen, muß man sich die zeitliche Abfolge genau ansehen. Zu Beginn der Ereignisse hat sicher niemand in der EU oder den USA absehen können, daß das Ganze in eine politische Krise solchen Ausmaßes münden würde. Angesichts ihres langfristigen Niedergangs verlieren alle industrialisierten kapitalistischen Staaten, insbesondere die Vereinigten Staaten, die Kontrolle über das, was letztlich geschieht: Sie setzen unkontrollierbare Prozesse in Gang. Man muß nicht notwendigerweise davon ausgehen, daß es einen sorgsam ausgearbeiteten Plan gab, der dann Schritt für Schritt umgesetzt wurde. Natürlich existieren strategische Überlegungen, wird gleichsam zwei, drei Züge auf dem Schachbrett vorausgedacht. Nach Janukowitschs unvorhergesehenem Ausstieg aus den Verhandlungen wurde sehr schnell eine Kette ganz unterschiedlicher Prozesse ausgelöst, die dann im »Euromaidan« kulminierten – auch vor dem Hintergrund weit verbreiteten Unmuts angesichts der desaströsen ökonomischen Situation in der Ukraine. Falls sie es nicht ohnehin selbst inszeniert haben – Erfahrungen in »bunten Revolutionen« sind ja reichlich vorhanden –, wurde das von den USA sehr schnell als gigantische Chance für eine verdeckte Operation mit dem Ziel des Regimewechsels erkannt …

… der im Zweifelsfall militärisch nachgeholfen werden sollte.

Ja, aber natürlich zunächst nicht mit regulären Streitkräften, die nur schwer von außen zu kontrollieren sind. Und mit US-Soldaten schon gar nicht, das wäre nicht durchsetzbar gewesen. Da boten sich gewisse Bewegungen im Land selbst für einen Regime change an. Und eine entsprechende Gelegenheit wurde ihnen ja gleichsam auf dem Silbertablett präsentiert, gerade angesichts der zeitweisen Lähmung der Europäer, die überhaupt nicht verstanden, was sich da im Frühjahr in ihrem Hinterhof ereignete. Von diesem Moment an waren die Dinge vermutlich unter amerikanischer Kontrolle. Berlin war offensichtlich überwältigt von dem Tempo, in dem sich die Dinge entwickelten. Im Nachgang dürfte dem deutschen Kapital klargeworden sein, daß es in der Ukraine nach Jugoslawien seine zweite große politische Niederlage gegen die USA erlitten hat. Und jetzt haben sie den Salat: Einen Bürgerkrieg in Europa, das angeblich für Demokratie, Menschenrechte, Fortschritt usw. steht. Buchstäblich alle Argumente, die für die Schaffung der EU herhalten mußten, die Verhinderung eines Krieges eingeschlossen, wurden hier mit einem Schlag ad absurdum geführt, und zwar gründlich. Das hat man in dieser Dimension sicher nicht kommen sehen.

Wie beurteilen Sie die faschistischen Kräfte, die in der Ukraine am Werk sind? Sind sie ein neues Phänomen unter den geopolitischen Bedingungen, wie Sie sie beschrieben haben?

Nein, faschistische Bewegungen sind endemisch im Kapitalismus, das ist klar. Natürlich ist das Kapital in jedem Land, wie »demokratisch« es auch sein mag, immer in Sorge, daß sich große Menschenmassen mit einer Regierung verbünden und seine Aussichten, Profite einzufahren, einschränken. Der Faschismus als Möglichkeit ist daher immer vorhanden. Die Frage ist nur, wann diese Option gewählt wird. Seine Herausbildung in der Ukraine war ein komplexer Vorgang. Niemand kann genau sagen, woher Swoboda kommt. Fakt ist, daß viele Akteure an der Stärkung dieser Partei beteiligt waren, vom Oligarchen Igor Kolomoiski bis zu Julia Timoschenko und möglicherweise sogar Janukowitsch selbst. Kolomoiski ist zwar Jude, hat Sowoboda aber finanziell unterstützt – unter der Bedingung, daß sie ihren Antisemitismus aufgeben und gegen Rußland mobilisieren. Als Ventil für die antijüdischen Affekte in der Bevölkerung wurde der Rechte Sektor gefördert. Und mit ihm verfügte man auf einmal über eine bewaffnete Miliz. Die kam dann auf dem Maidan zum Einsatz und sorgte für den Erfolg des Umsturzes, als sie Pistolen und Scharfschützengewehre auf unbewaffnete Polizisten und andere richtete, ein typisch faschistisches Vorgehen. Diesen bewaffneten Lumpen mußte nach dem Umsturz eine Aufgabe gegeben werden, und so wurden sie zur Bekämpfung der »russischen Gefahr« eingesetzt. Die Propaganda des Regimes erklärte die russischsprachigen Ukrainer kurzerhand zum »inneren Feind«, zu Invasoren, und machte sie vogelfrei. Die Faschisten erhielten die Lizenz zum Töten.

Der Westen, Sie sprachen davon, plant, ein neoliberales Regime in der Ukraine zu etablieren, wie er es seit dem Staatsstreich Chile 1973 schon mehrfach unternommen hat. Es wird eine brutale Kürzungspolitik auf Kosten der Bevölkerung durchgesetzt …

Nun, die Amerikaner sind schlichtweg davon überzeugt, daß der Neoliberalismus gut ist. Alles wird privatisiert und dann aufgekauft, ganz klassisch, wie es gerade in der Ukraine geschieht. Der einzige Weg zu ökonomischem Wachstum, so die Ideologie, besteht darin, dem Privatkapital maximale Profitchancen zu eröffnen. Das gesamte Konzept der EU basiert ebenfalls auf dieser Vorstellung. Die Schaffung solcher Zustände setzt natürlich eine ökonomische Schocktherapie voraus, die die Masse der Bevölkerung hart trifft und die Wirtschaft eines Landes rasch zerstört. Polen brauchte 15 Jahre, um sich von der neoliberalen Zwangskur zu erholen, und im Unterschied zur Ukraine war das Land nie Teil der Sowjetunion, sondern hatte eine autonome Wirtschaft. Letzlich geht es darum, der Arbeiterklasse in der Ukraine eine ultimative Niederlage beizubringen.

In entscheidenden Momenten steht die Politik im Vordergrund. Als etwa Helmut Kohl den Anschluß der DDR ins Werk setzte, wurde er vielfach für den Wechselkurs kritisiert, den er damals etablierte, um den Widerstand im Osten zumindest zeitweise zu minimieren. Frei nach dem Motto: Die Kosten spielen keine Rolle, wir ziehen das durch. Ähnliches geschieht derzeit in der Ukraine: Es geht vor allem darum, schnell zu handeln und die entscheidenden Monate zu nutzen, um das Land auf die Seite der EU und der NATO zu ziehen. Alles andere wird hinterher geregelt. Aber die Folgen des westlichen Eingreifens waren dann wohl doch deutlich dramatischer, als man es sich vorgestellt hatte.

Worin bestehen die Unterschiede gegenüber der Art von Austeritätspolitik, wie sie etwa Griechenland oktroyiert wurde?

Wir erleben sowohl in EU-Europa als auch in den USA eine neue Phase der Krise. In den sogenannten PIGS-Staaten, in Portugal, Italien, Griechenland und Spanien, war es ja so: Zuerst kamen die Kürzungsprogramme, dann formierte sich der Widerstand dagegen und anschließend wurde der Repressionsapparat mobilisiert, um ihn zu zerschlagen. Aber zunächst wurde versucht, eine allgemeine Zustimmung zu den Kürzungsmaßnahmen zu organisieren. In der Ukraine ist es genau anders herum: Die Unterdrückung stand an erster Stelle, wie der Widerstand aussehen würde, war ja von vornherein klar. Wie schon in den baltischen Staaten, so wird auch hier versucht, einer fremden Macht die Schuld für die Misere in die Schuhe zu schieben – also den Russen. Konflikte, die in der Ukraine existierten, werden genutzt, um das Widerstandspotential zu neutralisieren.

In diesem Sinne wäre die Ukraine als Experimentierfeld anzusehen, als Labor für neue Krisenlösungen im Sinne des Kapitalismus?

Hier wurde zweifellos eine Schwelle überschritten. Wir haben jetzt Krieg in einem europäischen Land, massive Menschenrechtsverletzungen: Leute werden von der Straße weg verhaftet und wandern in den Knast für Facebook-Einträge oder andere Lappalien, und im Osten gibt es eine Massenflucht aus den Städten, die an syrische Zustände erinnert. Die Propaganda, in der ein angeblicher Genozid am ukrainischen Volk herbeiphantisiert wird, schreit zum Himmel. Abgehalfterte Figuren aus der Zeit des Irak-Kriegs wie John McCain, die diesen mit gefälschten »Beweisen« entfesselt hatten, tauchen plötzlich in Kiew wieder auf, werden auf den Titelseiten von Magazinen abgefeiert. In Kiew gibt es den reinsten Karneval der Reaktion. Mit der Vision eines friedlichen Europas, wie sie den Leuten präsentiert wurde, hat all das wenig zu tun. Nun können die Urheber sagen: Ok, das war der Preis. Vielleicht läßt sich das wiederholen, möglicherweise auch auf Griechenland anwenden, um die Krise zu lösen. Ich würde aber nicht ausschließen, daß auch in einer der Hauptmächte der EU eine faschistische Lösung ausprobiert werden könnte.

In der europäischen Linken scheint die Ukraine-Krise gemeinhin nicht als so brisant wahrgenommen zu werden, wie sie tatsächlich ist. Das gilt in Teilen sogar für antifaschistische Organisationen. Woran liegt das, und wie könnte da Abhilfe geschaffen werden?

Zunächst einmal muß klargemacht werden, daß die »russische Gefahr« nicht existiert. Putin ist nicht willens und auch nicht in der Lage, eine Abspaltung der östlichen Ukraine herbeizuführen. Darum ging es auch überhaupt nicht, als im Frühjahr die großen Demonstrationen dort stattfanden. Die Forderungen bezogen sich auf Grundrechte, auf kulturelle und nationale Autonomie, nicht mehr – sie richteten sich nicht einmal gegen die Austeritätspolitik. Nach einer Reihe von Angriffen durch Faschisten waren die Leute gezwungen, ihre Selbstverteidigung zu organisieren, was dann mehr und mehr militärische Formen annahm. Im Fall der Krim lagen die Dinge anders: Hier waren strategische Interessen Rußlands unmittelbar berührt, und die Gefahr, daß die Halbinsel von der NATO besetzt werden würde, war ja sehr real und eine wirkliche Bedrohung der russischen Sicherheit. Aber das Referendum auf der Krim für eine Rückkehr zu Rußland fiel ja sehr eindeutig aus.

Um den Propagandalügen entgegenzutreten muß einfach die massenhafte und systematische Verletzung von Menschenrechten, die das Kiewer Regime begeht, namhaft gemacht werden. Das Massaker von Odessa beispielsweise, bei dem vermutlich über 100 Menschen von einem faschistischen Mob ermordet wurden. Es muß aufgeklärt und international verurteilt werden, die Täter gehören hinter Gitter. Wie es in jedem zivilisierten Land der Fall wäre.

Interview: Stefan Huth

* Aus: junge Welt, Samstag 9. August 2014


Zurück zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Medien-Seite

Zur Medien-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage