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Krim wurde zum Manövergebiet

Parlament in Simferopol besetzt / Jazenjuk führt neue ukrainische Regierung

Von Klaus Joachim Herrmann *

Die Formierung einer neuen ukrainischen Regierung wurde am Donnerstag überschattet von der verschärften Auseinandersetzung um die Halbinsel Krim.

Alles für die Einheit der Ukraine zu tun, versprach Regierungschef Arseni Jazenjuk (Vaterlandspartei) dem Parlament in Kiew. Dort wurde das ukrainische Kabinett am Donnerstag mit großer Mehrheit gewählt. Aus den drei stärksten Oppositionsparteien wurde die Koalition »Europäische Wahl«. Statt ihrer 250 erhielt der frühere Außen- und Wirtschaftsminister 371 Stimmen.

Unterstützung kann er brauchen. Die Staatskasse sei leer, wie er dem Parlament klagte. Hinzu kommt der Konflikt mit der Krim. Bürger russischer Herkunft wollen die neue Macht, die ihnen per Gesetz das Recht auf Russisch als Amtssprache nahm, nicht anerkennen. Das Volk soll voraussichtlich am 25. Mai über die Zukunft der Autonomie entscheiden. »Durch die verfassungswidrige Machtübernahme in der Ukraine von radikalen Nationalisten und mit Unterstützung bewaffneter Banden sind Friede und Ruhe auf der Krim gefährdet«, sagte eine Parlamentssprecherin.

Das Parlament in der Hauptstadt Simferopol wurde am Morgen von Bewaffneten gestürmt, die die russische Flagge hissten. Mit Tataren war es am Vortag zu Zusammenstößen vor dem Gebäude gekommen. Die Sicherheitskräfte wurden in Alarmbereitschaft versetzt. Der russischstämmige Bürgermeister von Sewastopol, Alexander Tschalyi, rief »alle Russen« auf, der Stadt zu helfen. Er war per Straßenabstimmung gewählt worden.

Russlands Präsident Wladimir Putin löste ein Manöver der im Westen und im Zentrum Russlands stationierten Streitkräfte aus. Kampfbomber seien auch an der Grenze zur Ukraine eingesetzt, hieß es. Manöver begannen in der Ost- und in der Barentssee.

Die Ukraine warnte Russland vor Truppenbewegungen auf der Halbinsel. Sollten sich Angehörige der Schwarzmeerflotte »unangemeldet außerhalb der festgelegten Zonen« bewegen, werde dies als »militärische Aggression« gewertet, sagte Übergangspräsident Alexander Turtschinow.

NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen zeigte sich bei einer Tagung der Verteidigungsminister des Bündnisses »äußerst besorgt«. Nach der »gefährlichen und unverantwortlichen« Besetzung des Regionalparlaments forderte er Russland auf, »nichts zu tun, was die Spannung verschärfen oder zu einem Missverständnis führen kann«.

Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) mahnte, es liege nicht nur im Interesse Deutschlands, sondern auch der NATO und Russlands, dass die Ukraine zurück zur Stabilität finde: »Und es kann nur gemeinsam eine Lösung geben.«

Eine Mentalität des Westens wie im Kalten Krieg, kommentierte die zentrale Zeitung der KP Chinas, führe zu unnötigen Konfrontationen mit Russland. Das EU-Parlament forderte zur Achtung der territorialen Integrität der Ukraine auf.

Der gestürzte Präsident Viktor Janukowitsch will sich Freitag in Russland vor der Presse äußern.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 28. Februar 2014


Aufbegehren auf der Krim

Prorussische Mehrheit erkennt die neue Macht in Kiew nicht an

Von Irina Wolkowa, Moskau **


Kommt es auf der autonomen Halbinsel Krim nach dem gewaltsamen Umsturz in der ukrainischen Hauptstadt zu neuem Blutvergießen?

Anstelle der ukrainischen Flagge weht auf dem Sitz des Parlaments der Krim in Simferopol die russische Trikolore. Bewaffnete hatten das Gebäude in der Nacht zu Donnerstag gestürmt. Sie bezeichnen sich als »Kräfte zur Selbstverteidigung der russischsprachigen Bevölkerung«. Verstärkung aus anderen Teilen der Halbinsel sei unterwegs, hieß es. Derweil verlautete aus Kiew, wenn die als »Terroristen« bezeichneten Kräfte das Gebäude nicht freiwillig verließen, würden ukrainische Sicherheitskräfte »das Problem lösen«.

Ungeachtet der Anwesenheit von Bewaffneten tagten am Donnerstag die Abgeordneten des Krim-Parlaments. Am Nachmittag verkündete eine Sprecherin, man habe beschlossen, das Volk in einem Referendum über die Zukunft der eigenen Autonomie entscheiden zu lassen. »Infolge der verfassungswidrigen Übernahme der Macht in der Ukraine durch radikale Nationalisten mit Unterstützung bewaffneter Banden sind Friede und Ruhe auf der Krim gefährdet«, hieß es in der Erklärung. Deshalb übernehme die Oberste Rada der Autonomen Republik die ganze Verantwortung für die Zukunft der Krim. Das Volk müsse ohne äußeren Druck über die »Vervollkommnung des Status der Autonomie und die Erweiterung ihrer Kompetenzen« abstimmen.

Ethnische Ukrainer sind mit maximal 24 Prozent auf der Krim eine Minderheit. Die Mehrheit der Krimbewohner, etwa 60 Prozent sind Russen, aber auch der Bevölkerung Russlands hatte sich nie mit dem Anschluss der Halbinsel an die Ukraine im Jahr 1954 abgefunden. Auch im Parlament in Simferopol sitzen mehrheitlich prorussische Abgeordnete.

Dritte große Bevölkerungsgruppe sind die Krimtataren. Stalin hatte sie 1944 wegen angeblicher Kollaboration mit der Wehrmacht deportieren lassen. Sie fühlen sich sowohl von Ukrainern als auch von Russen diskriminiert, sehen aber offenbar in der neuen Macht in Kiew das geringere Übel und provozierten am Dienstag Zusammenstöße mit Parteigängern Moskaus in Simferopol. Am Donnerstag reiste eine Delegation aus der russischen Republik Tatarstan an, um ihre Glaubensbrüder zu beruhigen.

Begonnen hatten die Unruhen bereits am Montag. Vor dem Bürgermeisteramt in Sewastopol, Basis der russische Schwarzmeerflotte, hatten Hunderte gegen den Machtwechsel in Kiew protestiert und mehr Autonomie für die Krim gefordert. Der radikale Flügel drohte mit der Aufstellung von Heimwehren.

Der größere Teil der Krimbevölkerung wolle sich von der Regierung in Kiew keine »neue Demokratie« aufzwingen lassen, der Westen müsse respektieren, dass auch das Volk der Krim das Recht auf freie Willensäußerung hat, erklärte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses in der russischen Duma, Alexej Puschkow, Zwar beruhigte die Föderationsratsvorsitzende Walentina Matwijenko, Russland plane keine Handlungen, die die Situation weiter anheizen, auch die Frage der vereinfachten Vergabe der russischen Staatsbürgerschaft für Krimbewohner stelle sich derzeit nicht. Doch der Westen wittert Unheil, nachdem Präsident Wladimir Putin die Überprüfung der Gefechtsbereitschaft im zentralen und im westlichen Militärbezirk angeordnet hat. Verteidigungsminister Sergej Schoigu sprach von einer lange geplanten Maßnahme, die mit der Situation in der Ukraine nichts zu tun habe. Auch sei die NATO darüber und über bevorstehende Manöver im voraus informiert worden.

Georgiens Expräsident Michail Saakaschwili, voller Sympathie für die prowestlichen Kräfte in Kiew, warnte dennoch im ukrainischen Fernsehen, Russland werde versuchen, die Krim aus der Ukraine herauszubrechen und daraus zusammen mit der Dnjestr-Republik – der von der Republik Moldau abtrünnigen Slawenregion – einen Sicherheitspuffer für seine Südwestflanke zu konstruieren.

Moskau muss vor allem befürchten, dass die neue Macht in Kiew das 2010 verlängerte Abkommen zur Stationierung der Schwarzmeerflotte auf der Krim außer Kraft setzt. Die prowestlichen Kräfte in der Ukraine pochen auf Rückkehr zu den alten Pachtverträgen, die 2017 auslaufen.

Russische Experten halten einen bewaffneten Konflikt wegen der Krim dennoch für unwahrscheinlich. Wegen der internationalen Implikationen und anderer Kollateralschäden. Aber auch, weil die Ukraine 200 000 Mann unter Waffen hat.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 28. Februar 2014


Verschenkt von Chruschtschow

Aus der Geschichte der Schwarzmeer-Halbinsel

Auf der gut 26 000 Quadratkilometer großen Krim leben derzeit etwa 2 Millionen Einwohner. Zuvor unter osmanischer Herrschaft stehend, war die größte Halbinsel im Schwarzen Meer im Jahre 1783 unter Katharina II. »von nun an und für alle Zeiten« für russisch erklärt worden. Nach der Oktoberrevolution 1917 und dem Bürgerkrieg wurde sie 1921 zur Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (ASSR) innerhalb der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) deklariert. 1945 verlor sie diesen Status jedoch und firmierte fortan nur noch als Gebiet (Oblast) der RSFSR.

1954 machte der damalige Partei- und Regierungschef der Sowjetunion, Nikita Chruschtschow, der Ukraine, in der er lange Zeit gewirkt hatte, die Halbinsel zum Geschenk. Dass Russlands Präsident Boris Jelzin die Krim bei der Auflösung der UdSSR 1991 nicht von seinem ukrainischen Kollegen Leonid Krawtschuk zurückgefordert hat, wird ihm von vielen Russen bis heute als Verrat angekreidet.

Mit starkem Druck verhinderte Kiew seinerzeit ein Referendum über die Unabhängigkeit der Halbinsel, gestand ihr aber 1992 den Status einer Autonomen Republik zu.

Nicht zum Autonomiegebiet gehört die Hafenstadt Sewastopol, die ebenso wie die Krim-Hauptstadt Simferopol mehr als 300 000 Einwohner zählt. Als regierungsunmittelbare Stadt wird Sewastopol direkt aus Kiew verwaltet.

Bereits Ende des 18. Jahrhunderts hatte Russland dort eine Marinebasis errichtet, die zum Heimathafen der sowjetischen Schwarzmeerflotte wurde. Ab 1992 bestand sie als vereinigte Flotte der Russischen Föderation und der Ukraine fort, 1995 wurden die russische Schwarzmeerflotte und die ukrainische Kriegsflotte jedoch getrennt. Einem Abkommen von 1997 zufolge pachtete Russland die Basis Sewastopol zunächst für 20 Jahre. Unter Präsident Viktor Janukowitsch wurde der Pachtvertrag, der 2017 ausgelaufen wäre, im Jahre 2010 um 25 Jahre verlängert – mit dem Recht auf weitere Prolongation um fünf Jahre. Nach russischen Angaben sind auf der Halbinsel 25 000 Flottenangehörige stationiert. In ukrainischen Hoheitsgewässern dürfen sich demnach bis zu 388 russische Schiffe befinden.



Premier Jazenjuk nennt neue Regierung »politisches Kamikaze«-Kabinett

Parlament in Kiew bestimmte mit großer Mehrheit neues Kabinett / Kein Geld in der Staatskasse und weniger Gold in den Kellern

Von Klaus Joachim Herrmann ***


Die Opposition im ukrainischen Parlament wurde zur Koalition. Deutlich mehr als ihre eigene Mehrheit stimmte für das neue Kabinett.

»Alles, was in unseren Kräften steht, und das, was für die Ukraine getan werden kann, werden wir tun«, versicherte der neue Regierungschef der Ukraine, Arseni Jazenjuk, am Donnerstag während der Parlamentssitzung. Er ließ erst das Kabinett bestätigen, dann reichte er zwei »starke« Mitglieder nach: Andrej Deschitza als Außen- und Admiral Igor Tanjuch als Verteidigungsminister.

Mehr als nur Unbehagen offenbarte der Hinweis des Premiers, des bisherigen Fraktionschefs der Vaterlandspartei im Parlament, bei der neuen Regierung handele es sich um ein »politisches Kamikaze-Kabinett«, also einen Selbstmörderklub. Diesem gehören vornehmlich Vertreter der Vaterlandspartei von Julia Timoschenko an, aber nach den bis zum Nachmittag vorliegenden unvollständigen Angaben auch mindestens drei Vertreter der rechten Ultranationalisten aus der Partei Swoboda, dazu mehrere Aktivisten vom Maidan.

Beschwerde kam allerdings sofort aus eben diesem Protestlager auf dem Unabhängigkeitsplatz. Kandidaten für Kabinettsposten hätten am Vorabend auf dem Maidan weder sich noch ihre Programme vorgestellt, beklagte der Vertreter einer Gruppierung vor Medienvertretern. Ultimativ wurden bis 5. März mehrere Gesetze gefordert, darunter die Festlegung auf eine vorgezogene Wahl der obersten Volksvertretung noch im Herbst. Ansonsten werde der Rücktritt des amtierenden Präsidenten Alexander Turtschinow angestrebt.

Im Parlament muss dem Premier, der sein Abgeordnetenmandat abgibt und nicht als Präsidentschaftskandidat antreten will, um die Mehrheit erst einmal kaum bange sein. Das neu formierte Regierungsbündnis, die Koalition »Europäische Wahl«, bringt bei insgesamt 450 Sitzen in der Obersten Rada 250 Abgeordnete und damit ein klares Übergewicht auf die Waage. Für den neuen Regierungschef stimmten sogar 371 Deputierte.

Doch damit ist noch nichts über die künftige Stabilität des Zusammenschlusses gesagt, dem vor allem die bisherigen Oppositionsparteien Vaterland (Batkiwschtschina) von Julia Timoschenko, UDAR (Schlag) von Vitali Klitschko und Swoboda (Freiheit) des Rechtspopulisten Oleg Tjagnibok angehören. Denn es stehen noch schwerere Zeiten als bisher bevor. Die Staatskasse sei »geplündert und leer«, barmte der Regierungschef, dem genauere Angaben nach eigenem Bekunden allerdings noch nicht zur Verfügung standen. Die Staatsschulden bezifferte er auf 75 Milliarden US-Dollar. Die Goldreserven des Landes hätten sich seit dem Jahre 2010 von 37 Milliarden auf 15 Milliarden US-Dollar mehr als halbiert. Unklar blieb, ob der Kursverfall des Goldes an den internationalen Märkten eingerechnet wurde. Kredite in Höhe von 37 Milliarden US-Dollar seien »in unbekannter Richtung verschwunden«.

Vielleicht kommt ihnen Arseni Jazenjuk, der die Übergangsregierung bis zu den Präsidentschaftswahlen am 25. Mai führen soll, sogar auf die Spur. Der 39-Jährige ist promovierter Wirtschaftswissenschaftler, leitete die Notenbank und war früher bereits Parlamentspräsident, Außenminister, aber auch Chef des Wirtschaftsressorts.

Russland wolle wissen, »welches Programm, darunter auch zur Stabilisierung der Wirtschaft, von dieser neuen Regierung konzipiert wird«, hatte dessen Außenminister zu Wochenbeginn wissen lassen. Er machte in diplomatischer Form sein schwer misszuverstehendes Angebot: »Jetzt ist es sehr wichtig, Bedingungen für den normalen Wiederaufbau und die Entwicklung der Wirtschaft zu schaffen. Und das erfordert einen sofortigen Stopp jeglicher Gewalt, die Wiederherstellung der Rechtsordnung und die nationale Aussöhnung.«

Die in Moskau erscheinende Zeitung »Kommersant« verbreitete, Russlands Handels- und Industriekammer solle Investoren finden, die mehr als fünf Milliarden Dollar in Projekte auf der Krim investieren. Die Investoren würden dies jedoch erst erwägen, wenn sich die politische Lage in der Ukraine beruhigt habe.

*** Aus: neues deutschland, Freitag, 28. Februar 2014


Flammende Sprache

Klaus Joachim Herrmann über die Abschaffung eines Gesetzes und die Wirkung als Brandbeschleuniger in der Ukraine ****

Das sei doch nur etwas »Überschwang« gewesen, wiegelte der EU-Abgeordnete Werner Schulz (Grüne) in gewollter Einfalt bei einem Interview ab. Gemeint war die Abschaffung des ukrainischen Sprachengesetzes auf Initiative rechter Ultranationalisten und mit jener neuen Parlamentsmehrheit, die Umstürze so mit sich bringen. Auf der Krim wurde die Botschaft als Angriff auf verbriefte Rechte verstanden. Dort geriet »flammende Sprache« – ein ansonsten kräftiges Sprachbild – ganz im Wortsinne in die Wirklichkeit.

Denn die Abschaffung der Möglichkeit, Russisch regional zur zweiten Amtssprache zu erklären, konnte im ukrainischen Osten und Süden sowie überall im Lande nur als Machtdemonstration und Provokation der neuen Machthaber gegen die russischen Mitbürger verstanden werden. Wenn es um Sprache geht, geht es immer um Menschen – in diesem Falle Russen, ihre Geschichte, ihre Gegenwart, ihre Identität, ihren Stolz. Aus Kiew wurde gegen sie die nationalistische Brandfackel geschleudert. Die entzündete erst einmal die Halbinsel Krim. Doch es könnte ein größerer Brand werden. Die Bürger sollen über die Zukunft ihrer Autonomie abstimmen und die Schutzmacht zeigt schon mal die Waffen.

**** Aus: neues deutschland, Freitag, 28. Februar 2014 (Kommentar)


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