Strafvereitelung im Amt?
Europarat kritisiert den Umgang der ukrainischen Justiz mit den Schüssen auf dem Euromaidan
Von Reinhard Lauterbach *
Gut ein Jahr nach dem Kiewer Machtwechsel lässt die juristische Aufarbeitung der Vorgänge auf dem Maidan nach wie vor auf sich warten. Das gilt nicht nur für die Frage, wer für den Gebrauch von Schusswaffen Mitte Februar 2014 während eines Polizeieinsatz gegen die Demonstranten verantwortlich ist. Wie ein Ende März veröffentlichter Bericht des Europarates deutlich macht, haben verschiedene Zweige des ukrainischen Staatsapparats im Laufe des Jahres offenbar gegeneinander gearbeitet und so die Ermittlungen stark behindert. Die Frage ist, in wessen Interesse das geschehen ist.
Die ursprüngliche These der neuen Machthaber war, dass für den Feuerbefehl gegen die Demonstranten eine Gruppe von Offizieren der Antiaufstandspolizei »Berkut« verantwortlich gewesen sei. Während der Amtszeit des »Swoboda«-Politikers Igor Machnitzki als Generalstaatsanwalt im Frühjahr 2014 ermittelten die Behörden gegen 20 dieser Polizisten; als Machnitzki im Sommer durch Witali Jarema von der »Vaterlandspartei« von Julia Timoschenko ersetzt wurde, hat dieser offenbar die Ermittlungen gebremst und zwei leitende Staatsanwälte von der Sache entbunden. Auch vorher soll das ukrainische Innenministerium seine Hand über Berkut-Offiziere gehalten und diesen zugesichert haben, sie hätten nichts Verbotenes getan. Immer wieder muss es durch Vertreter des Innenministeriums Warnungen an Verdächtige gegeben haben, so dass im vergangenen Dezember, als die Generalstaatsanwaltschaft Anklage gegen die 20 Offiziere erhob, nur noch zwei davon in der Ukraine waren. Machnitzki, auf dessen Aussagen sich der Europaratsbericht in starkem Maße stützt, warf dem Innenministerium insbesondere vor, einem verdächtigen Berkut-Offizier die Flucht aus dem Hausarrest nicht nur ermöglicht, sondern sogar finanziert zu haben.
Anders als für den Europarat ist der jetzige Sachstand, dass die Verdächtigen sich ins Ausland abgesetzt haben, für der ukrainischen Politik nicht unwillkommen. Die fehlende Aufarbeitung der Vorgänge im Februar 2014 lässt sich mit diesem Umstand erklären, und solange es keine Prozesse gibt, brauchen auch keine Fragen nach Gewalt von seiten der prowestlichen Demonstranten beantwortet zu werden. Dass die Opposition gegen Wiktor Janukowitsch gewaltbereit war, zeigen nicht nur die Plünderungen von Polizeiwachen und Kasernen in der Westukraine im Januar und Februar 2014 durch Maidan-Demonstranten, bei denen zahlreiche Waffen in die Hände der Opposition gelangten. Die britische BBC hatte im Februar einen ehemaligen Demonstranten vor die Kamera bekommen, der zugab, mit einem Scharfschützengewehr auf die Polizei geschossen zu haben. Diese Maidan-Gewalt scheint in dem Europaratsbericht nur gelegentlich und indirekt durch; so etwa, wenn der Fall eines Demonstranten geschildert wird, der von Polizisten mißhandelt, erniedrigt und mit dem Stiel seines eigenen Eispickels geschlagen worden sei.
Die offizielle Version Kiews lässt diese Tatsachen bewusst im unklaren, ohne sie frontal zu bestreiten. Heute lautet die Generallinie, das Blutbad zwischen dem 18. und dem 20. Februar sei von russischen Geheimagenten angezettelt worden, die durch Angriffe auf die Polizei (!) Chaos hätten säen wollen. Diese mutmaßlichen russischen Agenten waren schon vorher durch die Kiewer Pressekonferenzen gegeistert, allerdings sollten sie nach der ersten Version auf seiten der Janukowitsch-Regierung gekämpft haben; dass sie nun das Lager gewechselt haben sollen, lässt sich nur damit erklären, dass nicht einmal Kiew die Gewaltanwendung von seiten des Maidan und die Tatsache, dass auch die Polizei besc
hossen wurde, noch ernsthaft bestreiten kann.
Es kommt für die Stilisierung des Maidan zur Gründungslegende der neuen Ukraine auch nicht darauf an, wer auf wen geschossen hat. Mythen brauchen nicht gerichtsfest belegbar zu sein, im Gegenteil: Die »himmlische Hundertschaft«, jene auf dem Maidan umgekommenen Demonstranten, wird inzwischen in ukrainischen Schulbüchern verherrlicht. Fotogalerien am Ort des Geschehens rufen die Toten in Erinnerung, und die ukrainische Regierung plant nach Presseberichten sogar, die Umgebung des Unabhängigkeitsplatzes und damit einen Großteil des Kiewer Stadtzentrums in ein »Gedenkviertel« umzuwidmen.
Mit etwas Amnesie geht das durchaus Hand in Hand. Etliche der Polizeioffiziere, gegen die im Zusammenhang mit den Einsätzen auf dem Maidan ermittelt wurde, sind inzwischen wieder im Dienst und haben ihre Karriere im Apparat des Innenministeriums fortgesetzt. Einige haben sich sogar im Donbass an der Spitze von Einheiten der Nationalgarde »rehabilitiert«. Das Verhältnis der Kiewer Machthaber zum Euromaidan wird derweil zunehmend ambivalent. Je deutlicher es wird, dass in der Ukraine im Frühjahr 2014 keine Revolution, sondern eine inneroligarchische Umgruppierung stattgefunden hat, desto mehr wird die Erinnerung an den gegen die Korruption gerichteten Impetus des Maidan lästig. In einer Situation, in der angesichts des rapide sinkenden Lebensstandards auch soziale Konflikte wieder wahrscheinlicher werden, kann es aus Sicht der Machthaber sogar zweckmäßig sein, in den bewaffneten Organen Menschen zu haben, die mit ihrer Vergangenheit erpressbar sind. Zum Beispiel durch Ermittlungen, die sich endlos und scheinbar ohne Ergebnis hinschleppen.
* Aus: junge Welt, Donnerstag, 9. April 2015
Ukraine: Unruhiges Hinterland
Von Reinhard Lauterbach **
Keine Ruhe für das ukrainische Hinterland: Vor allem in den Regionen Charkiw und Odessa kommt es immer wieder zu kleineren Anschlägen auf staatliche oder dem »Euromaidan« nahestehende Objekte – mal geht ein Laden mit nationalistischen Gadgets in Flammen auf, mal detoniert ein Sprengsatz an einem ukrainisch-nationalistischen Denkmal, mal entgleist nach einer Explosion ein Zug mit Treibstoff für die Armee. Die Behörden beschuldigen neuerdings die Kommunistische Partei, hinter diesen Anschlägen zu stehen, was aber angesichts des auf legale Arbeit orientierten Kurses der KPU unwahrscheinlich ist. Bekennerschreiben kommen von nicht näher bekannten Gruppen wie »Charkower Partisanen«. Um eine Handhabe gegen sie zu gewinnen, haben die Behörden versucht, sie mit der Explosion bei einem Marsch der faschistischen Swoboda-Partei in Charkiw im Februar in Verbindung zu bringen. Die Vorwürfe wiesen aber zahlreiche innere Unstimmigkeiten auf und sind zuletzt nicht mehr wiederholt worden.
Dass es in den letzten Wochen auch in Odessa wieder unruhiger geworden ist, mag mit an dem Zerwürfnis zwischen dem Oligarchen Igor Kolomojskij und der Regierung liegen. Als Reaktion auf seine Entmachtung und die Einschränkung seiner Geschäftsmöglichkeiten hatte Kolomojskij nämlich die rechten Milizen, die in seinem Auftrag und für sein Geld die südukrainische Hafenstadt im Griff hielten, zurückbeordert. (rl)
** Aus: junge Welt, Donnerstag, 9. April 2015
Zurück zur Ukraine-Seite
Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)
Zurück zur Homepage