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"Die Leute sind den Krieg leid"

Volksrepublik Donezk ruft ukrainische Führung zu Dialog auf. Kanzlerin Merkel darf Washingtons Konfrontationskurs nicht nachgeben. Ein Gespräch mit Denis Puschilin *


Denis Wladimirowitsch Puschilin ist stellvertretender Parlamentsvorsitzender der international nicht anerkannten Volksrepublik Donezk.

Denis Wladimirowitsch, wie ist im Moment die Situation vor Ort im Donbass?

Wir sind natürlich sehr beunruhigt durch das, was zuletzt in der Werchowna Rada passiert ist. Zu unserem großen Bedauern ist die Ukraine dabei, sich im Zuge ihres eigenen Verfalls von den Minsker Vereinbarungen zu verabschieden. Die Rada hat unabgesprochene Nachbesserungen am Gesetz über den Sonderstatus unserer Region beschlossen, das im Prinzip schon im September vereinbart und im November im Detail abgesprochen worden war. Die Änderungen höhlen diesen Status aus.

Das heißt, Sie waren seinerzeit einverstanden mit regionalen Wahlen nach ukrainischem Recht, und jetzt verlässt die Ukraine diese Position?

Die Novemberfassung dieses Gesetzes passte uns. Das einzige, was dort noch fehlte, war eine Liste der Ortschaften, für die der Sonderstatus gelten sollte. Und die Vereinbarungen vom 12. Februar (Minsk II – jW) verpflichteten die Ukraine, innerhalb von 20 Tagen vom Parlament eine solche Liste beschließen zu lassen. Das ist bis heute nicht passiert. Was die Ukraine jetzt beschlossen hat, ist nicht nur nicht von den Zeitvorgaben des Minsker Waffenstillstandsabkommens gedeckt, sondern es passt uns auch nicht. In Punkt zwölf der Minsker Vereinbarung heißt es, dass alle Änderungen der Wahlordnung und alle Einzelheiten mit Vertretern unserer Region abgestimmt werden müssen.

Lohnt es, sich wegen ein paar Tagen Verzögerung aufzuregen? Schließlich ist der Abzug der schweren Waffen auch nicht fristgerecht zustande gekommen, und dann ist er doch passiert.

Die Verzögerung um einige Tage ist in der Tat nicht das wichtigste Problem. Damit hätten wir leben können, und das stellt die Minsker Vereinbarung nicht in Frage. Doch der Inhalt dieser nachträglichen Änderungen am Gesetz über den Sonderstatus des Donbass macht das ganze Gesetz unausführbar. Es wird nie in Kraft gesetzt werden. Die Ukraine selbst wird dieses Gesetz niemals umsetzen.

Wird wenigstens der Waffenstillstand vor Ort eingehalten, oder wird derzeit weiter geschossen?

Geschossen wird an zwei Stellen: am Flughafen von Donezk und in Schirokino östlich von Mariupol. Dort sind Freiwilligenbataillone eingesetzt, die von der ukrainischen Seite kaum kontrolliert werden. Am Flughafen ist das der Rechte Sektor, in der Gegend von Schirokino das Bataillon »Asow«. Dort gibt es ständig Provokationen, und das ruft als Resultat den Widerstand unserer Seite hervor. An den anderen Abschnitten der Waffenstillstandslinie, da, wo reguläre ukrainische Truppen stehen, herrscht im Moment völlige Ruhe.

Die Ukraine wirft Ihrer Seite ebenfalls Provokationen und Verletzungen der Waffenruhe vor.

Auf unserer Seite arbeitet die Beobachtungsmission der OSZE, die hat Zugang praktisch zum gesamten Territorium, das wir kontrollieren, und kann sich selbst ein Bild machen. Wir haben als nächsten Schritt die Etablierung einer Pufferzone vorgeschlagen, die vollständig von der OSZE kontrolliert werden soll, mit Drohnen und dergleichen. Dann sollte es ja wohl möglich sein festzustellen, wer jeweils als erster die Waffenruhe bricht.

Wie schätzen sie überhaupt die Rolle der OSZE in diesem Konflikt ein?

Sie ist ganz klar nützlich, auch wenn wir nicht immer in allem einer Meinung sind. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt sehe ich zur Präsenz der OSZE keine Alternative.

Die OSZE beschwert sich in ihren laufenden Berichten immer wieder darüber, dass Ihre Seite die Beobachter nicht dorthin lasse, wohin sie wollten, und dass deshalb nicht klar sei, wohin die schweren Waffen geschafft worden seien.

Wenn sie irgendwohin nicht gelassen werden, dann nur deshalb, weil Transparenz keine Einbahnstraße sein kann. Auf der ukrainischen Seite haben sie überhaupt nirgendwohin Zutritt. Unsere Kommandeure informieren die OSZE auf freiwilliger Grundlage. So eine Beobachtung kann nur funktionieren, wenn sie auf beiden Seiten möglich ist.

Jenseits dessen, was von Tag zu Tag passiert: Wie sehen Sie die Perspektiven der ostukrainischen Volksrepubliken – völlige Unabhängigkeit, Beitritt zu Russland, irgendeine dritte Variante?

Wenn Sie unsere Bevölkerung fragen, dann ist die absolute Mehrheit für eine Vereinigung mit Russland. Doch hier gibt es einige Momente, die man berücksichtigen muss. Natürlich muss alles mit internationalen Normen im Einklang stehen. Der Minsker Prozess war geeignet, auch die politische Situation zu klären. Würde er eingehalten, so wie er am 12. Februar vereinbart wurde, dann wäre ein weicher Übergang mit einer Autonomieregelung möglich gewesen, der auch die territoriale Integrität der Ukraine nicht verletzt hätte. Jetzt aber sehen wir, dass die Ukraine zu politisch-diplomatischen Provokationen greift: Sie beschließt irgendetwas, aber überhaupt nicht das, was in Minsk vorgegeben wurde. Dadurch steht die Zukunft unter einem sehr großen Fragezeichen.

Aber können Ihre Gebiete ohne die Ukraine überleben?

Selbstverständlich können sie das.

Das wundert mich. Ihre Industrie ist darauf angelegt, mit der Ukraine zusammenzuarbeiten, der ganze Rohstoff für Ihre Metallindustrie kommt aus dem Kriwbass, und das ist jetzt alles unterbrochen, überwiegend auf Initiative der Ukraine, die den Donbass isolieren will. Von welcher Perspektive reden wir hier?

Die fertige Produktion unserer Region war auch vorher schon in großem Umfang auf die Märkte Russlands und der anderen Staaten der Zollunion orientiert. Die Unterzeichnung des wirtschaftlichen Teils des Abkommens mit der EU hätte unsere Produktionskapazitäten auf jeden Fall zerschlagen. Wir haben dort viele sogenannte stadtbildende Unternehmen. Nehmen Sie die Stadt Slawjansk, von der Sie sicher gehört haben: 80 Prozent der dortigen Produktion gingen traditionell auf den russischen Markt. Das Abkommen mit der EU hätte diese Stadt zum Aussterben verurteilt und die Leute zur Abwanderung, denn eine andere Arbeit in der Region hätten sie nicht gefunden. In die EU hätte man die Produkte der Fabriken von Slawjansk nicht verkaufen können, weil sie weder von der Qualität noch von den Industrienormen her mit den europäischen Vorschriften übereinstimmten. Was unsere Kohle angeht, so wird sie gefördert, und ein Programm für ihren Verkauf wird umgesetzt. Und zwar außerhalb von Lieferungen an die Ukraine. Unsere Region ist im Prinzip wirtschaftlich autark; wenn wir alles realisieren, was es an Plänen für die Erneuerung unserer Industrie gibt, dann können wir hier den vollen Produktionszyklus realisieren. Wenn es für unsere Maschinenbaubetriebe gelingt, die Exportdokumente neu zu erstellen, dann ist unser Problem überhaupt gelöst.

Woher kommt dann die Information, dass 80 bis 90 Prozent der Produktionskapazitäten des Donbass brachlägen? Worauf gründet sie sich?

Viele Unternehmen stehen jetzt still, weil sich niemand darum kümmert, ihnen neue Steuerunterlagen und Zollpapiere auszustellen. Das hängt in der Luft. Es gibt Bedarf nach unseren Produkten auch außerhalb der Grenzen der Region, aber woran es fehlt, sind die Papiere. Sobald das gelöst wird, kommt die Sache wieder in Gang. Schon jetzt beginnen die Betriebe wieder zu produzieren, von 80 Prozent Stillstand kann keine Rede mehr sein. Die Situation verbessert sich von Tag zu Tag.

Welche Rolle spielen die Kriegszerstörungen des produktiven Potentials?

Natürlich sind die Zerstörungen erheblich, aber die Reparaturarbeiten sind überall im Gang. Allein bei den Kämpfen zwischen Januar und März dieses Jahres – von den Zerstörungen des vergangenen Jahres rede ich überhaupt nicht – sind über 4.500 Gebäude zerstört oder beschädigt worden. Das ist eine Gesamtzahl, die umfasst Privathäuser ebenso wie Kindergärten und Schulen und Fabriken. Sie haben uns wochenlang wahllos mit schwerer Artillerie beschossen, einfach Planquadrat nach Planquadrat.

Wie ist die Situation der Zivilbevölkerung? Gibt es Hunger, wer versorgt die Menschen?

Für die Menschen ohne sonstige Absicherung, die auf unserem Gebiet leben, ist natürlich die humanitäre Hilfe, die wir aus Russland bekommen, lebensrettend. Was die arbeitsfähige Bevölkerung angeht, so muss man trotz der wirtschaftlichen, energiepolitischen und Lebensmittelblockade, der unser Gebiet durch die Ukraine ausgesetzt ist, sagen, dass sie in der Lage ist, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Natürlich gibt es keine besonders große Auswahl in den Geschäften, aber das Nötige ist da.

Was ist die Rolle Russlands gegenüber Ihrer Republik abgesehen davon, dass es humanitäre Hilfe schickt? Welche Rolle spielen Kämpfer aus Russland in den Volkswehren?

Es gibt Freiwillige, übrigens nicht nur aus Russland, sondern sogar auch aus Deutschland auf unserer Seite. Sie verstehen, wofür wir kämpfen. Aber die große Masse der Leute, die zur Waffe gegriffen haben, kommt aus der örtlichen Bevölkerung.

Ihre Republik nennt sich »Volksrepublik«. Wofür steht dieser Bezug auf das Volk konkret?

Wir haben von Anfang an beschlossen, dass unsere Republik für das Volk da sein soll. Wir wollten einen Trennungsstrich ziehen gegenüber Zuständen wie denen, die zur Verelendung der Ukraine geführt haben. Die ukrainischen Machthaber haben die Wirtschaft des Landes zerstört, sie haben das Land in die Schuldenfalle geführt, nicht erst durch den Krieg, aber jetzt verstärkt. Unsere Aufgabe war, die Herrschaft der Oligarchen und die Korruption nicht wieder zuzulassen. Daran, wie wir das schaffen, entscheidet sich, ob wir die Republik wirklich zu einer des Volkes machen können.

Das heißt, bei Ihnen herrscht Kapitalismus, aber für das Volk?

Wir haben nicht die Verschmelzung von Geschäftswelt und politischer Gewalt, wie sie in der Ukraine herrschte. Dort beherrschten vielleicht fünf Oligarchen das ganze Land, und alle Entscheidungen wurden danach gefällt, ob sie deren persönlicher Bereicherung dienten. Eine Modernisierung der Industrie oder des Landes fand nicht statt. Alle die Werke, die von unseren Eltern und Großeltern in der sowjetischen Zeit gebaut wurden, wurden nur dazu genutzt, die letzte Kopeke herauszuziehen. Es wurden keinerlei Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich die ukrainische Volkswirtschaft entwickeln und positive Resultate für alle Bürger hervorbringen konnte. Als die Sowjetunion zerfiel, war die Volkswirtschaft der Ukraine auf einer Stufe mit der deutschen. Und jetzt, nach 24 Jahren der sogenannten Unabhängigkeit, stehen wir auf dem Niveau eines schwach entwickelten afrikanischen Landes. Die Korruption hat uns zugrunde gerichtet. Ein Beispiel: wir haben hier eine Hauptwasserleitung, die die Bevölkerung versorgt. 60 Prozent des Wassers sind durch irgendwelche undichten Stellen verlorengegangen, und niemand hat sich je darum gekümmert, das zu reparieren. Genauso sind die meisten finanziellen Mittel in einigen wenigen privaten Taschen verschwunden. Und keine Staatsmacht hat irgendetwas dagegen unternommen, sondern alle haben diese persönliche Bereicherung unterstützt. Wir sehen unsere Aufgabe heute nicht darin, mit dem Business zu kämpfen, sondern im Gegenteil, ihm vernünftige Bedingungen, einen gesunden Wettbewerb und gesicherte rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Diesem Ziel dienen auch die Investitionsvereinbarungen, die wir als Republik mit Geschäftsleuten schließen. Investoren, die zu uns kommen, sollen Garantien haben und genau bestimmte Spielregeln vorfinden. In der Ukraine hat es solche klaren Regeln leider nie gegeben.

Wie ist zum Beispiel jetzt die Situation der Unternehmen von Rinat Achmetow? Im vergangenen Sommer gab es Rufe nach der Nationalisierung seiner Betriebe, darum ist es still geworden. Heute schickt er humanitäre Hilfe über seine Stiftung. Ist Achmetow noch der Hausherr des Donbass oder nicht?

Als Hausherr gilt er schon lange nicht mehr, denn wenn er das wäre, dann wäre er damals auf die Seite des Volkes getreten, und dann wäre die Lage völlig anders. Seine humanitäre Hilfe, die er zu uns schickt, in allen Ehren, sie hilft vielen Menschen zu überleben. Auf der anderen Seite kehrt mit dieser Unterstützung etwas von seinem Reichtum zu den Menschen zurück, dank derer er ihn erworben hat. Ob es ihm gelingt, seinen Platz in den neuen Realitäten der Volksrepubliken Donezk und Lugansk zu finden, wird sich zeigen.

Das heißt, wenn Achmetow jetzt zurückkäme und seine Betriebe wieder in Gang setzen wollte, würden Sie ihm keine Steine in den Weg legen?

Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. Eine ganze Reihe seiner Unternehmen hat uns behindert und Steuern für den Krieg gezahlt (gemeint ist: an die Ukraine – jW). Wahrscheinlich wird man eine Reihe dieser Betriebe vorübergehend unter staatliche Verwaltung stellen müssen, weil sie andererseits auch nicht angehalten werden dürfen. Aber alles ohne Verletzung der Rechte der Eigentümer.

Wie sieht im Augenblick das politische Leben in den Volksrepubliken aus? Gibt es überhaupt eines oder läuft alles unter der Parole »Alles für die Front«?

Natürlich gibt es ein reges politisches Leben. Aber wir haben – meiner Meinung nach zu Recht – entschieden, uns von den Parteien als Organisationsform zu trennen und eher auf soziale Bewegungen zu setzen. Wir haben im Moment bei uns keine einzige registrierte Partei, aber dafür gibt es zwei soziale Bewegungen, die das politische Leben unserer Republiken gestalten.

Welche sind das, und worin liegen ihre Unterschiede?

Im Moment haben wir im Parlament zwei gesellschaftliche Bewegungen: »Donezker Republik« und »Freies Donbass«. Ihre programmatischen Unterschiede sind im Augenblick nicht sehr ausgeprägt; im Moment sind wir einer äußeren Aggression ausgesetzt, da müssen alle zusammenstehen.

Sie haben nicht einmal die Kommunistische Partei zu Ihren Wahlen zugelassen. Warum?

Damals ging es um formale Versäumnisse, es wurden irgendwelche Fristen nicht eingehalten. Übrigens wurde damals von der Wahlkommission keine einzige politische Partei zugelassen. Wenn die KP die Fristen eingehalten hätte, wäre sie vermutlich auch zugelassen worden.

Wie sieht aus Ihrer Perspektive im Moment die Stimmung der Bevölkerung aus? Sind sie bereit zum Kampf bis zum letzten, oder wünschen sich die Leute doch eher eine Beruhigung und eine Normalisierung des Verhältnisses zur Ukraine?

Natürlich sind die Leute den Krieg leid. Aber sie verstehen sehr gut, was abläuft, und was sie tun müssen, um ihre Interessen zu verteidigen. Nach einer Umfrage, die wir in Auftrag gegeben haben, um zu verstehen, was die Leute bei uns denken, hat der Vorsitzende unserer Republik Zustimmungswerte von über 80 Prozent. Das gilt für den Vorsitzenden der Republik und seine Mannschaft.

Im Sommer hat ein russischer Blogger, der mit der Volkswehr kämpfte, die Beobachtung veröffentlicht, dass die Angehörigen der Volkswehren fast ausschließlich Menschen über 40 gewesen seien, also Leute, die noch in der Sowjetunion aufgewachsen und sozialisiert wurden. Die Jugend habe sich ferngehalten. Ist das bis heute noch so?

Als wir die Mobilisierung verkündet haben, sind sehr viele Junge Leute in die Reihen der Volkswehr eingetreten. Wir konnten die Mobilisierung sogar abbrechen, weil sich so viele Freiwillige gemeldet hatten, um unsere Republiken mit der Waffe zu verteidigen.

Also gab es früher diese Unterscheidung nach Generationen, und das hat sich erst jetzt im Zuge der Mobilisierung geändert?

Dieser Blogger mag einfach in eine Einheit gekommen sein, wo überwiegend ältere Leute gekämpft haben. Die jungen Leute konnten wir gar nicht sofort in die Volkswehr übernehmen, sondern wir mussten sie ja erst einmal militärisch ausbilden.

Igor Strelkow, der ehemalige Verteidigungsminister der Volksrepublik Donezk, selbst hat im Sommer geschrieben, die Männer des Donbass säßen vor dem Fernseher und tränken Bier, anstatt in die Volkswehr einzutreten.

Dieser Kommentar von Strelkow ist nicht ganz korrekt. Ganz am Anfang, als es mit den Besetzungen der Verwaltungsgebäude losging, haben wir alle, die dazu bereit waren, eingeladen, in die Volkswehr einzutreten. Und damals haben sich innerhalb weniger Tage an die 30.000 Männer gemeldet. Und das nur für die Volkswehr im engeren Sinne, daneben gab es noch andere Formationen. Wir haben damals von den Leuten nur die Telefonnummern aufgeschrieben und gesagt, wir rufen zurück, sobald die Sache organisatorisch soweit ist, bis die Uniformen genäht sind und Waffen vorhanden sind. Aber damals haben sich die Ereignisse so überstürzt, dass wir nicht dazu kamen zurückzurufen, teilweise sind auch die Listen verlorengegangen – so haben manche Leute das Interesse verloren. So ist das gelaufen.

Apropos Waffen: woher bekommen Sie die?

Wir kämpfen fast ausschließlich mit Beutewaffen. Woher wir die haben, ist kein Geheimnis. Allein in Debalzewo haben wir Waffen erbeutet, die reichen noch für zwei Kriege. Und davor hatten wir schon den Kessel von Ilowajsk und andere Gefechte, also: wir haben genug. Dazu kommt die Korruption in der ukrainischen Armee. In der Anfangsphase haben wir viele Waffen vom Gegner gekauft.

Und der Treibstoff für die Panzer und die Technik?

Schauen Sie sich doch bei uns um. Wir haben keine Benzinknappheit. Wir kaufen den Treibstoff, den wir brauchen. Wir haben einen Staatshaushalt, und der berücksichtigt die Kosten der Kampfhandlungen.

Denis Wladimirowitsch, wo sehen Sie die Republiken in einem Jahr?

Prognosen sind im Moment äußerst schwierig, die Lage ändert sich ja fast von Tag zu Tag. Entscheidend ist die Haltung Europas, vor allem seiner wichtigsten Länder wie etwa Deutschland oder Frankreich. Sie haben schon gezeigt, dass sie an einer diplomatischen Lösung interessiert sind. Jetzt stellt sich die Frage, ob sie stark genug sind, diese Position durchzusetzen, oder ob sich die amerikanische Position durchsetzt, die auf eine Fortsetzung des Krieges setzt. Davon hängt im Moment alles ab.

Wie bewerten Sie die Haltung der Bundeskanzlerin, die noch dieser Tage auf der territorialen Integrität der Ukraine in den Grenzen von 2013 bestanden hat?

Wenn die Ukraine ihre territoriale Integrität behalten will, muss sie zuallererst zum Dialog mit unseren Vertretern bereit sein und die Bereitschaft zu Kompromissen zeigen. Im Moment tut sie aber das Gegenteil, und unsere Gebiete kontrolliert sie nicht. Von welcher territorialen Integrität wird also da gesprochen? Dennoch schätze ich das Engagement von Frau Merkel für den Frieden. Aber ob es zum Frieden auf unserem Gebiet kommt, hängt davon ab, ob sie in sich die Kraft und den Mut findet, sich vom amerikanischen Einfluss zu befreien. Sie wissen selbst ganz gut, dass es hier nicht um einen innerukrainischen Konflikt geht, sondern um eine geopolitische Auseinandersetzung zwischen den Vereinigten Staaten und Russland. Unser Territorium ist leider zum Schauplatz dieser Auseinandersetzung geworden. Wir verstehen und unterstützen die Interessen Russlands. Wir haben nicht vor, uns zu ergeben. Wir sind nicht bereit zuzugestehen, dass auf dem Gebiet der Ukraine und auf unserem Territorium Stützpunkte der NATO entstehen, mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Wir haben nicht die Absicht, die Entfesselung eines wahrscheinlich großen Krieges zuzulassen. Sein Gespenst ist leider schon ziemlich nahegekommen.

Noch einmal, um es zusammenzufassen: Sie schließen die Option eines Kompromisses mit der Ukraine nicht aus?

Wenn die Ukraine jetzt kurzfristig unter europäischem Druck zum Weg des Dialogs und der ehrlichen Verhandlungspositionen zurückkehren sollte, dann ist das weiterhin möglich. Doch die Chancen dafür sind leider äußerst gering, weil Europa dem amerikanischen Druck nachgegeben hat und die Auseinandersetzung um Einfluss in Kiew verliert. Europa erweckt den Eindruck, für den Frieden zu sein, die USA wollen den Krieg fortsetzen. Die Europäer müssen doch längst verstanden haben, dass sie hier gegenüber den USA verlieren. Europa trägt die wirtschaftlichen Schäden aus den Sanktionen, die USA gewinnen wirtschaftlich und politisch und stellen sogar noch den Frieden auf dem europäischen Kontinent in Frage.

Interview: Reinhard Lauterbach

* Aus: junge Welt, Freitag, 20. März 2015


NATO-Länder schicken Militärausbilder **

Auf seiten der Kiewer Truppen sind jetzt auch offiziell Militärausbilder aus NATO-Staaten im Einsatz. Nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums hat die Armee Ihrer Majestät mit dem Training von Soldaten in der Ukraine begonnen. »Wir kommen einer Bitte der Ukraine um Beistand nach«, sagte eine Sprecherin der Agentur dpa in London. Die USA wollen laut Mitteilung des ukrainischen Präsidialamtes 780 Angehörige der Nationalgarde in Kiew für den Krieg fit machen.

In der Vergangenheit hatte die Ukraine die Anwesenheit ausländischer Ausbilder stets mit dem Hinweis dementiert, dass es dafür keine Rechtsgrundlage gebe. Der ukrainische Sicherheitsrat hatte den Ausbildungseinsatz zwar bewilligt. Allerdings fehlte nach Darstellung des ukrainischen Verteidigungsministeriums noch ein Gesetz, das die Präsenz ausländischer Militärs erlaubt.

Die russische Regierung verurteilte die Entsendung von Soldaten aus NATO-Staaten in der Ukraine als »nicht vertrauensfördernd«. Der Einsatz westlicher Militärausbilder in der Ukraine könne bei der Lösung der Krise in der Ukraine nicht helfen, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge in Moskau. »Das hilft weder bei der Festigung des Vertrauens noch beim Abbau der Spannungen in dem Konfliktgebiet.«

Neben Militärausbildung bekommt Kiew auch Kriegsgerät aus NATO-Staaten. Bis Ende März sollen nach Angaben des Präsidialamtes die ersten US-Militärfahrzeuge in der Ukraine eintreffen. Sie sollen die »Verteidigungsfähigkeit« der ukrainischen Armee stärken.

Mit Kanzlerin Angela Merkel habe Präsident Petro Poroschenko über die Umsetzung des Minsker Friedensplans für den Donbass gesprochen, teilte die Präsidialverwaltung am Donnerstag weiter mit. Bei dem Telefonat hätten beide Politiker ein neues Vierertreffen auf Außenministerebene vereinbart. Ein Zeitpunkt für die Gespräche der Chefdiplomaten Deutschlands, der Ukraine, Frankreichs und Russlands wurde zunächst nicht genannt. Kremlsprecher Peskow schloss ein solches Treffen nicht aus für den Fall, dass es Verzögerungen oder ein Scheitern des Minskers Abkommens gebe. Der Friedensprozess von Minsk geriet zuletzt wegen des ukrainischen Gesetzes über den Sonderstatus des Konfliktgebiets Donbass ins Stocken. Das Parlament in Kiew hatte die von den Volksmilizen kontrollierten Gebiete als »besetzt« eingestuft. Beobachter erwarten deshalb, dass das ukrainische Militär die Regionen Lugansk und Donezk nun erst »befreien« will.

** Aus: junge Welt, Freitag, 20. März 2015


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