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"Hunderte für einen"

Ukraines Präsident Poroschenko eskaliert Krieg im Osten. Umfassende Rache für getötete Regierungssoldaten. Aufständische melden schwere Verluste

Von Rüdiger Göbel *

Die von der Kiewer Übergangsregierung entsandten Militärkräfte sollen die Widerstandsbewegung im Osten der Ukraine vernichtend schlagen. Die Armee hat dazu am Wochenende eine Offensive gestartet. Rücksichtslos werden Städte bombardiert, bisweilen auch Häuser im benachbarten Rußland. Die Aufständischen sprachen am Montag von schweren Verlusten in den eigenen Reihen. Bei Angriffen der Luftwaffe seien 30 Kämpfer in Alexandrowka getötet worden. Das teilte laut Interfax ein Sprecher des »Informationszentrums Südostfront«, Konstantin Knirik, am Montag mit. Die Angaben decken sich mit »Siegesmeldungen« des Verteidigungsministeriums in Kiew, das fünf »Luftschläge« auf den Ort bestätigte. »Der Feind hat bedeutende Verluste erlitten«, teilte das Ministerium mit. Auch Kampftechnik sei zerstört worden.

Unklar war am Montag die Lage in Lugansk. Die Gegner des Kiewer Regimes wiesen Meldungen zurück, daß der dortige Flughafen unter Kontrolle der ukrainischen Truppen sei. Alle Angriffe seien abgewehrt worden. Die Verwaltung von Lugansk appellierte an die Einwohner, nicht auf die Straße zu gehen. Durch Artilleriebeschuß sollen in der ostukrainischen Stadt drei Zivilisten getötet und 14 weitere verletzt worden sein. »Seit Sonntag sind insgesamt 161 Ambulanzeinsätze registriert worden. 14 davon wegen Schuß- und anderen Verletzungen, weitere drei Menschen waren tot«, zitierte RIA Nowosti einen Stadtrat. Wohnhäuser, ein Schulgebäude und ein Kindergarten seien teilweise zerstört worden. Mittlerweile seien 4700 Haushalte ohne Strom. Am Nachmittag teilten Kiews Truppen schließlich mit, sie hätten den Kontakt zu einem Transportflugzeug vom Typ An-26 verloren, das bis zu 20 Menschen an Bord nehmen kann. Die Aufständischen meldeten, erneut ein Militärflugzeug abgeschossen zu haben. Vor dem Aufprall seien drei Fallschirme am Himmel gesichtet worden, das Gebiet werde nach Überlebenden abgesucht. Auch aus der Industriemetropole Donezk wurden weitere Kämpfe gemeldet. Derweil hält die Massenflucht ins benachbarte Rußland an. Die dortigen Behörden meldeten am Montag, mehr als 30000 Menschen hätten sich inzwischen als Flüchtlinge registrieren lassen. Tendenz steigend.

Die jüngste militärische Zuspitzung inklusive Bombardierung von Wohnvierteln ist von der prowestlichen Führung in Kiew gewollt. Sie ist eine Art »Sühneoperation« für einen Angriff der Aufständischen, bei dem in der vergangenen Woche 23 Soldaten starben. Präsident Petro Poroschenko hat die Maxime ausgegeben: »Für das Leben jedes Soldaten werden die Aufständischen mit Dutzenden und Hunderten ihrer Leben bezahlen.« Nicht nur die Antifaschisten in der Ostukraine erinnert die Order an das Vorgehen der deutschen Wehrmacht bei der Aufstandsbekämpfung in Ost- und Südosteuropa. So hatte Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel am 16. September 1941 für Serbien den Geiselsühnebefehl erteilt: »Als Sühne für ein deutsches Soldatenleben muß in diesen Fällen im allgemeinen die Todesstrafe für 30 bis 100 Kommunisten als angemessen gelten.«

Ein Beispiel, wie die Presse in Deutschland das jede Rücksicht aufgebende Vorgehen Poroschenkos aufnimmt, ist die Schwäbische Zeitung. Das in Ravensburg herausgegebene Blatt schilderte in seiner Montagausgabe plastisch das Kriegsgeschehen: »Verstörende, unwirkliche, brutale Bilder aus Donezk: ausgebrannte Wohnhäuser, zerstörte Brücken, Panzer in den Straßen. Die ostukrainische Bergarbeitermetropole wird von den Regierungstruppen belagert. Donezk steht vor einer möglichen humanitären Katastrophe (…). Präsident Petro Poroschenko will nicht zaudern, sondern handeln. Von Waffenstillstandsverhandlungen mit den ›Marionetten des Kremls‹ hält der neue starke Mann in Kiew nicht viel.« Welche Schlußfolgerungen zieht die Schwäbische Zeitung daraus? »Die EU muß Druck auf Rußlands Präsidenten Wladimir Putin ausüben, damit der Kreml deeskalierende Schritte unternimmt und sich von den Rebellen öffentlich distanziert.«

Während Poroschenko und Co. von der Schwabenpresse bis zum Spiegel »Carte blanche« für ihr Vorgehen im Osten erhalten, warnt die Moskauer Tageszeitung Nesawissimaja Gaseta vor einer weiteren Internationalisierung des Konflikts: »Die ukrainische Armee beschießt eine russische Stadt. Damit hat der Bürgerkrieg in der benachbarten Ukraine zum ersten Mal auch auf russischem Gebiet zu Opfern geführt. (…) Weil die ukrainische Artillerie weiter auf die Stellungen der Aufständischen schießt, werden die Geschosse auch immer häufiger auf russischem Gebiet landen. So könnte auch Rußland in den bewaffneten Konflikt hineingezogen werden.«

* Aus: junge Welt, Dienstag 15. Juli 2014


Raketen auf Wohnhaus in Sneschnoje

Trauer in der Ostukraine um getötete Mitbürger / OSZE geht an die Grenze / Schmähangriff auf Bundeskanzlerin

Von Klaus Joachim Herrmann **


Immer mehr unbeteiligte Bürger werden Opfer des Krieges um die Ostukraine. Kiew beschuldigt dafür Moskau.

Zu einem Luftangriff auf die Ortschaft Sneschnoje im ostukrainischen Gebiet Donezk kam es am Dienstagmorgen. Berichtet wurde über Tote und Verletzte. Getroffen wurde ein Wohnhaus. Die Zentralmacht in Kiew sprach von einem »Bombenangriff durch ein unbekanntes Flugzeug«.

Wie schon in ähnlichen Fällen, so auch beim Abschuss einer Transportmaschine AN-26 am Montag, wurde der Verdacht auf Russland gelenkt. Es handele sich um »eine zynische Provokation zur Diskreditierung der ukrainischen Streitkräfte«, unterstellte der Sprecher des Sicherheitsrates Andrej Lysenko. Von einem »Schlag der russischen Luftwaffe« sprach Dmitri Tymtschuk, als Sprecher des »Informationellen Widerstandes« Chefpropagandist der Kiewer Armeeführung. Von einem Angriff der ukrainischen Luftwaffe berichtete hingegen die russische Agentur RIA/Nowosti. Einwohner informierten: »Gegen 6.30 Uhr früh haben wir Flugzeuge kommen hören, die Raketen abgefeuert haben.«

Im ostukrainischen Lugansk gedenkt die Bevölkerung von Dienstag bis Donnerstag getöteter Mitbürger. In den vergangenen drei »schwarzen Tagen« verloren 17 friedliche Bürger nicht an der Front, sondern in Wohngebieten ihr Leben, informierte Bürgermeister Sergej Krawtschenko. 73 völlig unbeteiligte Menschen seien während der Kampfhandlungen verletzt worden. Allein am Montag seien acht Menschen, darunter ein Kind, ums Leben gekommen, informierte die Stadtverwaltung. Rund 5000 Haushalte seien ohne Strom. In mehr als 4000 Wohnungen gebe es kein Wasser. Auch für das Gebiet Donezk wurde offiziell Trauer angeordnet.

Das Präsidialamt in Kiew bestätigte, dass die Führung direkten Kontakt mit den Aufständischen aufnehmen wolle. Das hätten Präsident Petro Poroschenko und Bundeskanzlerin Angela Merkel telefonisch besprochen. Noch Dienstag könne es zu einer Videokonferenz der Kontaktgruppe aus Vertretern der Ukraine, Russlands, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und der »Volkswehr« kommen, hieß es laut dpa.

Wegen ihres Gespräches mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin am Sonntag wurde Kanzlerin Merkel Opfer eines Schmähangriffs. Laut UNIAN machten Ukrainer ihrer »Empörung« mit Zehntausenden Eintragungen »Danke, Frau Ribbentrop« auf der Facebook-Seite Merkels Luft. Die Außenminister Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw Molotow hatten 1939 den Nichtangriffspakt Hitlerdeutschlands mit der Sowjetunion unterzeichnet.

Nach Ansicht des früheren Generalstabschefs der ukrainischen Armee Michail Kuzin sei von russischen Truppen in Grenznähe zu Donezk und Lugansk »keine direkte Aggression« zu erwarten. Sie könnten vielmehr für »Friedens- und humanitäre Operationen« eingesetzt werden, sagte er.

Die OSZE-Mission an der russisch-ukrainischen Grenze soll am Mittwoch beginnen. Beobachter werden die Kontrollpunkte Donezk und Gukowo überwachen. Das hatte Russland angeboten.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch 16. Juli 2014


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