Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Nach dem Pulverdampf

Angesichts der Krimkrise entdecken Deutschlands Medien das Differenzieren

Von Velten Schäfer *

Lange haben Deutschlands Medien den Kiewer Umsturz sehr unkritisch begleitet. Erst die Kriegsgefahr der jüngsten Tage scheint etwas Mäßigung zu bringen.

Während sich die Krise auf die Krim verlagert, rätseln deutsche Medien weiter über die Kiewer Übergangsregierung. Mit dem Pulverdampf scheint sich auch die bedingungslose Parteinahme für die »prowestliche« Straßenbewegung allmählich zu verflüchtigen.

Die Essener »WAZ« etwa hat entdeckt, dass die einflussreiche Rechtspartei »Swoboda« rechts ist, Beziehungen zur NPD unterhalte – und dass ihr Führer Oleg Tjagnibok auf der Negativliste des Simon-Wiesenthal-Zentrums steht. In der ARD durfte Sonja Mikisch kommentieren, es sei ein Fehler gewesen, über den Einfluss der »Ultranationalisten« hinwegzusehen und auf Moskau keine Rücksicht zu nehmen. Und die »Neue Osnabrücker Zeitung« schreibt, die EU stehe »der neuen ukrainischen Führung bislang viel zu unkritisch gegenüber«. Wichtige Teile »der auch von Brüssel vermittelten Einigung zwischen Opposition und (...) Janukowitsch wurden übergangen, etwa die Entwaffnung rechtsextremer Milizen. Dies trägt zur explosiven Stimmung bei.«

Wer derlei behauptete, sah sich noch vor wenigen Tagen – auf dem Höhepunkt des ukrainischen Infokrieges – dem Vorwurf ausgesetzt, nützlicher Idiot oder gleich Einflussagent Moskaus zu sein. Über soziale Medien wurde ein von zahlreichen »Experten« unterzeichnetes Papier verbreitet, in dem behauptet wurde, es gebe allenfalls irrelevante Spurenelemente von Rechten in Kiew. Zu den prominenten Unterzeichnern gehört der Yale-Historiker Timothy Snyder, dem die Heinrich-Böll-Stiftung jüngst den »Hannah-Arendt-Preis« verlieh. Das Papier unterschlug, dass in Kiew Polizisten erschossen wurden; Brandflaschen seien die höchste Eskalationsstufe gewesen.

Dass nun eine gewisse Differenzierung einsetzt, wird beim »Spiegel« für Wohlgefallen sorgen, der sich in seiner Leitmedienrolle bestätigt fühlen darf. Die spürbare Neunuancierung der Berichterstattung geht nämlich nicht nur auf die Wirtschaft zurück, die nun ihr blendendes Russlandgeschäft in Gefahr sieht und zum Maßhalten mahnt. Sondern vor allem auf zwei am Montag veröffentlichte »Spiegel«-Texte von Uwe Klussmann und Jakob Augstein, in denen diese Argumente vorweggenommen wurden. Danach durfte Ulf Poschardt sogar in der »Welt« vor einer Ausgrenzung Russlands durch »westliche Wertegroßmäuligkeit« warnen.

Noch nicht erreicht hat die neue Vernunft dagegen den »Tagesspiegel«, der in einer mehr als fragwürdigen Analogie vor »Appeasement« warnt – und natürlich die »taz«. Dort ist allen Ernstes zu lesen, die Krim sei »historisch« gar nicht russisch, sondern »erst 1783 annektiert« worden! Es dürfe daher kein Zurückweichen geben! Zutreffend gegoogelt, doch gehörte 1783 auch Amerika noch nicht zu den USA – und Schleswig-Holstein war dänisch.

Neues gibt es auch – etwa die Einladung der NPD-Jugendbande »JN«, bei ihrem »Europakongress« am 22. März »im Großraum Leipzig« die Helden vom »Rechten Sektor« kennenzulernen. Derweil empört sich Ria-Novosti über den ukrainischen UN-Botschafter Juri Sergejew. Der habe gesagt, die »Vorwürfe der Sowjetunion gegen die ukrainischen Nationalisten im Nürnberger Prozess« seien »verfälscht« gewesen.

Es gibt also auch weiterhin viel zu entdecken auf der Welt. Qualitätsmeinungsmacher, übernehmen Sie!

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 6. März 2014


Ukraine im Infokrieg

Vom Westen unterstützte Regierung in Kiew blockiert Empfang russischer Sender. Telefonat mit EU-Außenbeauftragter Ashton belastet Janukowitsch-Gegner

Von Reinhard Lauterbach und Rüdiger Göbel **


Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wird eine Beobachtermission auf die Krim schicken. Sie ist aus Militärs aus 15 Mitgliedsstaaten zusammengesetzt und soll unter anderem klären, welchen Aktivitäten das russische Militär auf der Halbinsel nachgeht. Nach russischer Darstellung befinden sich die Soldaten der Schwarzmeerflotte in ihren Stützpunkten. Die ukrainische Seite behauptet, vom Festland herangeführte russische Truppen belagerten weiterhin ukrainische Militärbasen und Dienststellen. So sei der Grenzposten in Kertsch am Ostende der Krim von 100 Soldaten umstellt. Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu bezeichnete im Internet kursierende Aufnahmen, auf denen Soldaten zugeben, aus Rußland zu sein, als Provokationen.

Im Internet sorgt derweil ein geleaktes Telefonat für Furore: In dem mitgeschnittenen Gespräch unterhalten sich die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton und der estnische Außenminister Urmas Paet am 26. Februar auch über die Toten bei den Auseinandersetzungen auf dem Maidan in Kiew. Der Minister berichtet, ihm sei von einer Ärztin auf dem Platz gesagt worden, daß die Opfer auf seiten der Polizei und der Demonstranten von denselben Tätern erschossen worden seien und daß die neue Regierung die Vorfälle bislang nicht untersuche. Laut Paet verbreite sich die Einschätzung, daß nicht – der inzwischen entmachtete – Präsident Wiktor Janukowitsch dahinter stecke, sondern »jemand aus der neuen Koalition«. Paet zufolge ist das Vertrauen in die neue Führung in Kiew gleich null. Laut Stimme Rußlands hat der Minister das Telefongespräch bestätigt, sich zum Inhalt aber nicht weiter geäußert. Äußerst bedauernswert sei, »daß es so ein Abhören gegeben hat«.

Als Bestandteil des Informationskrieges will die von der EU und den USA unterstützte neue ukrainische Regierung den Empfang russischer Sender über die Kabelnetze des Landes blockieren lassen. Ausgerechnet ihr Beauftragter für die »Redefreiheit«, Mikola Tomenko, begründete dies damit, daß die Sender systematisch Falschinformationen verbreiteten. Auch der Chef der faschistischen Freiheitspartei, Oleg Tjagnibok, forderte, den »ukrainischen Informationsraum« von russischen Programmen zu säubern. Das dürfte im Ostteil des Landes auf weiteren Unmut stoßen, auch wenn die prorussischen Demonstrationen der letzten Tage abgeflaut sind und die Polizei inzwischen die Besetzung der Regionalverwaltung in Donezk durch Demonstranten beendet hat. Abgeordnete der Vaterlandspartei von Julia Timoschenko brachten derweil einen Gesetzesentwurf ins Parlament in Kiew ein, der die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zum Ziel hat.

Die EU verhängte am Mittwoch Sanktionen gegen 18 hohe Beamte der entmachteten Janukowitsch-Regierung und den aus dem Amt geputschten Präsidenten selbst. Sie sollen keine Visa mehr bekommen, und ihre Konten werden gesperrt. In der Frage von Sanktionen gegen Rußland wegen der Krim-Krise ist die Position der EU-Staaten nach wie vor uneinheitlich. Differenzierungen sind insbesondere auch in Osteuropa zu beobachten. So hält sich Lettland merklich zurück. Die dortige Regierung setzt auf den Finanzplatz Riga, der wesentlich von russischem und ukrainischem Fluchtgeld gespeist wird. Polen fährt eine Doppelstrategie: einerseits wortmächtige Verurteilungen Rußlands in Politik und Presse; andererseits hat Ministerpräsident Donald Tusk angekündigt, nur im EU-Geleitzug zu agieren.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 6. März 2014


Zurück zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Medien-Seite

Zur Medien-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage