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Kleine Kriege im großen Konflikt

Nach Verhandlungen zwischen USA und Russland in London: Das Referendum findet statt / Spannung auf der Krim

Von Klaus Joachim Herrmann *

Die Halbinsel Krim näherte sich mit zunehmenden Spannungen dem Referendum über die Anbindung an Russland. Der Konflikt vergiftet zunehmend Politik und Alltag.

Wie unlängst Kiew, so entledigte sich am Freitag auch das Parlament in Simferopol eines unerwünschten Symbols. War in der ukrainischen Hauptstadt der goldene fünfzackige Stern über der Werchowna Rada aus der Halterung gehämmert worden, so verschwand am Gebäude in der Krim-Hauptstadt das ukrainische Wappen.

Nicht nur um die Hoheit über die Symbole wird zwischen den beiden widerstreitenden Hauptstädten gestritten, sondern auch um die Informationen. Die Internetagentur Novoross.info richtete dafür die Rubrik »Krimfront des informationellen Widerstandes ein«. Hier heißt die Kiewer Regierung »Junta«. Die ukrainische Agentur Unian ihrerseits nennt die Mitglieder des Präsidiums des Krim-Parlaments »Separatisten«.

Der Konflikt um die Ukraine, Russland, USA, EU und Krim breitet sich immer weiter in den Alltag aus und vergiftet nicht nur die Politik. So wurde mitgeteilt, 347 Kabelanbieter hätten russisches Fernsehen aus dem Angebot genommen oder in teurere Pakete verfrachtet. Die staatliche Wasserversorgung erinnerte die Krim demonstrativ daran, dass sie ihr Wasser zu 85 Prozent über den Nord-Krim-Kanal aus der Ukraine bekomme. An eine Unterbrechung sei aber nicht gedacht, hieß es nur äußerlich beruhigend. »Denn sie würde eine Katastrophe bedeuten.«

Dieser suchten in anderen Maßstäben Russlands Außenminister Sergej Lawrow und sein US-Kollege John Kerry bei Gesprächen in London auszuweichen. Sie fingen bescheiden an. Lawrow beklagte eine »schwierige Situation«. Kerry wollte »einige unserer Differenzen« beilegen. Die größte war die Abspaltung der Krim von der Ukraine. Pressekonferenzen wurden Stunde um Stunde verschoben. Doch dann erklärte Lawrow: Das Referendum findet statt. Russland habe die Krise nicht verursacht.

Ein ranghoher Vertreter des US-Außenministeriums hatte vor den Gesprächen in London erklärt, die USA würden Russland das »bestmögliche Angebot für eine Deeskalation« unterbreiten. Dies gelte aber nur im Rahmen einer »geeinten und souveränen Ukraine«. Einen »Dreiklang« steuerte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei: Gespräche, Hilfen für die Ukraine und auch Sanktionen gegenüber Russland. Das Ergebnis der Volksabstimmung sei »irrelevant«.

Die Entwicklung im Osten der Ukraine ließ Besorgnisse wachsen. Nach blutigen Zusammenstößen zwischen prorussischen und proukrainischen Demonstranten in Donezk erklärte das Außenministerium in Moskau, Russland behalte sich das Recht vor, seine Landsleute in der Ukraine zu schützen. In der russisch geprägten Stadt Donezk hätten »Rechtsradikale friedliche Demonstranten« angegriffen. Die Eskalation mit einem Toten und 16 Verletzten zeige, dass die ukrainische Regierung die Lage nicht im Griff habe.

Das fürchten ihrerseits die Krim-Tataren. Deren Anführer Mustafa Dschemilew rief über AFP zum Boykott der Volksabstimmung auf. Die NATO solle, wie im Fall Kosovo militärisch auf der Krim intervenieren, um »ein Massaker« zu verhindern. Washington prüfe Anfragen der Ukraine auf militärische Unterstützung, hieß es unter Berufung auf das Pentagon. Eine endgültige Entscheidung zur Militärhilfe für Kiew sei noch nicht gefallen. Das »Wall Street Journal« hatte zuvor berichtet, die US-Regierung habe das Gesuch, Waffen und Munition in die Ukraine zu senden, vorerst abgelehnt, um die Spannungen mit Russland nicht anzuheizen. Das Hilfsgesuch fiel kaum zufällig mit dem Besuch des Chefs der ukrainischen Interimsregierung, Arseni Jazenjuk, in den USA zusammen.

Für zusätzliche Aufregung könnte ein neuer Hinweis auf die Todesschützen vom Kiewer Maidan sorgen. So verbreitete der russische TV-Auslandskanal Russia Today, die Scharfschützen hätten vom Dach der von der Opposition und dem »Kommandanten des Maidan«, dem heutigen Chef des Nationalen Sicherheitsrates, Andrej Parubi, »vollständig kontrollierten« Philharmonie am Unabhängigkeitsplatz gefeuert. Als Zeugen zitierte der Sender Alexander Jakimenko, früherer Chef des ukrainischen Sicherheitsdienstes. Bei den Anschlägen, die Dutzende Demonstranten und Sicherheitskräfte das Leben kosteten, sollen US-Spezialkräfte die Einsätze koordiniert haben.

Die russischen Behörden leiteten zudem Verfahren gegen führende ukrainische Nationalisten ein. Der Chef der rechten Partei Swoboda (Freiheit), Oleg Tjagnibok, solle sich wegen der Teilnahme an Kämpfen gegen russische Soldaten in der Kaukasus-Republik Tschetschenien Mitte der 90er Jahre verantworten, teilte der Vorsitzende des Ermittlungsausschusses, Wladimir Markin, in Moskau mit. Das Verfahren richte sich auch gegen den Chef der rechtsextremen Partei Prawy Sektor, Dmitro Jaroch.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 15. März 2014

Zwei Fragen am Sonntag

Für die »Krimskaja Prawda« ist das Ergebnis klar. Derweil auf der Titelseite auch in klassischer Ausführung »Mutter Heimat« zur Teilnahme am Referendum über den künftigen Status aufrief, grüßte die auf der Schwarzmeer-Halbinsel erscheinende Zeitung bereits am Freitag demonstrativ »Guten Tag, Russland!«

Gestellt werden in den drei Sprachen Russisch, Ukrainisch und Krimtatarisch zwei Fragen:

»Sind Sie für die Wiedervereinigung mit Russland als Subjekt der Russischen Föderation?«

»Sind Sie für die Wiederinkraftsetzung der Verfassung der Republik Krim von 1992 und den Status als Subjekt der Ukraine?«


Die Fragen sind alternativ gestellt, eine ist anzukreuzen. Werden keine oder beide angekreuzt, ist die Stimme ungültig. Die abgeschaffte Verfassung von 1992 gab der Krim als Autonomie großen Spielraum, einschließlich der Gestaltung ihrer »Außenbeziehungen«.

Am 11. März erklärte der Oberste Sowjet, das Parlament in der Hauptstadt Simferopol, bereits die Unabhängigkeit der Republik mit ihren rund 2,3 Millionen Einwohnern von der Ukraine. Die Ukraine selbst war mit der Krim, die ihr 1954 von der Sowjetführung zugeordnet worden war, 1991 im Zuge des Zerfalls der UdSSR selbstständig geworden. Heute leben auf der Krim 60 Prozent Russen, 25 Prozent Ukrainer und 12 Prozent Krimtataren.

Nach einer Umfrage des Institutes der Krim für Politische und Soziologische Forschungen sprachen sich zwischen 8. und 10. März 77 Prozent der Bürger der Krim für die Wiedervereinigung mit Russland und 8 Prozent für die Wiederherstellung des Status in der Ukraine nach der Verfassung von 1992 aus.

Die mehr als 1000 Abstimmungslokale sind am Sonntag von 7 Uhr bis 19 Uhr (MEZ) geöffnet. Offizielle Ergebnisse sind von der Wahlkommission für Montagmorgen angekündigt. khe



Abstimmung auf der Krim

Bewohner entscheiden am Sonntag über Zukunft der Halbinsel. Boykottaufrufe von Tataren und Ukrainern. Toter bei Zusammenstößen in Donezk

Von Reinhard Lauterbach **


Rund 1,5 Millionen Bewohner der Krim am Schwarzen Meer sind am Sonntag aufgerufen, über die politische Zukunft der Region abzustimmen. Zur Wahl stehen zwei Alternativen: der Beitritt zur Russischen Föderation oder die Rückkehr zur Verfassung von 1992, die umfassendere Autonomierechte für die Krim vorgesehen hatte als die zuletzt geltende. Die Wiederherstellung des Status quo der letzten Jahre ist als Variante nicht vorgesehen. Die neue Regierung der Krim, die sich als Reaktion auf den Putsch in Kiew gebildet hatte, wollte das Referendum ursprünglich am Tag der ukrainischen Präsidentschaftswahl, dem 25. Mai, durchführen, zog den Termin jedoch zweimal vor.

Wie die Abstimmung ausgeht, ist de facto allen Beteiligten egal, offenbar selbst den Organisatoren. Der stellvertretende Ministerpräsident der Krim, Rustam Temirgalijew, erklärte, er rechne mit einer Zustimmung von etwa 85 Prozent für den Vorschlag des Beitritts zu Rußland. Interessanter wird die Wahlbeteiligung sein. Die Führer der Krimtataren haben ihre Anhänger zum Boykott aufgerufen. Spannender ist, ob auch die etwa 25 Prozent Ukrainer auf der Halbinsel den Urnen fernbleiben. Der Chef des »Kongresses der Ukrainer im Krimsüden«, Miroslaw Misjak, kündigte einer Meldung von Radio Ukraine International zufolge jedenfalls an, die Befragung zu ignorieren. Die Machthaber in Kiew haben sie für illegal erklärt und die Auflösung des Regionalparlaments angedroht.

Von der Krim selbst wurde in den letzten Tagen von Hamsterkäufen und langen Schlangen vor den Geldautomaten berichtet. Die Regierung der autonomen Republik hat angekündigt, im Fall eines Abstimmungserfolges sehr schnell den Rubel als Landeswährung einzuführen und schon die Aprilgehälter in russischem Geld zu bezahlen.

In Donezk ist bei Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern des neuen Kiewer Regimes am Donnerstag mindestens ein Mensch getötet worden. Nach Angaben örtlicher Medien hatten prorussische Demonstranten eine Polizeikette durchbrochen und sich eine Straßenschlacht mit »Verteidigern der Einheit der Ukraine« geliefert. Bei dem Toten handelt es sich um einen Funktionär der neofaschistischen Swoboda-Partei.

In London kamen am Freitag US-Außenminister John Kerry und sein russischer Amtskollege Sergej Lawrow zusammen, um die Lage zu besprechen. Konkrete Ergebnisse gab es nicht. In Kiew begann die Aufstellung der am Donnerstag vom Parlament beschlossenen Nationalgarde (jW berichtete). Sie soll bei »inneren Unruhen« und zum Grenzschutz eingesetzt werden. Als erste wurden 500 Angehörige der »Selbstverteidigung« des Kiewer Maidan vereidigt und zur militärischen Grundausbildung verabschiedet.

In Österreich nahm die Polizei einen der größten ukrainischen Oligarchen fest. Wie ein Sprecher in Wien bestätigte, folgten die Behörden damit einem Haftbefehl aus den USA. Der Gashändler Dmitri Firtasch wird von den USA seit 2006 wegen »Korruption und Bildung einer kriminellen Vereinigung« gesucht. Es dürfte mit dem Sanktionshype zusammenhängen, daß sich Österreich gerade jetzt entschlossen hat, dem nordamerikanischen Ansinnen Folge zu leisten. Firtasch gilt als Mann mit besten Verbindungen nach Moskau. Seine Verhaftung soll offensichtlich den mit dem Kreml zusammenarbeitenden russischen Oligarchen zeigen, was ihnen blühen könnte.

** Aus: junge Welt, Samstag, 15. März 2014


Flaggentausch im stolzen Charkow

Mal demonstriert man unter ukrainischen Farben, beim nächsten Mal unter russischen

Von Ulrich Heyden, Charkow ***


Auseinandersetzungen zwischen prorussischen und proukrainischen Kräften im ostukrainischen Donezk forderten am Donnerstagabend ein Todesopfer. Ruhiger ging es am gleichen Tag in Charkow zu.

10 000 Menschen sammelten sich am Donnerstag auf dem Freiheitsplatz von Charkow, der früher Lenin-Platz hieß und den bis heute ein riesiges Denkmal des Gründers der Sowjetunion überragt. Solidarität mit Bürgermeister Gennadi Kernes ist das Motto der Demonstration. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft – geleitet vom Mitglied der rechtsradikalen Partei »Swoboda«, Oleg Machnitski – hat gegen das Oberhaupt der überwiegend russischsprachigen ostukrainischen Industriestadt Ermittlungen wegen einer angeblichen Entführung eingeleitet und Hausarrest für Kernes beantragt.

Die sich auf dem großen Platz zwischen Gebietsverwaltung und dem Lenin-Denkmal versammelt haben, sind der Meinung, dass das Ermittlungsverfahren allein politische Gründe hat. Kernes hatte zusammen mit dem inzwischen abgesetzten Gouverneur des Gebietes Charkow, Michail Dobkin, nach dem Umsturz in Kiew einen Kongress der russischsprachigen Gebiete in der Ukraine organisiert, auf dem die Selbstverwaltung dieser Regionen beschlossen wurde – ein Affront gegen die neue Regierung in Kiew. Doch an den veränderten Machtverhältnissen in der Ukraine kommen auch die ostukrainischen Kritiker nicht vorbei, die von der neuen Regierung als einer »faschistischen Junta« sprechen. Geheimdienst und Polizei erfüllen auch im Osten des Landes ohne Wenn und Aber die Anweisungen aus Kiew.

Der Sohn ist Polizist, die Mutter demonstriert

In der Ukraine spielen sich jetzt menschliche Dramen ab. Irina, eine Elektroingenieurin, erzählt am Rande der Kundgebung, ihr Sohn stehe jetzt mit Helm und Schutzschild vor der Gebietsverwaltung und schütze die neue Macht, gegen die seine Mutter demonstriere.

Doch viele Polizisten in Charkow und sogar örtliche Staatsanwälte seien nicht mit dem Herzen bei der Sache, erklärt mir eine stark geschminkte Unternehmerin im schwarzen Pelz, die einen Laden in Charkow betreibt und ebenfalls an der Kundgebung für den Bürgermeister teilnimmt. Die Demonstrationen auf dem Kiewer Maidan hätten als Kampf gegen die Korruption begonnen. Das sei »gut und notwendig« gewesen. Doch dann sei alles in eine extremistische, antirussische Richtung ausgeartet.

Während viele Kundgebungen in den letzten Wochen auch in Charkow unter russischen Farben abliefen, fehlen die weiß-blau-roten Flaggen an diesem Tag vor dem Lenin-Denkmal. Man wolle der neuen Macht in Kiew keine Handhabe geben, Bürgermeister Kernes als »Separatisten« und »von Russland gesteuert« in die Ecke zu stellen, erklärt mir ein Kundgebungsteilnehmer. Stattdessen wehen über Lehrerinnen, Trolleybusfahrerinnen und Arbeitern von Staatsbetrieben, die zum Demonstrieren frei bekommen haben, diesmal blau-gelbe ukrainische Flaggen.

»Von Angela Merkel bin ich schwer enttäuscht«

Charkows Innenstadt ist voller schöner Bauten aus dem 19. Jahrhundert. Doch vor der Gebietsverwaltung, einem großen, gelben Bau mit neoklassizistischen Säulen, wird man mit der ukrainischen Realität konfrontiert: Junge Polizisten mit schwarzen Helmen, Beinschutz und Aluminiumschilden schirmen die Verwaltung in mehreren dicht gestaffelten Ketten ab. Die Polizisten – die meisten nicht älter als 25 Jahre – sind jedoch locker drauf. Sie lächeln und haben nichts gegen ein Foto. Die jungen Männer beschützen den neuen, von Kiew eingesetzten Gouverneur Igor Baluta. Dessen Vorgänger Michail Dobkin steht seit Dienstag in seiner Kiewer Wohnung wegen Unbotmäßigkeit unter Hausarrest. Dem neuen Gouverneur wird ein Millionen-Dollar-Vermögen nachgesagt. Ob es gut ist, wenn Oligarchen und Großunternehmer im Osten der Ukraine als Gouverneure herrschen, wird sich zeigen.

Der Korrespondent aus Deutschland wird von einer Gruppe wild gestikulierender Frauen um die 50 mit Vorwürfen und Fragen bestürmt. »Woher kommen Sie?«, fragen die Frauen immer wieder misstrauisch. Mit einer Journalistin aus Polen hätten sie schon schlechte Erfahrungen gemacht. Die habe »alles verdreht«. Für die Charkowerinnen ist klar: In Kiew sind Faschisten an die Macht gekommen. Und denen werde man sich auf keinen Fall unterordnen. »Angela Merkel fand ich immer gut«, ruft eine ältere Frau, »aber seit sie den Maidan unterstützt, bin ich schwer enttäuscht.« Eine andere fragt mit zornesrotem Gesicht: »Warum mischt sich Deutschland bei uns ein?«

Man sieht den Frauen an, dass sie in ihrem Leben schon einiges durchgemacht haben: die Arbeitslosigkeit in den 90er Jahren, ständige Krisen und Unsicherheiten. Und auch jetzt müssen sie bei Löhnen zwischen umgerechnet 160 und 300 Euro jeden Griwna mehrmals umdrehen. Die Frauen stehen noch – wie man so sagt – unter Dampf. Nach der Schimpfkanonade auf die Bundeskanzlerin kommt der neue ukrainische Innenminister Arsen Awakow an die Reihe. Der ist Mitglied von Julia Timoschenkos Partei »Vaterland« und war bis 2010 Gouverneur des Gebiets Charkow. Mit der Absetzung seines Nachfolgers Dobkin habe der neue Innenminister eine alte Rechnung beglichen, schimpfen die Frauen. Awakow – das steht für sie fest – war korrupt. Er habe sich am Verkauf städtischen Bodens bereichert und sich dann nach Italien abgesetzt, wo er von 2010 bis 2012 lebte. Dort hat er »unser Geld verprasst«, sind sich die Frauen sicher. Ihre Wut scheint grenzenlos. Und nun sei »dieser Betrüger« auch noch Innenminister. Nach Angaben der ukrainischen Internetzeitung »Fokus.ua« gehört Awakow mit einem Vermögen von 98 Millionen Dollar zu den 200 reichsten Männern der Ukraine.

»Ob noch einmal Blut fließen wird? Wahrscheinlich ja«

Für das Wochenende sind in Charkow neue Großdemonstrationen angekündigt. Dann geht es nicht mehr um den Bürgermeister, sondern darum, eigene Stärke zu zeigen, erklärt Elektroingenieurin Irina. Wieder werde es ein Meer von russischen Fahnen geben. »Wenn Russland nicht wäre, würde man über unsere Interessen einfach hinweggehen«, sagt die Frau mit ruhiger Stimme.

»Ob in der Ukraine noch einmal Blut fließen wird? Wahrscheinlich ja«, fürchtet Irina. Aber das ist nur so ein Gefühl der Angst. Genaues kann sie nicht sagen. Man ist heute in Charkow auf Allerlei gefasst.

»Wer hätte denn den Umsturz in der Ukraine vor zwei Monaten für möglich gehalten«, fragt sich Sergej Kirichuk, Koordinator der Linksorganisation »Borotba« (Kampf). Kirichuk kommt aus der Hauptstadt Kiew, ist aber von dort mit ein paar Genossen nach Charkow geflüchtet. »Für uns ist es heute in Kiew gefährlich«, sagt der 32-Jährige, dessen Organisation – eine Abspaltung von der KP der Ukraine – über 1000 Mitglieder haben soll. So viel steht fest: Am Sonnabend und Sonntag werden Borotba und die KPU vor dem Lenin-Denkmal für eine Autonomie und die Selbstverwaltung der Ostukraine demonstrieren.

Nein, die Europäische Union biete Charkow keine wirtschaftliche Perspektive, hatte mir schon Andrej erklärt, ein Taxifahrer. Für Charkow mit seinen 1,4 Millionen Einwohnern und den vielen Großbetrieben, die Waggons, Turbinen und Generatoren produzieren, sei Russland der einzige sichere Absatzmarkt. »Unsere Produkte erfüllen die Standards der EU nicht.«

*** Aus: neues deutschland, Samstag, 15. März 2014


"Wir wollen hier keinerlei Extremisten"

Führer der Kommunisten auf der Krim: Neue Machthaber in Kiew missachten in eklatanter Weise den Bevölkerungswillen ****

Oleg Solomachin ist 1. Sekretär der Kommunistischen Partei der Ukraine auf der Krim. Nach seiner Sicht auf die Ereignisse auf der Halbinsel befragte ihn für »nd« Tina Schiwatschewa.

Können Sie uns die Lage auf der Krim beschreiben? Was passiert bei Ihnen?

Die westlichen Medien zeichnen ein schiefes Bild von der Lage auf der Krim – als tobe hier ein Bürgerkrieg und die Leute schössen aufeinander. Aber das widerspiegelt nicht die Wirklichkeit. Einige Agenturen wollen die Situation offenbar anheizen und die Weltmeinung auf ihre Seite ziehen, indem sie ihre Vorurteile verbreiten. Bei uns auf der Krim ist es friedlich. Die Leute sind auf den Straßen, das Wetter ist gut. Militär ist nicht sichtbar. Alles ist ruhig. Unter unseren Fenstern stehen keine Panzer. Wer es nicht glaubt, soll herkommen und sich selbst umsehen.

Was ist mit den Soldaten, die auf der Krim stationiert sind?

Es gibt Zugangskontrollen, und es gibt eine Menge Militärgarnisonen, aber wir – die Normalbürger – bemerken sie kaum. Sie bleiben in ihren Stützpunkten. Es gibt aber sehr wohl Leute, die Selbstschutzgruppen gegen Extremisten gebildet haben. Wir wollen hier keinerlei Extremisten.

Wie steht die Öffentlichkeit zu dem Referendum, das am Sonntag stattfinden soll?

Alle soziologischen Umfragen besagen, dass mehr als 70 Prozent der Befragten für die Unabhängigkeit und für Russland sind. Die Behandlung der Krim durch Kiew hat die Leute in dieser Meinung nur noch bestärkt. Erstens sind die Nationalradikalen in der gegenwärtigen Ukraine zu stark vertreten. Zweitens, ebenso wichtig, missachtet Kiew auf eklatante Weise den Willen der Krim-Bevölkerung: Der nicht gewählte ukrainische Präsident Oleksander Turtschinow hat die Wahl Sergej Aksjonows zum Vorsitzendenden des Ministerrats der Autonomen Krim-Republik für verfassungswidrig erklärt. Die Strafanklagen gegen populäre Politiker der Krim wie Aksjonow und Parlamentspräsident Wladimir Konstantinow haben die Bevölkerung hier weiter aufgebracht. Denen in Kiew ist offenbar alles gestattet, aber anderen wird gar nichts erlaubt.

Wie verhalten sich die kommunistischen Abgeordneten der Werchowna Rada in Kiew?

Unsere Abgeordneten verweigern im Moment jegliche Stimmabgabe. Die KPU-Fraktion wird so lange nicht abstimmen, wie die Parteibüros und der Parteibesitz, die in der Westukraine und in Kiew von Rechtsextremisten besetzt und geraubt wurden, nicht zurückerstattet werden. Es gab dort Gewaltakte und Drohungen gegen Mitglieder unserer Partei. Solange das anhält, machen wir keine Abstimmung mit.

Womit beschäftigt sich der Werchowna Rada denn gerade?

Man muss wissen: Die Ukraine befindet sich im Stadium des wirtschaftlichen Bankrotts. Wir müssten unseren Gläubigern sofort nicht weniger als 11 Milliarden US-Dollar zurückzahlen. Im April wird der Gaspreis überdies von 268,50 Dollar pro Tausend Kubikmeter auf 420 Dollar steigen. Jetzt sind wir der Gnade des Internationalen Währungsfonds ausgeliefert. Der will uns 15 Milliarden Dollar Kredit geben, fordert aber Strukturreformen. So sollen wir den Endverbraucherpreis für Gas erhöhen, wodurch der Lebensstandard drastisch sinken würde. Es gibt Pläne, die verfassungsmäßige Garantie für eine unentgeltliche Gesundheitsversorgung abzuschaffen. Die Renten für Rentner, die noch arbeiten, sollen um 50 Prozent gekürzt werden. Aber die arbeiten doch nur, um ihr ohnehin miserables Einkommen aufzubessern.

Die eine Milliarde Dollar, die uns die USA versprochen haben, wird uns nicht retten. Das Industriepotenzial der Ukraine ist zerstört. Offenbar braucht man das Land jetzt nur noch als Rohstoffquelle, als Anhängsel der Industriewirtschaften. Die Menschen hier werden nicht gebraucht.

Großen Einfluss auf die ukrainische Politik haben die Oligarchen ...

Die haben ihre eigenen Regeln. Die Macht wird jetzt neu unter ihnen aufgeteilt. Oligarchen, die den Maidan unterstützt haben, werden mit Gouverneursposten in der Ostukraine belohnt.

**** Aus: neues deutschland, Samstag, 15. März 2014


Preis später Erkenntnis

Klaus Joachim Herrmann über die Krim *****

Niemand konnte ernstlich glauben, das Referendum über die Hinwendung der Krim zu Russland sei noch zu verhindern. Moskau rettet in blanker Krisenlogik eben noch schnell das, was es glaubt, retten zu müssen. In Sicherheit gebracht werden nicht nur Landsleute, sondern Kampftechnik, Stützpunkte und ein geostrategischer Vorteil. Mitgespielt haben dürfte im Kreml auch das Wissen darum, dass sich eine solche Gelegenheit zur Rückholung gewesenen Eigentums kaum jemals wieder bieten werde.

Denn plötzlich wurden Argumente des Kreml in der Krise um die Ukraine nicht nur gehört. Sie wurden ernst genommen. Ausgerechnet das Weiße Haus forderte am Vorabend der Abstimmung, die internationale Gemeinschaft solle anerkennen, dass Russland »legitime Interessen« und eine Marinebasis in der Ukraine habe. Es wurde sogar festgestellt, dass beide Länder tiefe kulturelle und historische Bindungen hätten, in der Ukraine viele ethnische Russen leben. Eine »robuste« Überwachungsmission zur Sicherung sowohl ukrainischer als auch russischer Interessen kam ins Spiel.

So wäre wohl alles verhandelbar gewesen. Doch im Gezerre um die Ukraine war Moskau dem Westen in aller Arroganz und Ignoranz zu lange nicht das Gespräche über die Zukunft seines Nachbarn wert. In der Eskalation nahmen die Dinge zerstörerischen Lauf. Die Krim erweist sich als sehr hoher Preis einer hoffentlich nicht völlig zu späten Erkenntnis: Eine Lösung für Europas Zukunft gibt es nur mit Russland.

***** Aus: neues deutschland, Samstag, 15. März 2014 (Kommentar)


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