Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Gegenangriff gescheitert

Ostukraine: Faschistenregiment "Asow" greift Aufständische nahe Mariupol an – und wird anscheinend zurückgepfiffen. Kiewer Kommandeur bestätigt: Kessel von Debalzewe geschlossen. Von Reinhard Lauterbach *

Das ukrainische Freiwilligenregiment »Asow« hat am Dienstag morgen bei Mariupol eine Offensive gegen Stellungen der Aufständischen begonnen. Während die Angreifer behaupteten, mehrere Dörfer östlich der Stadt erobert zu haben, teilte das Kiewer Kommando der sogenannten »Antiterroroperation« am Mittag mit, die ukrainischen Kräfte seien auf ihre Ausgangspositionen zurückgekehrt. Möglicherweise war der Vorstoß des Regiments nicht abgesprochen. Ein Kämpfer beschwerte sich via Facebook über »Friendly fire« seitens der ukrainischen Streitkräfte. Der Sprecher des ukrainischen Kommandos legte einen Tag vor den heute geplanten Waffenstillstandsgesprächen in Minsk Wert auf die Feststellung, die Ukraine wolle nichts erobern, sondern nur die Waffenstillstandslinie vom September wieder herstellen. Da diese weiter von Mariupol entfernt war als der aktuelle Frontverlauf, deutet diese Sprachregelung darauf hin, dass der ukrainische Angriff de facto gescheitert ist, vielleicht auch aus politischen Gründen abgeblasen wurde.

Um den Ort Debalzewe scheinen die Aufständischen derweil den Kessel geschlossen zu haben. Der für seine gelegentlich unverblümten Äußerungen über soziale Netzwerke bekannte ukrainische Bataillonskommandeur Semjon Semjontschenko postete am Dienstag, die eigenen Truppen dort seien definitiv abgeschnitten. Beide Ausfallstraßen aus Debalzewe nach Nordwesten würden von Truppen der Aufständischen kontrolliert, ob dies den »Märchenerzählern und Sofakommentatoren in Kiew« gefalle oder nicht.

Angesichts dieser Lage geht die ukrainische Seite offenbar in wachsendem Maße zum Untergrundkampf über. Wie Berichte von beiden Seiten der Front bestätigen, sind Anschlägen verdeckt kämpfender Ukrainer in den vergangenen Wochen mehrere Funktionäre der Volksrepubliken und ihrer Streitkräfte zum Opfer gefallen. Die Verluste sind aber auch bei den Angreifern hoch. Viele dieser Freischärler fallen wachsamen Bewohnern des Donbass auf und werden dann, wie es in den Meldungen heißt, »unschädlich gemacht«. Vereinzelt ist zu lesen, dass die Volkswehren Festgenommene vor Versuchen der Lynchjustiz durch Anwohner gerettet hätten.

Die im Januar ausgerufene Mobilisierung weiterer 50.000 Reservisten für die ukrainische Armee endet offenbar in einem Fiasko. Im Landesdurchschnitt sind nach ukrainischen Medienberichten lediglich etwa 25 Prozent der Männer in den betroffenen Jahrgängen bereit, sich auch nur mustern zu lassen. 20.000 Ukrainer im wehrpflichtigen Alter sind nach dortigen Angaben zuletzt innerhalb einer Woche nach Russland geflohen. In Charkiw ist die Wehrersatzbehörde dazu übergegangen, Einberufungsbefehle an die Arbeitsstellen zu verschicken, weil die Leute zu Hause die Annahme der amtlichen Schreiben verweigern. Die Männer stehen damit vor der Alternative, entweder in den Krieg zu ziehen und in ihre Jobs zurückkehren zu können, falls sie überleben, oder für die Verweigerung des Kriegsdienstes fristlos entlassen zu werden und ins Gefängnis zu gehen. Aus der Stadt Sewerodonezk nördlich von Lugansk berichtete die Beobachtermission der OSZE über zwei parallele Kundgebungen am vergangenen Wochenende: Auf der einen hätten sich 300 Frauen versammelt, um gegen die Mobilisierung ihrer Söhne zu protestieren. Durch einen Polizeikordon von ihnen getrennt, hätten etwa 50 Personen »proukrainische und antirussische Slogans« gerufen. Das Verhältnis der Teilnehmerzahlen ist wahrscheinlich charakteristisch für die Stimmungslage in der Region.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 11. Februar 2015


Geringe Chance

Vor Minsker Ukraine-Verhandlungen

Von Reinhard Lauterbach **


Die polnische Presse gefällt sich seit Anfang dieser Woche in Nachrufen auf die Ukraine. »Für den Frieden zahlt die Ukraine«, titelte am Montag die Gazeta Wyborcza, als wäre das überraschend, wenn man einen Krieg verliert. Und das konservative Elitenblatt Rzeczpospolita besichtigte am Dienstag »Trümmer von 25 Jahren polnischer Ostpolitik« und sah die Ukraine schon wieder für Jahrzehnte hinter einem »neuen Eisernen Vorhang« verschwinden, »verraten« von Deutschen und Franzosen, die »für die schwierigen Geschichten osteuropäischer Nationen« kein Verständnis hätten. Polens Rettung in dieser Situation sei ein noch engeres Bündnis mit den USA.

Der Warschauer Alarmismus mag überdreht wirken, aber er hat einen harten Kern. Angela Merkel und François Hollande haben mit ihrer Moskaureise am letzten Freitag versucht, jene politische Initiative zurückzugewinnen, die ihnen zu entgleiten drohte, als die USA begannen, öffentlich über Waffenlieferungen an die Ukraine nachzudenken. Wer am Sonntag bei »Günter Jauch« gesehen hat, wie ein hyperventilierender Europa-Parlamentschef Martin Schulz rhetorisch den diplomatischen Ansatz der EU den US-Plänen gegenüberstellte, ahnt, dass die Euro-Imperialisten offenbar wirklich fürchten, von ihrem großen Bruder ausgebootet zu werden. So wie vor einem Jahr, als das berühmte Telefonat der US-Vizeaußenministerin Victoria Nuland deutlich machte, dass aus amerikanischer Sicht auf die EU im Zweifelsfall geschissen ist.

Hollandes und Merkels Schwäche ist, dass sie das Druckpotential ihrer Verhandlungsmission nicht aus eigener Kraft kontrollieren. Denn dass die EU-Sanktionen Russland zwar schädigen, aber nicht zum Einlenken zwingen, pfeifen inzwischen die Spatzen von den Dächern. Hollande und Merkel fürchten die US-Aufrüstungsdrohungen, vor deren Hintergrund sie sich Wladimir Putin als das kleinere Übel präsentieren, und sie profitieren gleichzeitig von ihnen. Ihr Problem ist, dass sie keinen Einfluss auf die Reaktion der USA haben. Falls sie in Minsk ein Ergebnis aushandeln sollten, das den USA und ihren Kiewer Schützlingen nicht passt, werden weder Merkel noch Hollande Barack Obama daran hindern, trotzdem Waffen zu liefern. Selbst den deutschen Luftraum für US-Waffentransporte zu sperren, wäre ein rein symbolischer Akt, der solche Lieferungen nicht verhindern könnte, aber er brächte die deutsche Position der in Osteuropa mehr oder minder akzeptierten Führungsmacht der EU in Gefahr.

Dass in Minsk kein US-Vertreter dabei sein wird, ist kein diplomatischer Fauxpas. Es ist Ausdruck dessen, dass sich Obama alle Optionen offen hält. Die Frage ist daher, was Russland gewönne, wenn es sich in den Gesprächen mit Hollande und Merkel auf Zugeständnisse einließe. Das lässt die Chancen gering erscheinen, dass das Treffen in Minsk mit einem Durchbruch zu einem wenigstens kalten Frieden endet.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 11. Februar 2015 (Kommentar)


Zurück zur Ukraine-Seite

Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage