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Krim unter Kontrolle

Ukraine: Russische Truppen besetzen Fährhafen von Kertsch. Demonstranten stürmen Gebietsverwaltung in Donezk. Luftwaffe kündigt Kiew Gefolgschaft

Von Reinhard Lauterbach *

Auf der Krim haben russische Truppen am Montag offenbar ihre Positionen konsolidiert und bereiteten sich auf eine faktische Abtrennung der Halbinsel vom ukrainischen Staat vor. Am frühen Montag morgen besetzten Soldaten den Fährhafen von Kertsch an der Ostspitze der Halbinsel. Nach Informationen aus Kiew war eine Fahrzeugkolonne zum knapp 300 Kilometer entfernten Ort Armjansk im Nordwesten der Krim unterwegs. Dort hatten bereits vor einigen Tagen entlassene ukrainische Sonderpolizisten Straßensperren errichtet. Durch Armjansk verläuft die wichtigste Straßen- und Bahnverbindung zum Festland. Zudem soll sich das 204. Jagdflugzeugkommando der ukrainischen Luftwaffe auf die Seite der Krim geschlagen haben. Das berichtete der Rundfunksender Stimme Rußlands am Montag unter Berufung auf die Regionalregierung. Insgesamt seien inzwischen über 5000 Angehörige der Sicherheitstruppen, des Grenzschutzes und der ukrainischen Streitkräfte auf die Seite der autonomen Republik übergegangen.

In der Ostukraine haben sich nach der Eroberung der Gebietsverwaltung von Charkow durch prorussische Demonstranten die Straßenproteste in die Stadt Donezk verlagert, die Heimatregion des gestürzten Präsidenten Wiktor Janukowitsch. Mehrere hundert Demonstranten stürmten das Gebäude der Gebietsverwaltung und forderten die Abgeordneten des Regionalparlaments auf, ein Referendum über den künftigen Status der Region zu beschließen, wie es die Krim bereits für den 30. März angesetzt hat. Ihr Protest richtete sich auch gegen Andrej Taruta, einen ukrainischen Oligarchen, der in der Vergangenheit Janukowitsch unterstützt hatte. Die Kiewer Regierung hatte ihn am Wochenende als Gouverneur der Region Donezk eingesetzt. Auch andere Gouverneursposten in kritischen Bezirken der Ost- und Südukraine waren in den letzten Tagen mit prominenten Oligarchen besetzt worden. Der Deal besteht offenbar darin, daß diese – auch mit eigenem Geld – eine Abspaltung ihrer Regionen von der Ukraine verhindern sollen. Im Gegenzug würde ihnen dann ihre politische Rolle unter Janukowitsch »verziehen«.

Moskau soll einer Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zum Schutz der russischsprachigen Bevölkerung auf der Krim zugestimmt haben. Wie das Bundeskanzleramt in Berlin nach einem am Sonntag abend geführten Telefongespräch zwischen Angela Merkel und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin mitteilte, hatte die Kanzlerin einen entsprechenden Vorschlag gemacht. Russische Medien bestätigten zwar das Gespräch, erwähnten jedoch den OSZE-Aspekt nicht.

Am Montag trafen sich die EU-Außenminister zu einer Sondersitzung in Brüssel, um Sanktionen gegen Rußland zu diskutieren. Zur Debatte stand das Einfrieren der Verhandlungen über visafreien Reiseverkehr. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier betonte zugleich jedoch, die EU müsse weiter mit Moskau im Gespräch bleiben. »Europa befindet sich ganz ohne Zweifel in der schärfsten Krise seit dem Mauerfall.«

Aus Kiew kamen derweil erste versöhnliche Töne gegenüber Rußland. Interimsministerpräsident Arsenij Jazenjuk äußerte die Hoffnung, Rußland und die Ukraine hätten die schlimmste Phase ihrer Beziehungen bereits hinter sich. Er reagierte damit auf eine Erklärung seines russischen Kollegen Dmitri Medwedew, es gebe keinen russischen Beschluß, Truppen in die Ukraine zu entsenden.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 4. März 2914


Westen will Kiews Gasrechnung zahlen

G7: »Führende Industrieländer« versprechen »Regierung« der Ukraine schnelle Finanzhilfe – vom IWF **

Die (selbsternannten) sieben führenden westlichen Industrieländer (G7) wollen für die Putschisten in Kiew tief in die Tasche greifen. Das Angebot verspricht: »starke finanzielle Hilfe«. Noch in diesem Monat werde man nach Angaben der Bundesregierung dem Land auch bei der Begleichung von Schulden beim russischen Energiekonzern Gasprom helfen. Zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) sollten die unmittelbaren wirtschaftlichen Herausforderungen bewältigt werden, erklärten die G-7-Finanzminister am Montag.

Zu der Gruppe gehören neben den USA als weitaus einflußreichstem Mitgliedsland Japan, Deutschland, Frankreich, Großbrittannien, Kanada und Italien. Allein diese Aufzählung macht deutlich, daß hier eine Möchtegern-Weltregierung die Backen mächtig aufbäst. Durch die Bank alle G-7-Mitglieder haben zum Teil erhebliche Probleme, ihre eigenen Volksirtschaften auf Trab zu bringen – oder zu halten. Und Schulden ohne Ende. Aber die »Freunde« vom Majdan will man wohl unbedingt unterstützen.

»Wir verfolgen aufmerksam die Situation in der Ukraine«, heißt es in der vom Bundesfinanzministerium in Berlin veröffentlichen Erklärung. Die G-7-Länder seien sich einig, daß der IWF die am besten geeignete Einrichtung sei zur Hilfe durch politische Beratung und Finanzierung, die an notwendige Reformen gebunden sei. IWF-Hilfen seien wichtig für zusätzliche Unterstützung von der Weltbank, anderen internationalen Finanzinstitutionen der EU sowie bilateralen Hilfen.

Bereits am heutigen Dienstag wird eine Delegation des Währungsfonds in Kiew erwartet. Das Team werde bis zum 14. März im Land bleiben, um die »aktuelle wirtschaftliche Lage zu prüfen« und »über Reformen zu diskutieren, die als Grundlage für ein Hilfsprogramm dienen können«, erklärte der IWF am Montag in Washington.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 4. März 2914


Moskaus Sprungbrett

Marinestützpunkt Sewastopol: Spaltet sich die Krim von der Ukraine ab, dann hätte sich Rußland ein Gegengewicht zur NATO-Expansion im Schwarzen Meer gesichert

Von Jörg Kronauer ***


Durchaus ungewohnt klang die Forderung, mit der Frank-Walter Steinmeier am Sonntag an die Öffentlichkeit trat. Die territoriale Integrität der Ukraine müsse unbedingt gewahrt bleiben, ließ der deutsche Außenminister sich vernehmen. Die drohende Abspaltung der Krim gelte es unbedingt zu verhindern. Das ist wirklich neu: Bislang hat die Bundesrepublik die Zerteilung noch jeden Staates, der ihren machtpolitischen Plänen aus welchen Gründen auch immer im Wege stand, bejubelt und zumeist auch aktiv gefördert, wenn nötig auch mit militärischen Mitteln. Nun aber setzt Berlin ganz unschuldig auf die Einheit der politisch zutiefst gespaltenen Ukraine. Nicht nur in den sieben Ländern, in die Jugoslawien mit deutscher Hilfe zerschlagen wurde, oder im zerteilten Sudan wird sich so mancher die Augen reiben: Der deutsche Spaltungsspezialist ist im Falle der Krim zum entschlossensten Beschwörer staatlichen Zusammenhalts geworden.

Zur geostrategischen Bedeutung der Krim hat sich schon vor Jahren Zbigniew Brzezinski geäußert, der ehemalige Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter und bis heute eine der grauen Eminenzen der Washingtoner Außenpolitik. Die Abspaltung der Ukraine im Jahr 1991 habe Moskau nicht nur allgemein geschwächt, sondern es auch »seiner dominanten Stellung am Schwarzen Meer beraubt«, schrieb Brzezinski 1997 in seinem Klassiker »The Grand Chessboard« (deutsch: Die einzige Weltmacht). Das Schwarze Meer sei jedoch für Rußland hochwichtig, nicht nur »für den Handel mit der Mittelmeerregion und der Welt jenseits davon«, sondern auch als »Ausgangspunkt für die Projektion russischer Marinemacht in die Mittelmeerregion«. In der Tat: Die russischen Häfen am Polarmeer und an der Ostsee sind viel zu weit entfernt, um als Basis für Marineoperationen im Mittelmeer dienen zu können. Die Krim, weit vorgeschoben in Richtung Bosporus, kann das mit ihrem Hafen in Sewastopol aber durchaus. Dort hat denn auch die russische Schwarzmeerflotte ihren Hauptstützpunkt – und zwar seit ihrer Gründung im Jahr 1783.

In der Zeit der Systemkonfrontation konnte die Sowjetunion sich auf ihre starke Stellung im Schwarzen Meer stets verlassen; nur das NATO-Mitglied Türkei bildete ein Gegengewicht an der südlichen Küste. Dies änderte sich ab 1991 dramatisch. Als Brzezinski »The Grand Chessboard« schrieb, hielt er bereits fest, Rußland verfüge nur noch »über einen schmalen Küstenstreifen am Schwarzen Meer« und müsse darüber hinaus mit Kiew über die Stationierung der Reste seiner Schwarzmeerflotte verhandeln. Hinzu kam, daß die Schwarzmeeranrainer Rumänien und Bulgarien sich anschickten, in die westlichen Bündnissysteme überzugehen. Nachdem es dem Westen gelungen sei, »seine Agenda der neunziger Jahre umzusetzen«, könne er es »sich nun leisten, seinen geopolitischen Horizont auszuweiten«, erklärte Ronald D. Asmus, ein ehemaliger hochrangiger Diplomat des US-Außenministeriums, im Juni 2004 in der Zeitschrift Internationale Politik. Asmus teilte auch mit, worum es ihm ging. Die Schwarzmeerregion sei nicht nur ein »Punkt an der Peripherie der europäischen Landmasse«, sondern »ein Kernelement des strategischen Hinterlands des Westens« – die »Nahtstelle zwischen der transatlantischen Gemeinschaft und dem ›Größeren Nahen Osten‹«. Washington betrachtete in den Jahren, in denen es noch auf Triumphe in Afghanistan, im Irak und darüber hinaus hoffte, das Schwarze Meer gleichsam als Etappe, als zu stabilisierende Brücke aus dem sicheren europäischen Westen nach Nah- und Mittelost.

Entsprechend resümierte eine Analyse der Bertelsmann-Stiftung rückblickend im Jahr 2010, nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hätten die Vereinigten Staaten »ihre geostrategischen Interessen in der Region neu bewertet und ihrer Strategie eine militärische Dimension hinzugefügt«. Rasch wurden damals die NATO-Beitritte Rumäniens und Bulgariens (2004) durchgepeitscht, und es folgte eine Debatte über die Aufnahme zweier weiterer Schwarzmeeranrainer, Georgiens und der Ukraine, in das westliche Kriegsbündnis. Deren Folge wäre die fast vollständige Kontrolle des Schwarzen Meers durch die NATO gewesen. In diesem Fall scheiterte Washington allerdings am Widerstand Berlins, denn die Bundesrepublik sieht Osteuropa und den Kaukasus als ihr eigenes nationales Interessengebiet und war bereits mit dem über die NATO vermittelten massiven US-Einfluß in Rumänien und Bulgarien recht unzufrieden. Die Einigkeit des Westens reichte allerdings noch weit genug, um mit der »Orangen Revolution« von Ende 2004 eine prowestliche Regierung in der Ukraine durchzusetzen, die sich prompt daran machte, ein zentrales Element des russischen Einflusses im Schwarzen Meer zu unterminieren: Die Schwarzmeerflotte dürfe auf Dauer nicht in Sewastopol stationiert bleiben, forderte schon im April 2005 der soeben erst ins Amt gelangte prowestliche Außenminister Boris Tarasjuk.

Auseinandersetzungen zwischen Moskau und Kiew um die Schwarzmeerflotte waren denn auch während der Amtszeit des prowestlichen Präsidenten Wiktor Juschtschenko immer wieder virulent; und Moskau war heilfroh, als es den bis 2017 gültigen Stationierungsvertrag im Jahr 2010 mit dem soeben neu ins Amt gelangten Wiktor Janukowitsch bis 2042 verlängern konnte. Hinweise, denen zufolge auch die neue Umsturzregierung von Arsenj Jazenjuk die Frage der russischen Schwarzmeerflotte angehen wollte, sind plausibel. Da Kiew aber die Krim nicht mehr unter Kontrolle hat, spielt das womöglich keine Rolle mehr. Spaltet sich die Krim – unter enger Anlehnung an Moskau – von der Ukraine ab, dann wäre nicht nur mit dem Stützpunkt Sewastopol ein russisches Gegengewicht gegen die NATO-Expansion im Schwarzen Meer auf lange Sicht gesichert. Rußland könnte auch seine Marineaktivitäten im Mittelmeer problemlos ausweiten, um, wie es der Marineexperte Klaus Mommsen kürzlich im Gespräch mit der Deutschen Welle formulierte, »dieses Gebiet nicht der US-amerikanischen Navy« zu überlassen. Das Mittelmeer spiele »in der russischen Außenpolitik eine große Rolle«, hielt Mommsen fest – eine Einschätzung, die nicht zuletzt der Syrien-Krieg bestätigt. Freilich benötigt Moskau, um dort tätig zu werden, sein »Sprungbrett in Richtung Süden, also hin zum Mittelmeer und Nahen Osten« (Mommsen) – die Krim.

*** Aus: junge Welt, Dienstag, 4. März 2914


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