Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

De jure und de facto

Hintergrund. Juristisches zum Krim-Konflikt

Von Hermann Klenner *

Aktuell versucht die ukrainische Regierung mit militärischen Mitteln, den Widerstand gegen sie im Osten des Landes niederzumachen. Aber auch die Krim, sie hatte sich am 18. März für einen Beitritt in die Russische Föderation entschieden, bleibt im Visier der neuen Machthaber: »Die Krim war und bleibt ukrainisch«, betonte der Präsident und Oligarch Petro Poroschenko in seiner Antrittsrede am 7. Juni 2014. Zur juristischen Seite der Überführung hielt Prof. Dr. Hermann Klenner vor Mitgliedern der Kommunistischen Plattform vor kurzem einen Vortrag. Der folgende Beitrag ist der Abdruck seines Referats, das nun im Juni-Heft der Mitteilungen des Zusammenschlusses in der Linkspartei ­erschien. (jW)

Die Krim, eine Halbinsel an der Nordküste des Schwarzen Meeres gelegen, durch eine neun Kilometer breite Landenge mit dem Festland verbunden und im Osten an das Asowsche Meer grenzend, hat eine wechselvolle Geschichte: In ältester Zeit von Tauriern bewohnt, im 7. Jahrhundert v. Z. von den Griechen kolonisiert, darauf dem Bosporanischen, später dem Skythischen und schließlich bis zum 3. Jahrhundert u.Z. dem Römischen Reich zugehörig, anschließend von den Wandervölkern der Goten, Hunnen und Awaren besiedelt, im 13. Jahrhundert von den turksprachigen Tataren erobert und von 1475 an unter türkischer Oberhoheit, gehörte seit 1783 zu Rußland. Auf Initiative des KPdSU-Chefs Nikita Chruschtschow wurde die Krim 1954 (ohne Volksbefragung!) der Ukrainischen SSR angegliedert und blieb in die Ukraine integriert. Seit 1992 ist sie »Autonome Republik Krim« mit Simferopol als Hauptstadt, einer eigenen Verfassung (von 1998), eigenem Regionalparlament, eigener Regionalregierung, besonderen Hoheitsrechten für Verwaltung, Finanzen und Recht, mit Ukrainisch, Russisch und Krimtatarisch als gleichberechtigten Amtssprachen für eine zu mehr als 70 Prozent russisch-, zu mehr als jeweils zehn Prozent ukrainisch- und tatarischsprachigen Einwohnerschaft. In einem 1997 abgeschlossenen (und 2010 für mehr als weitere 30 Jahre verlängerten) bilateralen Abkommen zwischen Rußland und der Ukraine war die traditionelle Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol sowie die russische Truppenpräsenz von maximal 25000 Personen auf der Krim geregelt worden.

In ihrer im wesentlichen auch gegenwärtig geltenden Verfassung von 1996 ist die Ukraine als demokratischer, auch sozialer Staat konzipiert. Verbindlich vorgeschrieben waren unter anderem: die Förderung der ukrainischen Nation ebenso wie die Entwicklung der ethnischen, sprachlichen, kulturellen und religiösen Besonderheiten aller alteingesessenen nationalen Minderheiten (Artikel 11); die territoriale Integrität des ukrainischen Staates samt dem Monopol eigener Streitkräfte bei gleichzeitigem Verbot anderer bewaffneter Einheiten und ausländischer Militärstützpunkte (Artikel 17); die unbewaffnet auszuübende Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit (Artikel 39); die Wahl des Präsidenten der Republik durch das Volk (Artikel 103); die Ernennung des Ministerpräsidenten durch den Präsidenten bei Zustimmung des Parlaments (Artikel 106); die durch eine Parlamentsmehrheit von mindestens 75 Prozent mögliche Amtsenthebung des Präsidenten wegen dessen durch das Oberste Gericht festgestellten Hochverrats oder anderer schwerer Verbrechen (Artikel 111).

Die Trennung von der Ukraine

Unter diesen alles in allem rechtsstaatlichen Bedingungen begannen um die Jahreswende 2013/2014 auf dem Maidan-Platz in Kiew Protestbewegungen in Permanenz. Mit ihren Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und realer Demokratie ursprünglich gegen die grassierende Korruption in einer durch extreme Gegensätze von Arm und Reich charakterisierten Gesellschaft samt staatsbankrotter Oligarchie gerichtet, begannen diese Proteste im Februar 2014 unter dem finanziellen, medialen und personalen Einfluß aus den USA und der EU, insbesondere aus Deutschland, in einen von Vermummten und Bewaffneten herbeigeführten bürgerkriegsähnlichen Zustand umzuschlagen. Mehr als 100 Tote waren die Folge. Nachdem das von den Aufständischen erpreßte ukrainische Parlament den vom Volk gewählten, sich dem Mißbrauch seines Landes als nach Osten gerichtete Speerspitze der NATO verweigernden Präsidenten der Ukraine abgesetzt hatte, riß eine Allianz aus prowestlichen Neoliberalen, »Nationalrevolutionären« und faschistoiden Kämpfern mit russophoben, auch antipolnischen und antisemitischen Parolen die Macht an sich. Sie vergab drei Ministerposten und die Generalstaatsanwaltschaft an führende Gestalten des »Rechten Sektors« und annullierte das bisher den ethnischen Minderheiten zustehende Recht auf eine zweite Amtssprache. Daraufhin erklärte am 11. März 2014 das regionale Parlament der Krim deren Abtrennung von der Ukraine und leitete über den Weg eines Referendums den Beitritt der zuvor in die Ukraine integrierten »Autonomen Republik Krim« als nunmehr eigenständige »Republik Krim« zu Rußland ein. 78 von den 99 anwesenden Parlamentariern stimmten diesem Schritt und dessen Erklärung zu.

Der Text dieses vom Vorsitzenden des Obersten Rates der Autonomen Republik Krim und vom Vorsitzenden des Stadtrats von Sewastopol unterzeichneten Dokuments vom 11. März 2014 lautete folgendermaßen: »Wir, die Mitglieder des Obersten Rates der Autonomen Republik Krim und des Stadtrats von Sewastopol, erklären auf Grundlage der Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen und weiterer internationaler Übereinkommen zur Anerkennung des Rechts der Völker auf Selbstbestimmung, sowie unter Berücksichtigung des Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs bezüglich Kosovos vom 22. Juli 2010, das bestätigt, daß die einseitige Unabhängigkeitserklärung von Teilen eines Staates keine Regeln des Völkerrechts verletzt: 1. Wenn als Ergebnis des am 16. März 2014 stattfindenden Referendums der direkte Wille der Völker der Krim zum Ausdruck kommt, daß die Krim, bestehend aus der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol, Rußland beitreten soll, so wird ein unabhängiger und souveräner Staat mit einer republikanischen Staatsform deklariert werden. 2. Diese Republik Krim ist ein demokratischer, säkularer und multiethnischer Staat, der sich verpflichtet, den Frieden, sowie den ethnischen und konfessionellen Zusammenhalt in ihrem Gebiet zu bewahren. 3. Die Republik Krim wird im Falle eines solchen Ergebnisses der Volksabstimmung als unabhängiger und souveräner Staat und auf der Grundlage des Völkerrechts den Beitritt in die Russische Föderation beantragen und bei deren Zustimmung ein neues Subjekt der Russischen Föderation.«

Bei dem am 16. März 2014 durchgeführten und ohne jegliche Gewaltanwendung verlaufenen Referendum sprachen sich bei einer Wahlbeteiligung von 83,1 Prozent insgesamt 96,77 Prozent der Abstimmenden für eine Vereinigung der Krim mit der Russischen Föderation aus. Bereits am 17. März erkannte diese die Republik Krim als souveränen Staat an. Einen Tag später, am 18. März, legitimierte Rußlands Präsident Wladimir Putin in einer längeren Rede, in der er ebenfalls auf das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs bezüglich Kosovos vom Juli 2010 verwies, die russische Krim-Politik vor beiden Häusern des Parlaments sowie vor Vertretern der Regionen, der Republik Krim und der Stadt Sewastopol. Und noch am selben Tag unterzeichneten im Moskauer Kreml Rußlands Präsident und die Vertreter der Republik Krim den Vertrag zur Aufnahme der Krim als neues Föderationssubjekt in die Russische Föderation. Am 19. März stimmte Rußlands Verfassungsgericht gemäß Artikel 65 und 108 der Föderationsverfassung und am 20. März Rußlands Duma diesem Vertrag zu, der dann am 21. März durch den Russischen Föderationsrat ratifiziert wurde. Mit ihrer Überführung in die Föderation löste sich die am 11. März 2014 gegründete souveräne »Republik Krim« zehn Tage später wieder auf. Im April 2014 gab sich die Krim als nunmehriges Föderationssubjekt eine eigene Verfassung und führte den Rubel als offizielle (zunächst) Zweitwährung ein. Rußlands Präsident bestätigte Russisch, Ukrainisch und Krimtatarisch als gleichberechtigte Landessprachen, sicherte der Krim eine Sonderwirtschaftszone mit einem speziellen Föderationsminister zu und rehabilitierte die von der UdSSR zu Unrecht kriminalisierten und 1944 nach Sibirien ausgewiesenen Krim-Tataren und Krim-Deutschen.

Streit um Rechtmäßigkeit

Die bisher charakterisierten Vorgänge in Kiew, Moskau und auf der Krim machen die Frage nach ihrer verfassungs- und völkerrechtlichen Legalität oder Illegalität unvermeidlich. Nicht überflüssig ist allerdings der illusionsverringernde Hinweis, daß es sich beim Recht als dem inner- und zwischenstaatlichen Ordnungsreglement herrschaftsförmig organisierter Gesellschaften weniger um zeit- und raumlose Wahrheiten als vielmehr um interessengesteuerte Ordnungsstrategien seiner auch von gegensätzlichen Beweggründen dirigierten Akteure handelt. Das zeigte sich beim Krim-Konflikt: Bereits einen Tag nach der Unabhängigkeitserklärung protestierte ultimativ das ukrainische Parlament in Kiew und erklärte (im Schlepptau von USA, NATO und EU) genau jene Verselbständigungsvorgänge für rechtswidrig, die von seinen Gegenspielern auf der Krim und in Moskau für rechtmäßig erklärt worden waren. Die von den USA beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingebrachte Vorlage zur Verurteilung des russischen Vorgehens im Krim-Konflikt wegen seiner angeblichen Völkerrechtswidrigkeit scheiterte am 15. März 2014 erwartungsgemäß infolge des Vetos von Rußland als einem der Ständigen Mitglieder dieses Gremiums. In der Generalversammlung der Vereinten Nationen, die sich auf Antrag u.a. der Ukraine, Polens und Deutschlands am 27. März 2014 mit dem Krim-Konflikt befaßte, hielten 100 Mitgliedsstaaten das Sezessionsreferendum auf der Krim für ungültig, weil völkerrechtswidrig, während elf es für gültig, weil völkerrechtsgemäß, erklärten, und 58 sich nicht zu entscheiden vermochten. Da Beschlüsse der Generalversammlung der Vereinten Nationen (anders als die von deren Sicherheitsrat) gemäß Artikel 10 bis 12 der UN-Charta lediglich den Charakter von Empfehlungen haben, ist die Auffassung der Generalversammlungsmehrheit, daß alle Staaten und internationale Organisationen alles unterlassen sollten, was als Anerkennung der »Republik Krim« ausgelegt werden könnte, allerdings unverbindlich. Sie begründet also keine sich aus dem Völkerrecht ergebende Rechtspflicht.

Nicht nur unter den Politikern, auch unter den Wissenschaftlern gibt es sich widersprechende Auffassungen über die juristische Beurteilung des Krim-Konflikts. Neben der differenzierenden Urteilskraft angesehener Juristen-Professoren – wie etwa der des Hamburger Völkerrechtlers Reinhard Merkel am 7.4.2014 im Feuilleton der FAZ mit der kühlen Konklusion, daß, wer am lautesten nach Sanktionen gegen Rußland schreit, nur von der eigenen Blamage ablenke – gibt es für diejenigen, denen das Wechselverhältnis von Ideen und Interessen, von Rechtsforderungen und Rechtsnormen, von Recht und Gerechtigkeit unbekannt geblieben ist, auch verblüffende Dinge zu lesen. Daß ein (inzwischen emeritierter) Berliner Wendehals-Professor des Völkerrechts den Staatsrepräsentanten seines Landes genehme Argumente zu liefern sich abmüht, sollte nicht verwundern. Schon eher, daß die Nachfolgezeitschrift der doch einst links operierenden Weltbühne, nämlich Das Blättchen, solch einen Text ins Internet stellt. Dagegen konnte man auch damit rechnen, daß ein durch Völkerrechtskenntnisse nicht belasteter Sprecher des »Forums demokratischer Sozialismus« die ukrainische faschistische »Swoboda«-Partei ebenso wie die Abschaffung des Russischen als Zweitsprache durch die Kiewer Interimsregierung verharmlost, Rußlands »Putinismus« (!) im Krim-Konflikt mit Nazideutschlands Einverleibung des Sudetenlandes von 1939 gleichsetzen und schließlich als bundesdeutsche Gegenwehr gegen die als »imperialistisch« bezeichnete Außenpolitik Rußlands ein Assoziierungsabkommen zwischen Ukraine und EU empfiehlt.

Dimensionen der Problematik

Wenn man sich allerdings einer durch Realität und Normativität zu charakterisierenden Legalitäts- bzw. Illegalitätsbewertung des in den Ukraine-Konflikt eingebetteten Krim-Konflikts zuwendet, ist die Mehrdimensionalität der Problematik unbestreitbar.

Erstens kommt man um die Feststellung nicht herum, daß die sich im Februar 2014 in Kiew an die Macht Putschenden einen Staatsstreich, in mehrfacher Hinsicht also einen Bruch der geltenden ukrainischen Verfassung, verübten: a) Illegal waren die Handlungen der – statt verfassungsgemäß (Artikel 39) friedlich – verfassungswidrig vermummt und bewaffnet mit tödlichen Folgen in Permanenz Demonstrierenden. b) Illegal war die Amtsenthebung des vom Volk gewählten Präsidenten der Ukraine durch ein das verfassungsgemäße Quorum (Artikel 111) nicht aufbringendes Parlament, dem auch ein höchstrichterliches, den Präsidenten des Hochverrats bezichtigendes Gutachten nicht zur Verfügung stand. Dementsprechend waren alle der illegalen Amtsenthebung folgenden Personalentscheidungen für die höchsten Staatsämter auch nicht gesetzeskonform. c) Illegal war ferner, daß das Parlament die 2010 vom Verfassungsgericht für ungültig erklärten Verfassungsänderungen von 2004 wieder in Kraft setzte. d) Und illegal war schließlich die Etablierung von antirussischen, antipolnischen und antisemitischen Vertretern des faschistoiden »Rechten Sektors« als Inhaber hoher Staatsfunktionen, da sie der von der Verfassung (Artikel 11) geforderten Entwicklung der ethnischen, sprachlichen, kulturellen und religiösen Besonderheiten aller alteingesessenen nationalen Minderheiten widersprach.

Zweitens war der Kiewer Staatsstreich im Februar 2014, mit dem die alten Oligarchen soziologisch gesehen durch bloß neue Oligarchen ersetzt wurden, nicht nur illegal, er war auch politisch verantwortungslos. Hatte er doch infolge der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung und ihres unterschiedlichen Sprachgebrauchs in erheblichen Teilen der Ukraine keine Chance, allgemein anerkannt und dem Selbstbestimmungsrecht des Volkes gerecht zu werden. Dieser zusätzliche Geburtsfehler, die Unfähigkeit der neuen Machthaber, für das Ergebnis ihres Staatsstreichs selbst bei Einsatz erheblicher medialer Mittel eine wenigstens einigermaßen gleichverteilte Zustimmung in allen Landesteilen zu erreichen, ist nicht nur für die innerstaatlichen, nationalen Unruhen verantwortlich. Er war auch dazu angetan, die ohnehin vorhandenen internationalen Spannungen zwischen den Großmächten zu verschärfen, also friedensgefährdend zu wirken.

Drittens war die Unabhängigkeitserklärung des Krim-Parlaments vom 11. März 2014 mit der Umwandlung der »Autonomen Republik Krim« in eine eigenständige »Republik Krim« zwar durch ein eindeutiges Referendum, also demokratisch, legitimiert worden. Es war aber insofern illegal, als es der in Artikel 17 der geltenden Verfassung festgeschriebenen territorialen Integrität der Ukraine widersprach. Daran ändert sich auch nichts dadurch, daß zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung des Krim-Parlaments diese Ukraine von illegal an die Macht gekommenen Staatsstreichern regiert worden war, wenngleich diese zumeist dem Vergessen anheimgegebene Tatsache die Bewertung so mancher ihrer Folgen zu relativieren geeignet ist. Durch den Hinweis auf fremdes Unrecht wird aber selbstbegangenes Unrecht nicht zu Recht.

Viertens war die Unabhängigkeitserklärung des Krim-Parlaments zwar verfassungs-, aber nicht völkerrechtswidrig. Wie das von der Generalversammlung der Vereinten Nationen anläßlich des Kosovo-Konflikts im Oktober 2008 gemäß Artikel 96 Absatz 1 ihrer Charta angeforderte Gutachten des Internationalen Gerichtshofes (IGH) vom 22. Juli 2010 feststellt, enthält das allgemeine Völkerrecht kein anwendbares Verbot einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung. Im Gutachten des IGH vom 22. Juli 2010 heißt es im Paragraphen 84: »daß internationales Recht generell kein anwendbares Verbot von Unabhängigkeitserklärungen enthält« (that general international law contains no applicable prohibition of declaration of independence). Das Prinzip der territorialen Integrität eines Staates oder seiner politischen Unabhängigkeit, so heißt es im Paragraphen 80 des IGH-Gutachtens, beschränkt sich auf die Sphäre der zwischenstaatlichen Beziehungen. Staaten sind gemäß Artikel 2 Ziffer 4 der UN-Charta vor einer Annexion völkerrechtlich geschützt, d.h. vor einer das zwischenstaatliche Gewaltverbot, die Grundnorm der gegenwärtigen Weltrechtsordnung, verletzenden Einverleibung ihres Territoriums durch andere Staaten. Sie sind aber nicht vor einer Sezession, d.h. vor der einseitigen Unabhängigkeitserklärung sowie einer darauffolgenden Verselbständigung von Teilen ihres bisherigen Territoriums samt Bevölkerung völkerrechtlich geschützt. Sezessionskonflikte sind nämlich eine Angelegenheit des innerstaatlichen und nicht des internationalen Rechts. Bei einer Sezession hat das in der UN-Charta, Artikel 1 Ziffer 2, unter den Zielen der Vereinten Nationen genannte Selbstbestimmungsrecht des Volkes Vorrang vor der territorialen Integrität. Dagegen hat etwa bei einer im Anschluß an eine Aggression folgenden Annexion die territoriale Integrität des Staates Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht des Volkes.

Fünftens war durch die demokratisch legitimierte Umwandlung der »Autonomen Republik Krim« in eine »Republik Krim« vom 11. März 2014 ein eigenständiger Staat entstanden. Soziologen wie Juristen verstehen nämlich überwiegend unter einem Staat die organisierte Vereinigung von Menschen in einem bestimmten Gebiet unter einer höchsten Gewalt. Die Entstehung eines Staates ist demnach von dem sich in einem gegebenen Territorium entwickelnden faktischen Gewaltmonopol gegenüber der Bevölkerung abhängig: Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt konstituieren den Staat, dessen Souveränität und territoriale Integrität von allen anderen Staaten respektiert werden muß, selbst wenn sie ihn nicht anerkannt haben, so der Hamburger Völkerrechtler Norman Paech, so auch Artikel 12 der Charta der Organisation Amerikanischer Staaten.

Eingliederung völkerrechtsgemäß

Bleibt noch die juristische Bewertung des Verhaltens Rußlands im Krim-Konflikt. Um es vorab zu sagen: Die Frage nach einer russischen Konformität mit der ukrainischen Verfassung stellt sich nicht. Ist es doch die Eigenheit von Verfassungen, daß sich ihr Geltungsbereich auf Gebiet und Bevölkerung desjenigen Staates beschränkt, dessen Grundordnung zu sein sie beansprucht. Daß Rußlands am 17. März 2014 erfolgte Anerkennung der am 11. März 2014 gegründeten »Republik Krim« als eigenständiger Staat und dessen durch einen am 18. desselben Monats abgeschlossenen Staatsvertrag vereinbarte Aufnahme als neues Föderationssubjekt in die Russische Föderation deren Verfassung entspricht, hat das Verfassungsgericht Rußlands bestätigt. Entgegen interessengesteuerten Bezichtigungen von rechtsunkundigen Politikern raumfremder Mächte widersprach auch die von den zuständigen Staatsorganen der Krim und der russischen Föderation besiegelte Eingliederung der Krim in das Territorium Rußlands keiner geltenden Norm des allgemeinen Völkerrechts. Sie war also nicht völkerrechtswidrig, sondern völkerrechtsgemäß. Ihr lag keine – gar durch eine Aggression ermöglichte – Annexion zugrunde, sondern eine demokratisch legitimierte und völkerrechtlich zulässige Sezession der Krim-Bevölkerung sowie die freie Vereinbarung zweier souveräner Staaten, der Republik Krim und der Russischen Föderation. Moskaus Verhalten im Krim-Konflikt war legal, auch wenn es den Interessen von USA, NATO, EU, auch der Ukraine widersprach.

Allerdings bedeutet die Legalität staatlichen Handelns im internationalen Geschehen nur die Übereinstimmung zwischen dem tatsächlichen Tun und Unterlassen von Staaten mit dem durch das internationale Recht – und Völkerrecht ist nun einmal nichts anderes als zwischenstaatliches Recht – vorgeschriebenen Verhalten. Eine materialistische Gesellschaftsbetrachtung kann sich jedoch nicht damit begnügen, die Übereinstimmung bzw. die Nichtübereinstimmung von Sein und Sollen, von Normalität und Normativität zu ermitteln. Es ist zusätzlich – nicht etwa als Alternative! – erforderlich, die Frage nach dem Begründet- und Gerechtfertigtsein des sich innerhalb einer Rechtsordnung vollziehenden staatlichen Verhaltens, also auch die Frage nach seiner Legitimität aufzuwerfen. Zudem ist ein Recht auf etwas zu haben nicht gleichbedeutend mit der Pflicht, dieses Recht auch wahrzunehmen. So folgt aus der völkerrechtskonformen Berechtigung der Russischen Föderation, mit einem anderen Staat einen Vertrag auszuhandeln, weder logisch noch historisch die völkerrechtliche Verpflichtung, einen solchen Vertrag auch abzuschließen.

Rußlands Verhalten

Mit Erörterungen über die Legitimität von Legalität, über Ursachen und Wirkungen, über Begründungen und Folgen des Rechts wie der von rechtskonformen Entscheidungen von Staaten wird ein Problembereich freigelegt, ohne den die Wirklichkeit des Geschehens, auch die des Rechts, nicht begriffen werden kann. Zu Rußlands Verhalten im Krim-Konflikt, besonders zur Wahrnehmung der völkerrechtlich konformen Berechtigung der Russischen Föderation, die Republik Krim als neu entstandenen Staat anzuerkennen und mit diesem einen Beitrittsvertrag zu vereinbaren, wenigstens und in Frageform einige Andeutungen: Konnte es für Rußlands Entscheidungen im Krim-Konflikt gleichgültig sein, daß diese Region seit 1783 zu Rußland gehört hatte, daß im Kurort Jalta von den Alliierten im Februar 1945 die Nachkriegsordnung beschlossen wurde, und daß die Halbinsel dann 1954 auf undemokratische Weise an die Ukraine fiel? Konnte es für Rußlands Entscheidungen gleichgültig sein, daß Deutschland, dessen gegenwärtige Regierung den Staatsstreich in der Ukraine materiell und ideell unterstützte, Rußland 1914 den Krieg erklärt, im Zweiten Weltkrieg viele Millionen Russen ermordet und daß dessen Naziwehrmacht zwischen 1942 bis 1944 die Krim besetzt hatte? Konnte es für Rußlands Entscheidungen gleichgültig sein, daß die Putschisten in Kiew mit Gewalt und Verfassungsbrüchen die Macht okkupiert, Russophobe, Antisemiten und bekennende Bandera-Adepten in Staatsämter gehievt sowie die Menschenrechte nationaler Minderheiten in der Ukraine eingeschränkt hatten? Und daß deren Präsidentschaftskandidatin Julia Timoschenko sich dazu bekannte, »mit einer Kalaschnikow dem Dreckskerl (Putin; d.Red.) in den Kopf schießen« zu wollen? Konnte es für Rußlands Entscheidungen gleichgültig sein, daß die USA unter Verletzung der UN-Charta von 1945 durch ihre Aggressionspolitik in Vietnam, Afghanistan und Irak Völkerrechtsbrüche aus Prinzip begingen? Daß die NATO, auch unter Mißachtung der Aggressionsdefinition der Vereinten Nationen von 1974 Jugoslawien bombardierte und entgegen aller Zusagen ihr Territorium in den letzten 20 Jahren systematisch nach Osten ausdehnte? Und hätte Rußland unter Mißachtung der eigenen Sicherheitsinteressen abwarten sollen, bis in Sewastopol neben der eigenen Flotte auch die der NATO ankert? Hätte das nicht aber, statt dem Frieden in der Welt zu dienen, ihn eher und in Permanenz gefährdet?

Es war Niccolò Machiavelli, jener große Staatsdenker der beginnenden Aufklärung in Europa, der die jesuitische Behauptung, wonach der Zweck die Mittel heilige (»finis sanctificat media«), als Herrschaftsideologie demaskierte, und der bereits vor 500 Jahren nachwies, daß ein unter unmoralisch handelnden Staaten moralisch handelnder Staat notwendigerweise zugrunde gehe. Ist es nicht in der Welt von heute, da die übriggebliebene Supermacht für sich beansprucht, außer- und oberhalb des Völkerrechts handeln zu dürfen – George W. Bush, eine Woche, bevor die USA im März 2003 den Irak überfielen: »Der UN-Sicherheitsrat ist seiner Verantwortung nicht gerecht geworden, deshalb werden wir der unseren gerecht« –, für alle darüber Nachdenkenden schwer, die gegenwärtige Völkerrechtsordnung überhaupt für legitimierungsfähig zu halten? Zumindest ist ein Miteinandersprechen besser als ein Gegeneinanderhandeln!

* Prof. Dr. Hermann Klenner ist Rechtswissenschaftler und lebt in Berlin.

Aus: junge Welt, Montag, 16. Juni 2014


Lesen Sie auch:

Nicht legal, aber legitim
Sezessionen und Völkerrecht im Fall der Krim. Von Gregor Schirmer (10. Juni 2014)




Zurück zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Russland-Seite

Zur Russland-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Völkerrechts-Seite

Zur Völkerrechts-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage