Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Das Land blutet aus

Der ökonomische Niedergang der Ukraine trifft die Bevölkerung hart

Von Frank Schumann *

Alexander K. zog mit seiner Familie 1990 mit uns in den Berliner Plattenbau. Der promovierte Ingenieur stammt aus Kiew, inzwischen hat er ein eigenes Unternehmen. Wir sehen uns heute im Treppenhaus und auf dem Hof, wo unsere Autos nebeneinander parken. Alexander hat eine Schüssel am Fenster und empfängt diverse Fernsehprogramme aus der Heimat, und im Internet liest er deren Zeitungen. Alexander pflegt schlechte Nachrichten über die Lage in der Ukraine stets mit Kopfschütteln und mit dem Wort »Katastrophe« zu kommentieren. Keine Begegnung kommt ohne diese Bemerkung aus. Jüngst artikulierte er sein Unverständnis darüber, daß inzwischen die meisten seiner Landsleute der offiziellen Lesart Kiews anhängen: Putin ist an allem Schuld!

Kein Gedanke daran, daß die wirtschaftlichen – und damit die politischen – Probleme, die die Mehrheit der 45 Millionen Ukrainer bedrücken, größtenteils hausgemacht sind. Die Talfahrt währte bereits Jahrzehnte, beschleunigte sich unter Janukowitsch, doch seit dem Putsch ist es eine Schußfahrt. Ein korruptes Regime ist dem nächsten gefolgt, die »Familie«, der Klüngel aus Oligarchen und korrupten Politikern, hat ein paar Nasen ausgetauscht und bedient sich unverändert wie in einem Supermarkt.

Die Devisenreserven der Ukraine halbierten sich von Januar 2013 bis Mai 2014 und sind inzwischen auf dem niedrigsten Niveau seit 2005, während die Auslandsschulden bei vermutlich 142,5 Milliarden Dollar liegen. Das Zehnfache etwa dessen, was die Nationalbank als Devisenreserve ausweist. 23 Milliarden Dollar sind noch in diesem Jahr an Verbindlichkeiten und Zinsen zu tilgen. Aber womit?

Die Industrieproduktion der Ukraine ging von Januar bis April 2014 um 4,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zurück, im Bereich der Schwarzmetallurgie waren es gar zwölf Prozent, das Minus in der Stahlproduktion betrug 21 Prozent. Beim Maschinenbau, der ein reichliches Zehntel des Exports ausmacht, brach die Produktion im ersten Quartal um fast 20 Prozent ein, die bei Lokomotiven und Waggons halbierte sich. Der Rückgang bei der Herstellung von Güterwagen betrug gar 85 Prozent. Zwar ist nicht erkennbar, ob der dramatische Einbruch Folge der politischen Wirren war oder Hauptabnehmer Rußland seine Einfuhr drosselte, aber alles hängt bekanntlich mit allem zusammen. Jedenfalls sank im ersten Quartal 2014 der Außenhandelsumsatz mit Rußland um 4,6 Prozent; er lag im Vorjahr bei etwa 50 Milliarden Dollar. Und aus der EU wurden mehr Waren ein- denn in sie ausgeführt, der Saldo belief sich im Vorjahr auf etwa zwölf Milliarden Dollar. Es dürfte mit dem EU-Assozierungsabkommen weiter wachsen.

Das Land ist nahe dem Bankrott. Bekam man in den Wechselstuben im Vorjahr für etwa acht Griwna einen Dollar, muß man inzwischen zwölf hinlegen, der Kurs des Euro steht bei eins zu 16.

Die Preise im Laden stiegen entsprechend. Zahlte der Kiewer im Vorjahr für ein Stück Butter elf bis zwölf Griwna, sind es inzwischen 16 bis 17. Das ist die einheimische, die meist mit Palmöl gestreckt ist. Die »gute Butter« heißt »Kremlewskoje« und ist erheblich teurer. Das Kilo Schweinefleisch kostet aktuell 50 Griwna gegenüber 35 im Vorjahr, der Liter Milch acht, früher fünf Griwna. Die Apothekenpreise haben sich verdoppelt, die Benzinpreise haben dies auch bald geschafft. Und der Preis für die importierte Flasche Paulaner stieg von 16 auf 23 Griwna. Doch wer trinkt schon bayerisches Hefeweizen in der Ukraine? Das ist auch keine Frage des Geschmacks. Die Durchschnittsrente bewegt sich zwischen 1200 und 1500 Griwna, das normale Monatsgehalt liegt bei 4000 bis 5000 Griwna. Bei dem aktuellen Kurs also liegen die Durchschnittseinkommen zwischen 250 und 310 Euro. Beim Essen und Trinken kann man vielleicht sparen, nicht aber beim öffentlichen Nahverkehr, auf den man nicht nur in der Metropole Kiew angewiesen ist. Die Fahrpreise stiegen bislang um 70 Prozent. Auch das eine Forderung des IWF, die er an seine Kredite knüpfte.

Die unter Ministerpräsident Mikola Asarow einige Jahre gehaltene Preisstabilität ist dahin, seine auf die Verbesserung der sozialen Lage und der Wirtschaft zielenden Reformen – im Streit mit der »Familie« durchgesetzt – ließen für 2014 ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von fünf bis sieben Prozent erwarten. Dazu sollten ein ausgeglichener Handel mit der EU und die erhebliche Senkung der russischen Gaspreise beitragen. Zudem hätte Rußland für fünf Milliarden Dollar im Land investiert und einen Kredit über 15 Milliarden bereitgestellt. Das erledigte sich alles nach dem Putsch in Kiew Ende Februar.

Die Ausplünderung des ukrainischen Volkes geht weiter, und die, die dagegen sind und sich Gehör verschaffen wollen, werden ausgeschaltet und niederkartätscht. Unverändert werden in Kiew Posten ver- und gekauft. Es heißt, daß beispielsweise der Pharmaproduzent Pasetschik (»Falbi«) zwölf Millionen Dollar an Jazenjuk gegeben haben soll, damit dieser ihn zum Chef des staatlichen Amtes für Arzneimittel ernannte, was er 2000 schon einmal war. Die Verbindlichkeiten seines insolvent gegangenen Unternehmens »Falbi« übernahm die staatliche Ukrexim-Bank, die meisten Zulieferer schauten trotzdem in die Röhre. Oder: Der Oligarch und Gouverneur in Dnipropetrowsk, Igor Kolomoiski, einer der reichsten Männer der Ukraine, bekam für seine Privatbank einen »Stabilisierungskredit« von neun Milliarden Griwna, der, wie Fachleute sagen, völlig unnötig war. Damit wurden Dollar zum Kurs von 1:8 gekauft, und nachdem der Kurs auf 1:14 gesunken war, verkaufte er die Dollar und machte einen Gewinn von satten 14 Milliarden Griwna. Diese setzte Kolomoiski erneut zum Kauf von Dollar ein, als der Kurs bei 1:11 stand. Privater Nettogewinn dank staatlicher Zuwendung: 300 Millionen Dollar.

»Katastrophe« sagt Alexander K. und hat Recht. So gesehen ist der Bürgerkrieg im Osten und Südosten des Landes tragisch, aber letztlich ein Nebenkriegsschauplatz. Das Land blutet aus anderen Gründen aus.

* Aus junge Welt, Montag, 7. Juli 2014


Mikola Asarow und die »Familie«

Von Frank Schumann **

Nach und nach dringen immer mehr Interna aus dem inneren Machtzirkel des Ende Februar aus dem Amt getriebenen Präsidenten Janukowitsch nach außen. Sie legitimieren weder den Putsch post festum, noch machen sie das gegenwärtige Regime unter Poroschenko besser. Hinter den Kulissen gab es erhebliche Auseinandersetzungen und Machtkämpfe zwischen dem Präsidenten und seinem Ministerpräsidenten Asarow, weil dieser sich dem Kurs von Janukowitsch und der »Familie« aktiv widersetzte. Davon erfuhr man nichts.

Die »Familie«, bestehend aus den wichtigsten Ministern, die von Janukowitsch und den ihn tragenden Oligarchen protegiert wurden, veruntreuten systematisch staatliche Ressourcen. Ministerpräsident Asarow spielte jedoch immer weniger mit.

Die härtesten Auseinandersetzungen im Kabinett gab es um die von den Oligarchen geforderte Senkung der Mehrwert- und der Ertragssteuer, die die Haushaltskrise dramatisch verstärkt hätte. Die Vertreter der »Familie« wollten ihren und den Unternehmen ihrer Freunde auf diese Weise jährlich etwa 40 bis 45 Milliarden Griwna zukommen lassen.

Da Asarow nicht mitspielte, wurde er schließlich abgeschossen. Die Ausgrenzung des Premiers hatte bereits früher begonnen. So wurde die Politik zunehmend im »kleinen Kabinett« unter der Leitung des Präsidentensohnes Alexander Janukowitsch gemacht, wozu die Minister der »Familie« an jedem Sonntag mit ihren Privatjets nach Donezk flogen. Das »große Kabinett« in Kiew hatte nur noch abzunicken.

Mit dem Bremser Asarow gestaltete sich das immer schwieriger. Darum setzte man ihm im Februar 2012 den 42jährigen Waleri Choroschkowski als ersten Stellvertreter vor die Nase – mit der Absicht, den Premier mittelfristig abzulösen. Choroschkowski war bei seiner Berufung durch Janukowitsch Chef des Geheimdienstes SBU und von 2002 bis 2004 Wirtschaftsminister. Danach gehörten ihm Stahlkonzerne und Medienunternehmen, ein Fernsehsender inklusive. Der Plan der »Familie«, diesen Oligarchen auf Asarows Stuhl zu bugsieren, scheiterte an der sich stetig verschlechternden Wirtschaftslage in der Ukraine. Man mußte an Asarow als dem offenkundig einzig kompetenten Politiker festhalten. Im Dezember 2012 warf Choroschkowski den Bettel hin und verlegte seinen Wohnsitz nach Monaco.

Daraufhin berief Janukowitsch den 36jährigen Nationalbankchef Sergej Arbusow zum Vizepremier.

Als im November 2013 die sozialen Proteste auf dem Maidan begannen, verweigerte Asarow sich ein Gesetz der »Familie« zur weiteren Umverteilung des Volksvermögens von unten nach oben zu unterschreiben, und verließ demonstrativ die geschlossene Kabinettsitzung. Daraufhin bestellte ihn der Präsident zu sich, um ihn schließlich am 28. Januar 2014 zu entlassen. Der dem Präsidenten hörige Arbusow übernahm kommissarisch die Amtsgeschäfte des Premiers. Der nunmehrige Plan, Janukowitsch bei der Präsidentenwahl und Arbusow als Ministerpräsident zu bestätigen, womit die »Familie« das ganze Land vollständig unter ihre Kontrolle gebracht hätte, erledigte sich allerdings mit der Zuspitzung der Staatskrise im Februar. So disponierte die »Familie« um und wollte Poroschenko als Premier unter Präsident Janukowitsch und Arbusow weiter als Vizepremier. Das erledigte sich jedoch mit dem Putsch. Nun ist der Oligarch Poroschenko Präsident und zieht selbst die Fäden.

** Aus junge Welt, Montag, 7. Juli 2014


Zurück zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage