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Juden suchen Abstand zum Machtkampf

Ukrainischer Rabbiner Azman in Sorge um Provokationen in einer "gefährlichen Situation"

Von Susann Witt-Stahl, Kiew *

In einer Zeit der Anarchie fühlen sich in der Ukraine jüdische Bürger von Rechtsextremen besonders bedroht. Rabbiner Azman setzt auf eine »ausgewogene Haltung«.

Große Verunsicherung herrscht in den jüdischen Gemeinden der Ukraine. Seit dem Sturz der Janukowitsch-Regierung ist ein rechtsfreier Raum entstanden. Pro-EU-Bürgerwehren, nationalistische und faschistische Milizen streifen durch die Städte und sorgen auf eigene Faust »für Recht und Ordnung« – manchmal üben sie Rache und Selbstjustiz an politischen Feinden.

Einige Rechte nutzen auch das Chaos, um ihren Judenhass auszutoben. In der Nacht nach der Machtübernahme durch die prowestliche Opposition wurde die Giymat-Rosa-Synagoge in Saporoshje, etwa 400 Kilometer südöstlich von Kiew, mit Molotow-Cocktails angegriffen. Die Täter konnten nicht ermittelt werden. In Simferopol auf der Krim, wo rund 10 000 Juden leben, wurde vor einigen Tagen der Eingangsbereich der Ner-Tamid-Synagoge mit Hakenkreuzen beschmiert. Bereits Mitte Januar waren in Kiew ein Hebräischlehrer und ein Student nach dem Synagogenbesuch attackiert und verletzt worden.

»Wir befinden uns in einer gefährlichen Situation«, sagte Rabbiner Moshe Reuven Azman dem »nd«. »Die Polizei des alten Systems ist verschwunden, die neue ist noch nicht da: In dieser Zeit der Anarchie kann praktisch jeder kommen und im Namen der Maidan-Regierung auftreten.« In der Brodsky-Synagoge in Kiew, in der Azman seinen Sitz hat, wurden die Sicherheitsvorkehrungen mittlerweile verschärft.

In den vergangenen Jahrzehnten hätten die ukrainischen Juden, deren geschätzte Zahl von 100 000 bis 200 000 reicht, keine nennenswerten Probleme mit Antisemitismus gehabt, betont Azman. »Vor drei Wochen erhielten wir aber Informationen, dass es zu Provokationen kommen könnte, die gegen uns gerichtet sind.« Während des Sabbats seien unbekannte Personen gläubigen Juden gefolgt und hätten versucht, deren Adressen herauszufinden.

Bislang kann nicht von einer Welle antisemitischer Auswüchse gesprochen werden. Aber der Übergangsregierung gehört die nationalchauvinistische Partei »Swoboda« an, deren Chef Oleg Tjagnibok 2012 die Janukowitsch-Regierung als »russisch-jüdische Mafia« beschimpft hatte. Seit »Swoboda« vom Westen unterstützt wird – Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hatte Tjagnibok sogar zum Gespräch in der deutschen Botschaft empfangen – vermeidet ihre Führung offenbar antisemitische Pöbeleien.

Aber die schlagkräftige Anhängerschaft der Partei ficht das nicht an: »Russen, Juden und Polen kontrollieren einen großen Prozentsatz der ukrainischen Wirtschaft und Politik«, monierte kürzlich Jewhen Karas, einer der Anführer der neofaschistischen Gruppe Combat 14. Die Zahl steht für den rassistischen Grundsatz der »14 Wörter«: »Wir müssen die Existenz für unser Volk und eine Zukunft für weiße Kinder sichern.«

Die Partei »bereitet mit ihrer Rhetorik den Boden« für antisemitisch motivierte Straftaten, kritisiert Boris Fuchsmann, Präsident der Jüdischen Konföderation der Ukraine, die bisher vergeblich fordert, dass sich die westlichen Regierungen von »Swoboda« distanzieren.

Wie kompliziert die Gemengelage ist, belegt die Existenz einer rund 40-köpfigen Maidan-Kampfeinheit. Sie wird von fünf ehemaligen Soldaten der israelischen Armee angeführt, hat den Synagogen in Kiew Schutz angeboten und erhält ihre Einsatzbefehle von »Swoboda«. »Einige jüdische Bekannte fragen mich, ob sie mich nun mit ›Sieg Heil!‹ anstelle von ›Shalom‹ begrüßen sollen«, gestand der Kommandeur der Einheit der ukrainischen Zeitung »Hadashot«.

»Delta«, so sein Tarnname, steht nach eigenen Angaben sogar mit den ultranationalistischen und faschistischen Aktivisten des Rechten Sektors und der UNA-UNSO »im Dialog«. Er bedauert, dass sehr viele Juden der Maidan-Regierung mit großer Skepsis, teilweise mit Ablehnung gegenüberstehen.

Rabbi Azman dagegen bemüht sich um eine »ausgewogene Haltung«. Den Regierungswechsel will er nicht kommentieren. Die Ukraine sei zum Spielball von Machtinteressen geworden, erklärt Azman die politische Zurückhaltung der meisten Repräsentanten der jüdischen Gemeinden. »Wir dürfen uns nicht in den Konflikt hineinziehen lassen. Bekanntermaßen sind am Ende immer die Juden schuld.«

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 6. März 2014

Widersprüchliche Meldungen:

(...) Ein Team israelischer Experten ist auf dem Weg nach Kiew, um ukrainische Juden in Selbstverteidigung zu trainieren. Wie die Tageszeitung „Haaretz" am Dienstag meldete, werden drei Spezialisten etwa 30 Lehrgangsteilnehmer in Abwehrtechniken und Krisenmanagement unterrichten.
Hintergrund ist die wachsende Furcht der fast 100.000 Juden in der Ukraine, als Sündenbock zwischen die Fronten der Konfliktparteien zu geraten.
In den vergangenen Wochen waren in mehreren Landesteilen Synagogen beschädigt oder mit antisemitischen Parolen besprüht worden. Als Täter werden Ultranationalisten auf beiden Seiten des Konflikts vermutet. (...)

(Focus, 4. März 2014)


(...) In der Jüdischen Gemeinde der Stadt Kiew versteht man die Aufregung nicht, Anatoli Schengait fragt mehrfach nach, ob er richtig verstanden habe: „In Deutschland denken sie, wir fürchten uns vor den Maidan-Aktivisten?“, fragt der zierliche Mann, der unter einer Baseballkappe eine Kippa trägt. Schengait ist Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde der Stadt Kiew. „Auch unsere Gemeindemitglieder haben den Maidan unterstützt“, sagt er. Sie tun es bis heute.
„Wir sind keine Opfer“, sagt Schengait, weder von ukrainischen Nationalisten noch von russischer Regierungspropaganda. In den vergangenen Jahren habe man gut in der Ukraine leben können.
Viel mehr Sorgen macht sich Schengait über die Lage in der Ostukraine und auf der Krim. (...)

(Der Tagesspiegel, 6. März 2014)


(...) Man dürfe die Rolle von Rechtsextremen und Antisemiten in der Oppositionsbewegung in Kiew, Donezk oder Lwiw nicht überschätzen, heißt es derzeit häufig. Die Heinrich-Böll-Stiftung etwa legte eine Studie vor, derzufolge auf dem Maidan »keine extremistische, sondern eine freiheitliche Massenbewegung zivilen Ungehorsams« agiere.
Fakt ist jedoch, dass antisemitische und nationalistische Gruppen in der Opposition eine wichtige Rolle spielten. Da ist zum einen die rechtsextreme Swoboda – die der Jüdische Weltkongress in eine Reihe mit der griechischen Partei »Goldene Morgendämmerung« und der ungarischen Jobbik stellt – und zum anderen der sogenannte Rechte Sektor, eine Vereinigung rechtsradikaler und neofaschistischer Gruppen.
Einige ihrer Vertreter gehören zu den Kräften, die derzeit in Kiew die Straßen kontrollieren. Und sie werden möglicherweise auch in einer künftigen Regierung eine Rolle spielen. Vom Maidan in die Ministerien. Nicht auszuschließen, dass Mitglieder der Swoboda-Partei verantwortliche Positionen zum Beispiel in der Innenbehörde und Generalstaatsanwaltschaft einnehmen werden.

(Jüdische Allgemeine, 27. Februar 2014)




Neue Machthaber in Kiew verteilen die Beute

Zwei der reichsten Ukrainer zu Gouverneuren ernannt

Von Detlef D. Pries **


Für fast alle Gebiete der Ukraine hat die neue Regierung in Kiew inzwischen neue Statthalter ernannt. Mancher Protestteilnehmer fragt sich: »Und dafür waren wir auf dem Maidan?«

Wenn der Protest auf dem Kiewer Maidan nicht zuletzt ein Aufstand gegen die Oligarchen und »alten Eliten« war, muss er wohl als gescheitert gelten. Das verdeutlicht auch die Liste der neuen Gebietsgouverneure, die von Übergangspräsident Igor Turtschinow ernannt wurden. Wie das ukrainische Online-Journal »Westi« berichtet, soll ihm seine Parteichefin Julia Turtschinow dabei die Hand geführt haben. »Julia leitet den ganzen Prozess«, zitierte »Westi« einen anonymen Vertreter der »Vaterlandspartei« Timoschenkos, der auch Übergangspremier Arseni Jazenjuk angehört.

Bis Dienstag waren für 21 der 24 Gebiete neue Verwaltungschefs bestellt. Wie schon bei der Besetzung des Kabinetts gingen die meisten Posten – bisher zehn – an Vertreter der Timoschenko-Partei. Sechs Gebiete, vor allem in der Westukraine, wurden der rechtsnationalistischen »Swoboda« zugeteilt. Da die Partei ihr Einflussgebiet ausdehnen will, wurde ihr auch das Gebiet Poltawa südöstlich von Kiew überlassen.

Die Klitschko-Partei UDAR blieb wie bei der Regierungsbildung unberücksichtigt. »Wo weder wir noch ›Swoboda‹ die Kontrolle ausüben, da stellt Julia Vertreter der örtlichen Elite hin und hofft, dass sie zu ›eigenen Leuten‹ werden«, zitiert »Westi« seine Quelle bei »Vaterland«. Das Gebiet Dnepropetrowsk soll beispielsweise der Oligarch Igor Kolomoisky verwalten, der als zweit- oder drittreichster Mann der Ukraine gilt. Sein Vermögen wird auf 3 Milliarden Dollar geschätzt. Ein anderer Stahlmagnat, Sergej Taruta, wurde zum Gouverneur im Gebiet Donezk ernannt.

Frage eines »Westi«-Lesers: »Für die sind sie auf dem Maidan gestorben?...«

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 6. März 2014


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