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Russische Hilfe rollt – Ukraine grollt

Konvoi passierte Grenze ohne Kiews Zustimmung / LINKE beklagt »Desinteresse« der Bundesregierung

Von Klaus Joachim Herrmann *

Vor Fernsehkameras und Fotografen rollte Russlands Hilfskonvoi ohne Genehmigung in die Ukraine ein. Kanzlerin Merkel kommt auf Einladung.

Der Schlagbaum geht hoch. Weiße Kamas-Lastkraftwagen des seit über einer Woche an der ukrainischen Grenze unter wechselnden Begründungen festgehaltenen russischen Hilfskonvois rollen los, wie russische Fernsehbilder am Freitag bestätigten. »Weiter können wir Willkür und offenkundige Lügen nicht dulden. Russland hat beschlossen zu handeln«, erklärte das Außenministerium in Moskau.

Die schwer umkämpfte Großstadt Lugansk mit ihren mehr als 200 000 Einwohnern ist laut örtlichen Behörden bereits seit fast drei Wochen ohne Strom und Wasser. Unter mehrfachem Hinweis darauf verzichtete Russland auf die Zustimmung der ukrainischen Regierung sowie eine Begleitung durch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Rund 100 Fahrzeuge wurden über den Kontrollpunkt Donezk-Iswarino geschickt. Am Abend wurde von russischen Medien die Ankunft der ersten Fahrzeuge mit Hilfsgütern in Lugansk gemeldet.

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko forderte Russland auf, die Hilfsaktion wieder »auf das Gebiet internationalen Rechts« zurückzuführen. Kiew mache sich vor allem Sorgen um die Sicherheit des Konvois. Der Chef des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes, Valentin Naliwaitschenko, sprach laut Interfax Ukraine sogar von einer »direkten Invasion« Moskaus. Es handele sich um »Militärfahrzeuge unter dem zynischen Deckmantel des Roten Kreuzes«.

Bundeskanzlerin Angela Merkel wird am Samstag in Kiew erwartet. Sie wolle über Möglichkeiten eines Waffenstillstandes beraten, hieß es. Zudem erwäge die Bundesregierung weitere Hilfen. Außenminister Pawlo Klimkin hatte sich zuvor in Anspielung auf das US-Programm zum Wiederaufbau des Westens von Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg (Marshall-Plan) für einen »Merkel-Plan« eingesetzt.

Harsche Kritik am »absoluten Desinteresse« der Bundesregierung an der humanitären Katastrophe in der Ukraine übte die Linkspartei am gleichen Tag in Berlin. Unmittelbar zum Besuch in Kiew wurde die Regierung vom Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko angeklagt, sich »durch ihr Schweigen zur Komplizin einer unmenschlichen Politik zu machen«. Im syrischen Bürgerkrieg beispielsweise habe die Bundesregierung »bei der Bombardierung von Wohngegenden an Verurteilungen nicht gespart«.

Hunko kritisierte »Aussagelosigkeit« und das Fehlen »sinnvoller Antworten« der Regierung unter Hinweis auf die Reaktion auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der LINKEN zur humanitären Situation in der Ukraine. »Statt eines ›Weiter so‹ brauchen wir unverzüglich einen Waffenstillstand, um die dringend benötigte humanitäre Hilfe in den Osten der Ukraine und Verhandlungen zu ermöglichen«, erklärte er.

* Aus: neues deutschland, Samstag 23. August 2014


Moskau bricht Blockade

Kein Warten mehr: Rußland läßt Hilfslieferung für Ostukraine ohne Genehmigung die Grenze passieren. Kiew reagiert mit Beschuß von Lugansk und Donezk

Von Reinhard Lauterbach **


Rußland hat am Freitag seinen Hilfskonvoi für die Bevölkerung des Donbass auch ohne Zustimmung aus Kiew in Marsch gesetzt. In einer Erklärung des Außenministeriums in Moskau hieß es, die humanitäre Situation vor allem in Lugansk dulde keinen Aufschub mehr. Die russische Regierung warf der Ukraine vor, die Zollabfertigung der 280 weißgestrichenen Lkw tagelang unter allen denkbaren Vorwänden verzögert zu haben. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), das sich zuvor zur Begleitung des Konvois bereiterklärt hatte, zog diese Zusage im letzten Moment zurück. Ein Sprecher berief sich darauf, daß die Sicherheitslage an der etwa 65 Kilometer langen Strecke von der russisch-ukrainischen Grenze bis nach Lugansk zu angespannt sei. Kiew hatte zuvor nicht auf die Aufforderung des IKRK reagiert, eine Sicherheitsgarantie für den Transport abzugeben.

Nach Medienberichten hatte sich die humanitäre Situation im seit drei Wochen von ukrainischen Truppen belagerten Lugansk zuletzt drastisch verschlechtert. Einwohner berichteten, wegen des Wassermangels hätten die Leute schon die Becken der öffentlichen Brunnen mit Kanistern leergeschöpft. Auch Engpässe bei Lebensmitteln seien vorhanden, könnten aber noch aus Eingemachtem und selbstangebauten Kartoffeln überbrückt werden. Schlimmer sei der Mangel an Medikamenten und Treibstoff sowie die Tatsache, daß Telefon- und Internetverbindungen ausgefallen seien. Taxifahrer verlangten Wucherpreise für das Verlassen der Stadt.

Der Chef des ukrainischen Geheimdienstes SBU, Walentin Naliwajtschenko von der faschistischen Swoboda-Partei, nannte den Aufbruch des russischen Konvois eine »direkte Invasion« unter dem »zynischen Vorwand« humanitärer Hilfe. Verteidigungsminister Waleri Heletej kündigte eine »entsprechende« Reaktion« seiner Streitkräfte an. Am Mittag begann die ukrainische Artillerie nach Angaben von Einwohnern und Korrespondenten mit heftigem Beschuß von Lugansk und Donezk. Trotzdem trafen die ersten Fahrzeuge am frühen Abend in Lugansk ein.

Sowohl die Kiewer Truppen als auch die Aufständischen meldeten Stellungskämpfe am Rand von Donezk und um die östlich davon liegende Stadt Ilowajsk. Jede Seite berichtete über schwere Verluste des Gegners. Der US-amerikanische Analysedienst Stratfor verbreitete eine Einschätzung, nach der es den Aufständischen in den letzten Tagen gelungen sei, ihre Positionen zu stabilisieren und erfolgreiche Gegenangriffe gegen die Regierungstruppen zu führen. Dabei kämen ihnen erbeutete und aus Rußland gelieferte schwere Waffen zugute. Insgesamt blieben die Aufständischen aber dem Gegner materiell und zahlenmäßig unterlegen.

Am Samstag – dem Vortag des ukrainischen Unabhängigkeitstages am 24. August – wird Bundeskanzlerin Angela Merkel Kiew besuchen. Die Visite ist eine diplomatische Aufwertung von Staatschef Petro Poroschenko vor seinem am Dienstag geplanten Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am Rande eines Gipfeltreffens von EU und Eurasischer Zollunion in der belarussischen Hauptstadt Minsk. Ob Merkel Poroschenko zu einer Verhandlungslösung des Konflikts drängen wird, ist unbekannt. Britische und russische Medien hatten vor einiger Zeit darüber spekuliert, daß deutsche und russische Diplomaten an Optionen für ein Ende des Konflikts arbeiteten.

** Aus: junge Welt, Samstag 23. August 2014


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