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Streit mit dem Rücken an der Wand

Die Volksrepubliken Donezk und Lugansk stecken in einer schweren Krise

Von Reinhard Lauterbach *

Zwei Monate nach den international nicht anerkannten Wahlen stecken die Volksrepubliken Donezk und Lugansk in einer schweren Krise. Sie hat mehrere Dimensionen: wirtschaftliche, soziale, militärische und politische. Zur wirtschaftlichen Krise trägt die Kombination dreier Faktoren bei: Kriegszerstörungen, einseitige Struktur der Wirtschaft und die Finanzblockade. Indem Kiew seit November die Aufstandsgebiete von den Finanzströmen der ukrainischen Volkswirtschaft abschneidet – Banken wurden geschlossen, Geldautomaten stillgelegt, Lohn- und Rentenzahlungen gestoppt –, verstärkt es die Handicaps, die die einseitig auf die Schwerindustrie fokussierte Wirtschaftsstruktur des Donbass ohnehin mit sich bringt. Da die ukrainische Regierung ihren Unternehmen offiziell verboten hat, Kohle aus diesem Gebiet zu beziehen, sind die dortigen Betriebe auf Schwarzhandel angewiesen und verlieren dadurch noch weiter an Profitabilität und Steuerkraft. Die Stahlwerke sind ihrerseits auf Zulieferungen von Rohstoffen aus der Zentralukraine angewiesen und stehen deshalb überwiegend still. Die Finanzblockade führt dazu, dass die soziale Lage der Bevölkerung sich von Tag zu Tag verschlechtert. Humanitäre Hilfe aus Russland wird offenbar in erheblichem Teil veruntreut und über Unternehmen, die einzelnen Personen aus dem Führungspersonal der Volksrepubliken nahestehen, auf die Märkte umgeleitet. Namentlich genannt wurde in diesem Zusammenhang zuletzt der Präsident der Volksrepublik Lugansk, Igor Plotnizki.

Diese mutmaßlichen Schiebereien sind aber nicht auf das politische Führungspersonal beschränkt. Innerhalb der Republik Lugansk hat sich de facto eine kosakische Autonomie rund um die Stadt Antrazit gebildet. Deren Führung droht Lugansk mit weiteren Enthüllungen, steht aber selbst im Verdacht, am Treibstoffhandel zu verdienen – Antrazit liegt auf der wichtigsten Straße vom Donbass nach Rostow am Don. Etliche Feldkommandeure der Volkswehren haben außerdem offenbar begonnen, auf eigene Rechnung Geschäfte zu machen und/oder die Bevölkerung auszurauben.

Anfang des Jahres soll nach polnischen Presseberichten Russland Spezialeinheiten in den Donbass geschickt haben, um diesen Räuberbanden Einhalt zu gebieten. Tatsächlich wurde einer der populärsten Feldkommandeure, Alexander Bednow (»Batman«), am Neujahrstag an einer Straßensperre bei einem Feuergefecht erschossen. Bednow, ein ehemaliger Offizier der Antiterroreinheiten der Ukraine, galt aber auch als Schlüsselfigur der antioligarchischen Tendenz an der Basis der Aufständischen. Womöglich sollte also mit seiner Ermordung eigentlich diese geschwächt werden. In der Bevölkerung des Donbass wächst nach dem Eindruck, den man aus Publikationen im Internet gewinnen kann, die Enttäuschung über Russland, von dem sich viele »verraten« und »abserviert« fühlen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 15. Januar 2015


Wer hat womit geschossen?

Elf Tote nach Anschlag in der Ostukraine: Überlegungen zur Urheberschaft des Angriffs auf einen Reisebus bei Donezk

Von Reinhard Lauterbach **


Beim Beschuss eines Reisebusses südlich von Donezk am Dienstag nachmittag sind elf Menschen getötet worden. Die ersten Schuldzuschreibungen waren routinemäßig. Die ukrainische Seite bezichtigte die Aufständischen (»Terroristen«) des Verbrechens. Diese erklärten aber, sie hätten mit dem Anschlag nichts zu tun. Russland machte Kiew für das Massaker verantwortlich. Das war alles erwartbar und bringt die Antwort nicht näher, wer dieses Kriegsverbrechen an Zivilisten verübt hat.

Kiew hat sich schnell festgelegt. Der Sprecher der »Antiterroroperation« erklärte noch am Dienstag, die Aufständischen hätten einen Kontrollpunkt der Regierungstruppen mit Raketenwerfern vom Typ »Grad« – in Deutschland bekannt unter dem Namen »Stalinorgel« – beschossen. Dabei sei der Bus getroffen worden. Selbst die Regierungsseite unterstellt also den Aufständischen allenfalls bedingten Vorsatz: Nicht der Bus sei Ziel gewesen, sondern der Kontrollpunkt. Politische Stoßrichtung der Kiewer Vorwürfe ist, den Aufständischen eine (weitere) Verletzung des ohnehin brüchigen Waffenstillstands vorzuwerfen. Dies sollte durch die hohe Zahl und die Art der Opfer Emotionen wecken – und damit einen Nutzen bringen ähnlich dem, den diese ukrainische Seite aus dem bis heute nicht aufgeklärten Abschuss der Passagiermaschine des Flugs MH 17 gezogen hat.

Ein kleines, bewegliches Objekt wie einen Bus mit einem Raketenwerfer zu beschießen, von dem eine Salve in der Lage ist, eine Fläche von 1,5 Hektar zu verwüsten, erscheint rein militärisch wenig zweckmäßig. Es mag im Krieg natürlich vorkommen. Wenn man allerdings die im Internet veröffentlichten Bilder des am Dienstag getroffenen Busses mit denen von ähnlichen Fahrzeugen vergleicht, die nachweislich von »Grad«-Raketen zerstört wurden, fällt ein schlagender Unterschied auf: Die vom »Grad« getroffenen Fahrzeuge sind völlig ausgebrannt und bestehen nur noch aus einem Metallgerippe inmitten eines Meers von Splittern und Raketenteilen. Der am Dienstag attackierte Bus dagegen ist auf der linken Seite praktisch unversehrt – sogar die Fensterscheiben sind zum Teil noch erhalten. Nur auf der rechten Seite ist er von runden Einschusslöchern durchsiebt. Das deutet auf Beschuss aus einem Maschinengewehr oder einer automatischen Infanteriewaffe hin. Da auf der Seite des Beschusses in einigen Dutzend Metern Abstand neben der Straße ein Waldstreifen verläuft, könnten der oder die Schützen sich hier versteckt haben.

Damit ist die Frage, wer geschossen hat, noch nicht beantwortet. Mehrere Vertreter der »Volksrepublik Donezk« erklärten, ihre Truppen hätten den Kontrollpunkt der Armee mit den leichten Waffen, die offenbar angewandt wurden, gar nicht erreichen können. Denn er liege tief im Hinterland der Front. Ob dieser Checkpoint überhaupt besetzt war, ist auch unklar. Von Kiewer Seite hieß es am Dienstag vorübergehend, dies sei nicht der Fall gewesen. Dies sollte als Argument für den Mutwillen der Aufständischen stehen, die wild durch die Gegend ballerten. Im Zusammenhang mit der Hypothese eines Beschusses aus schweren, weitreichenden Waffen könnte man – da es ja nicht üblich ist, den Gegner darüber zu unterrichten, wo man gerade ist oder nicht ist – aber auch eine perfide Kriegslist der ukrainischen Regierungsarmee vermutet werden: Man räumt den Posten, um keine eigenen Leute zu gefährden. Und feuert dann selbst mehr oder weniger blind aus Raketenwerfern oder mit Artillerie auf die Straße, um etwas zu haben, was man der Gegenseite in die Schuhe schieben kann. Folgt man als Beobachter aber der Aussage der Bilder vom Tatort, und ist aus leichten Waffen geschossen worden, muss man zwingend annehmen, dass der oder die Täter mit Vorsatz gehandelt haben.

An dieser Stelle stellt sich die Frage, wer ein Motiv gehabt hätte. Die Volkswehren vermutlich eher nicht, wenn man ihnen rationales Handeln unterstellt. Sie mussten damit rechnen, dass es Bewohner des eigenen Hinterlands waren, die da auf der Rückreise von Mariupol waren, vielleicht alte Menschen, die sich dort ihre Rente abgeholt hatten. Der politische Rückhalt, den die Volksrepubliken bei ihren Bewohnern genießen, beruht praktisch ausschließlich auf dem Gefühl, dass sie die Bevölkerung vor der Kiewer Strafexpedition schützen. Es wäre entweder der Gipfel der Dummheit oder ein Abgrund an Disziplinlosigkeit, wenn Kämpfer der Volksrepubliken – angenommen, sie hätten den Tatort überhaupt erreichen können – die tödlichen Schüsse abgegeben und diesen Rückhalt aufs Spiel gesetzt hätten.

Hätte die Kiewer Seite ein Motiv gehabt? Die Antwort wird notwendig spekulativ ausfallen. Nicht zu bezweifeln ist, dass namentlich in den Reihen der Freiwilligenbataillone und der Nationalgarde Leute vorhanden sind, die zu ziemlich jeder Provokation bereit wären, wenn man sie ihnen befiehlt. Schließlich hat Ministerpräsident Arseni Jazenjuk mit seiner Bezeichnung der Aufständischen als »Untermenschen« (Subhumans) im Frühjahr 2014 auf der Webseite der ukrainischen Botschaft in Washington den Ton vorgegeben. Auch eine Exzesstat aus Hass gegen die Bevölkerung des Donbass, die sich beharrlich nicht von der Ukraine »befreien« lassen will, wäre denkbar. Oder ein Massaker auf einer der Transitstrecken ins von Kiew kontrollierte Gebiet, um die Bevölkerung davon abzuhalten, sich dort Löhne oder Renten abzuholen und damit den Staatshaushalt zu belasten. Absurd? Schon im letzten Frühjahr hatte im von George Soros und der Kiewer US-Botschaft finanzierten Onlinesender Bürgerfernsehen ein selbsternannter Experte erklärt, von der Bevölkerung des Donbass müssten 1,5 Millionen »verschwinden«, weil sie »überflüssig« seien. In den ukrainischen Medien mehren sich seit einiger Zeit Stimmen, die dem Donbass seinen ukrainischen Charakter absprechen – als Begleitmusik dazu, dass es faktisch nicht mehr zum Staat Ukraine gehört. Wer das praktisch ernst nimmt, könnte die Bevölkerung der Region als Freiwild ansehen.

Das Massaker auf der Straße von Mariupol nach Donezk wirft viele Fragen auf. Ob sie jemals beantwortet werden, weiß niemand. Die von Russland erhobene Forderung nach einer internationalen Untersuchung des Falls unter Leitung der OSZE liegt mehr als nahe.

Kontaktgruppe: Denkpause der Diplomatie

Ein für diesen Donnerstag geplantes Treffen der »Ukraine-Kontaktgruppe« in Kasachstan ist abgesagt worden. Wie das Auswärtige Amt in Berlin mitteilte, hätten sich die Außenminister Deutschlands, Frankreichs, Russlands und der Ukraine (Reihenfolge alphabetisch) nicht auf eine Tagesordnung einigen können. Das Treffen sei »kontrovers« verlaufen. Offenbar hatte die ukrainische Seite die russische Forderung für inakzeptabel erklärt, Vertreter der Volksrepubliken Donezk und Lugansk zu dem Treffen hinzuzuziehen. Von ukrainischer Seite hieß es dagegen, Russland sei offenbar nicht bereit, bei dem Treffen Verpflichtungen einzugehen, da es sich nicht als Konfliktpartei sehe. Die Parteien beschlossen, zunächst ein weiteres Treffen auf Expertenebene zu veranstalten, bevor man sich in dem politischen Format eines Ministertreffens wiedersehe.

Die Frage, ob und in welcher Form die Volksrepubliken zu Teilen des Friedensprozesses werden, rückt offenbar in den Mittelpunkt der Verhandlungen. Vor allem Russland tritt dafür ein, den international nicht anerkannten Volksrepubliken durch eine Einbeziehung zu einer wenigstens faktischen Anerkennung zu verhelfen. Außenminister Sergej Lawrow sagte, die Bewohner der Region müssten sich als vollgültige Teilnehmer einer Friedenslösung sehen können. Dagegen hat die Ukraine eine Anerkennung der Republiken bisher abgelehnt. Präsident Petro Poroschenko hatte am Wochenende in einem Interview mit dem französischen Fernsehsender France 24 angeboten, den Donbass zu einer Sonderwirtschaftszone mit gleichrangigen Beziehungen zur Ukraine und zu Russland zu machen. Voraussetzung wären aber »transparente« Wahlen nach ukrainischem Recht, also die Auflösung der Volksrepubliken. Vertreter letzterer lehnten diese Bedingung umgehend ab. Der Vorschlag, den Donbass zu einer Sonderwirtschaftszone zu machen, war übrigens erstmals im Sommer von russischer Seite im Kontext der Debatte um die EU-Assoziierung der Ukraine und ihre wirtschaftlichen Folgen gemacht worden. Damals war er in Kiew und im Westen auf Desinteresse gestoßen.

Die Regierung Jazenjuk wirft Russland vor, die Aufständischen in der Ostukraine in den letzten Tagen verstärkt mit militärischem Nachschub zu versorgen. Auf diese Lieferungen sind möglicherweise auch deren größere Aktivitäten in letzter Zeit zurückzuführen. Eine solche Versorgung kann aber im Kontext des Verhandlungsprozesses auch als der Versuch Russlands gesehen werden, die Volksrepubliken letztmalig mit Waffen auszustatten, bevor eine internationale Kontrolle der Grenze zwischen dem Donbass und Russland dies zumindest erschweren würde und die Republiken dann auf sich gestellt wären.
(rl)

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 15. Januar 2015


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