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"Was sollen wir nur tun?"

Misstrauen gegenüber Kiew und Angst vor Gewalt beherrschen viele Bürger in Donezk

Von Ulrich Heyden, Donezk *

In der Hochburg der »Donezker Volksrepublik« wird gekämpft. Auch in Wohnvierteln fielen Schüsse. Das tiefe Misstrauen gegenüber Kiew hat sich verstärkt.

»Wir liegen mit dem Gesicht auf dem Asphalt, man schießt auf uns«, berichtete eine Mitarbeiterin der Wirtschaftszeitung »Djelowoi Peterburg« vom umkämpften Flughafen der ostukrainischen Millionenstadt Donezk. Sie war von Soldaten der ukrainischen Nationalgarde unter Feuer genommen worden.

Entsetzt sind die Menschen in der Ostukraine, dass bei der »Anti-Terror-Operation« der ukrainischen Truppen und Sondereinheiten zunehmend Häuser von Unbeteiligten zerstört, Passanten verletzt und getötet werden wie schon in Slawjansk und am 9. Mai in Mariupol.

»Das beste wäre, wenn Vertreter beider Seiten sich auf offenem Feld treffen und dort kämpfen«, sagte mir die Leiterin eines Bekleidungsgeschäfts vor wenigen Tagen. Die Verantwortung für den Schlammassel trage die Regierung in Kiew. Dass sie höllische Angst vor den ukrainischen Truppen hat, verhehlte sie nicht.

Viele Bürger sind erschrocken, dass gegen die regierungskritischen Bewegungen im Osten und Süden Gewalt und Terror eingesetzt werden. Im Gewerkschaftshaus von Odessa verbrannten 48 Menschen, die sich vor rechten Schlägern geflüchtet hatten. Dass der Brand ausbrach, weil Militante des Rechten Sektors das Gebäude mit Molotow-Cocktails bewarfen, steht für sehr viel Bürger in der Ostukraine außer Zweifel. Eine blonde Frau von etwa 50 Jahren, die ich vor der besetzten Donezker Gebietsverwaltung traf, schrie fast, als ich sie fragte, warum sie die Wahl ablehnte: »Odessa, das ist der Grund!« Der Ukraine drohe Faschismus.

Der junge CD-Verkäufer in einem Kellergeschäft im Zentrum hält Dmitri Jarosch, den Führer des Rechten Sektors, allerdings für einen »sehr menschlichen Kerl«. Dass die Sondertruppe »Donbass« über die Dörfer zieht und Polizisten, die die Flagge der Donezk-Republik hissen, an die Wand stellt, findet er gerecht. Erschossen werden die Milizionäre ja nicht, aber man müsse ihnen Angst machen, sonst werde die Ukraine zerfallen.

Viele Menschen aus dem Osten wollen nicht in die Europäische Union, aber Russland als wichtigsten Handelspartner behalten. Sie fürchten, in einen anti-russischen Block eingebunden zu werden. Eine tiefe Enttäuschung war für sie, als die Werchowna Rada unmittelbar nach dem Machtwechsel die russische Sprache als regionale Amtssprache abschaffen wollte.

Als Wahlsieger Petro Poroschenko am Sonntag erklärte, er wolle seinen ersten Besuch in der Ostukraine machen, bekam er dafür manches Lob. Aber er nannte weder Ort noch Gesprächspartner. Gerade mit den »Terroristen« möchte er nichts zu tun haben. Doch nicht nur Angst vor »Separatisten hielt von der Präsidentenwahl ab. In den Gebieten Donezk und Lugansk fand sie auch deshalb kaum statt, weil die Bevölkerung daran nur wenig interessiert war.

Poroschenkos Oligarchen-Kollege Rinat Achmetow ist derweil nicht mehr vor Ort. Er hatte in seinen Unternehmen zu Warnstreiks gegen die »Separatisten« aufgerufen, hält sich nun in der Hauptstadt auf. Weil er seine Steuern lieber in Kiew als in Donezk bezahlen will, versuchten Demonstranten seinen Amtssitz zu stürmen. Sie sind wütend, dass der Oligarch seinen Reichtum hier mit den Kohle- und Stahlbetrieben machte, die Bewegung für eine Föderalisierung aber nicht unterstützt.

In der Donezker Gebietsverwaltung sitzen seit dem 7. April die »Separatisten«. Der Eingang und die elf Etagen des Gebäudes werden von bewaffneten Männern bewacht. Fotos sind unerwünscht. »Für meine Teilnahme an der Besetzung drohen mir 18 Jahre Gefängnis«, erklärte mir einer der Aktivisten, der auch im nicht gewählten Obersten Rat der Donezk-Republik sitzt. Doch die Vertreter der Volksrepublik fühlen sich stark.

»Ich kenne die Leute von der Donezker Volksrepublik nicht«, bekannte die 21-jährige Studentin Vera, die ich auf ihrem Heimweg traf. Der Regierung in Kiew traue sie aber nicht. Ja, es stimme, dass sich am Referendum über die Unabhängigkeit sehr viele Menschen beteiligt haben – alle ihre Bekannten hätten abgestimmt. Von mir will sie nun aber wissen, wie es jetzt weitergeht.

»Was sollen wir nur tun«, fragte auch die junge Ökonomin Ira, die ich an einer Straßenkreuzung ansprach. Die junge Frau mit den langen schwarzen Haaren fasste besorgt zusammen: »Moskau hilft uns nicht und Kiew will auf unsere Forderung nach Föderalisierung auch nicht eingehen.« Nun habe sie Angst, dass sie bald nicht mehr nach Westeuropa reisen könne, wo sie schon oft und gerne war.

In einem Café im Einkaufszentrum »Donezk City« traf ich mich mit Sergej Furmanjuk. Der Journalist ist Sprecher von Julia Timoschenkos Vaterlandspartei in Donezk. Mehr als ein paar Hundert Menschen kämen nicht zu Kundgebungen der Maidan-Anhänger, erklärte er. Seit dem Mord an einem Mitglied der Partei Swoboda Anfang März trauten sich nur noch wenige Menschen, die für Kiew seien, auf die Straße. Gegen diejenigen, die sich offen zur Regierung in Kiew bekennen, gebe es regelrechten Terror, klagte Furmanjuk. Aktivisten würden überfallen und sogar entführt. Donezk sei schon immer eine Region gewesen, in der die Kiewer Regierung nichts zu sagen hatte, klagte der Parteisprecher. Schuld an allem ist für ihn die »Sowjetmentalität«.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch 28. Mai 2014

Gefechte mit allen Mitteln

Kumpel begannen Streik

Bergleute von vier Donezker Schachtanlagen reagierten auf die anhaltenden Kampfhandlungen am Dienstag mit einem Streik, wie auf der offiziellen Webseite der »Republik Donezk« mitgeteilt wurde. Die Kumpel hätten sich geweigert einzufahren und ein sofortiges Ende der Kämpfe gefordert, hieß es. Nach Angaben der Führung der abtrünnigen Region sind seit Beginn der Zusammenstöße am Montag etwa 100 Menschen, davon 20 bis 50 Zivilisten beim Beschuss von Wohnvierteln durch die ukrainische Armee ums Leben gekommen. Bodentruppen wurden von Kampfjets, Militärhubschraubern und Fallschirmjägern unterstützt. Die »Bürgerwehr« von Lugansk verstärkte die Milizen in Donezk.

Der ukrainischen Armee warf die Führung der »Republik Donezk« vor, in der Nähe des umkämpften Flughafens zwei Krankentransporte der Bürgerwehr attackiert und 15 Menschen getötet zu haben. Augenzeugen haben laut ITAR/TASS bestätigt, dass zwei Lkw, die Verletzte transportierten, sowohl vom Boden als auch aus der Luft angegriffen worden seien. Davor hätten Scharfschützen die beiden Fahrer erschossen.

Der Einsatz der Armee, der Nationalgarde und des Rechten Sektors zur Niederschlagung des Widerstands im Südosten werde beim Besuch des Präsidenten Petro Petroschenko »kaum gute Bedingungen für einen freundlichen Empfang im Gebiet Donezk schaffen«, äußerte Russlands Außenminister Sergej Lawrow.

Hoffnungen auf einen raschen Dialog zwischen Moskau und Kiew wurden gedämpft. Übergangsregierungschef Arseni Jazenjuk erklärte zum jetzigen Zeitpunkt bilaterale Verhandlungen mit Russland ohne die USA und die EU für »ausgeschlossen«. Ein Besuch Poroschenkos in Russland sei vorerst nicht geplant, hieß es aus Moskau. khe

(nd, 28.05.2014)


Krieg im Donbass

Kämpfe um Donezk werden immer blutiger. Dutzende bis Hunderte Tote vermeldet. Streit um Artilleriebeschuß von Wohnvierteln

Von Reinhard Lauterbach **


Kiewer Regierungstruppen versuchten am Dienstag offenbar, die Stadt Donezk von den Aufständischen zurückzuerobern. Über der Stadt kreisten den ganzen Tag Militärflugzeuge, gaben aber keine Schüsse ab. Nachdem die Regierungstruppen am Montag den Angriff der Aufständischen auf den internationalen Flughafen der Stadt zurückgeschlagen hatten, drangen sie am Dienstag in Richtung Stadtzentrum vor. Zuvor hatten sie über soziale Netzwerke die Bevölkerung aufgefordert, in ihren Wohnungen zu bleiben. Schulen und viele Geschäfte waren geschlossen. In der Bevölkerung kam es zu Hamsterkäufen von Brot, Mineralwasser und anderen Lebensmitteln. In mindestens vier Schachtanlagen der Region Donezk begannen die Bergleute mit einem Streik gegen die Militäroperation der Kiewer Machthaber.

Über die Zahl der Toten verbreiten beide Seiten unterschiedliche Angaben. Laut Kiewer Regierungsstellen sollen bei den Kämpfen bis zu 200 Aufständische ums Leben gekommen sein, ohne daß die eigenen Truppen Verluste erlitten hätten. Der Bürgermeister von Donezk sprach von etwa 40 Toten, überwiegend Kämpfern der »Volksrepublik Donezk«. Die Aufständischen berichteten im übrigen von etwa 35 eigenen Toten durch den Beschuß eines Verwundetentransports. Der Lastwagen sei mit Rotkreuzfahnen gekennzeichnet gewesen, als Scharfschützen des »Rechten Sektors« erst den Fahrer und dann die im Innern des Fahrzeugs liegenden Verwundeten einen nach dem anderen erschossen hätten. Der russische Fernsehsender Life News zeigte Bilder eines LKW, in dem eine größere Anzahl von Toten in Kampfanzügen lag.

Mindestens fünf Zivilisten starben in der Aufstandshochburg Slowjansk bei Artilleriebeschuß auf Wohngebiete. Die Aufständischen vermeldeten bis zu 50 dabei getötete Zivilisten. Am Dienstag mittag trafen mehrere Geschosse den Innenhof einer Wohnanlage, wo sich auch ein Kindergarten befindet. Er war allerdings wegen der Kämpfe geschlossen. Beide Seiten beschuldigten sich gegenseitig, für diesen Beschuß verantwortlich zu sein. Die Kiewer Seite behauptete, der Beschuß sei aus einer schweren Selbstfahrhaubitze vom Typ ­NONA gekommen, die die Aufständischen vor einigen Tagen erbeutet hätten – von einer solchen Eroberung war allerdings zuvor nie die Rede gewesen. Die Aufständischen hätten ihre eigenen Leute beschossen, um die Kiewer Truppen zu diskreditieren, so der Sprecher des Kiewer Innenministeriums. Allerdings dürften die Regierungstruppen derartige Geschütze – selbst wenn sie denn von der anderen Seite erobert worden sein sollten – nicht zum Spaß aus den Kasernen geholt haben. Schon in den letzten Tagen hatten die Aufständischen großkalibrige Blindgänger präsentiert, die vom Einsatz schwerer Artillerie durch die Regierungstruppen zeugen. Anwohner posteten auf Twitter Bilder ukrainischer Artilleriestellungen außerhalb von Slowjansk.

Während russische Politiker den Beschuß der Wohnviertel sarkastisch als »erste Veränderung seit der Wahl Poroschenkos« kommentierten, erhob die ukrainische Seite erneut Vorwürfe gegen Rußland, die Situation im Donbass zu destabilisieren. In der Nacht zum Dienstag sei eine Lastwagenkolonne gestoppt worden, die Waffen und tschetschenische Kämpfer über die russisch-ukrainische Grenze habe bringen wollen, erklärte das Kiewer Außenministerium. Die russischen Grenzbeamten hätten den Konvoi durchgelassen, behauptete der Sprecher.

** Aus: junge Welt, Mittwoch 28. Mai 2014


Drittes Massaker

Bürgerkrieg in der Ukraine

Von Arnold Schölzel ***


Der Milliardär Petro Poroschenko will im Donbass ein »Somalia« verhindern, und zwar schnell, aber zugleich einen »Dialog« führen. So trat der Schokoladenprinz als zukünftig fünfter Präsident der Ukraine am Montag an. Wenige Stunden danach begann der Beschuß von Milizstellungen und Wohngebieten in ostukrainischen Großstädten durch Panzer und Artillerie der ukrainischen Armee. Augenzeugen berichten, daß Lastkraftwagen vom Typ Kamas mit rotem Kreuz, die verwundete Kämpfer transportierten, angegriffen wurden. Bis Dienstag nachmittag gab es fast 100 Tote unter Aufständischen und Zivilisten. Westliche Nachrichtenagenturen und Presseportale nahmen davon bis Redaktionsschluß praktisch keine Notiz. Kein Politiker der NATO oder der EU rief dazu auf, das Feuer einzustellen, das überließen sie dem russischen Präsidenten.

Damit setzt sich ein Verhalten fort, das die Wertegemeinschaftler bereits bei den beiden früheren Massakern in diesem Monat in Odessa und in Mariupol an den Tag legten. Bei den Toten handelt es sich im hiesigen Sprachgebrauch um »Prorussen«, im Jargon der Kiewer Putschisten um »Russenschweine« und »Saujuden«, so der Maidan-Anführer und Chef der Regierungspartei Swoboda, Oleg Tjagnibok, Gesprächspartner von Grünen, SPD und CDU/CSU.

Poroschenko hat aus den westlichen Hauptquartieren ebenso wie schon die im Februar eingesetzte Regierung, an deren Führung er nichts ändern will, die Carte blanche für Staatsterrorismus gegen die eigene Bevölkerung. Die »Versöhnung«, über die er am Dienstag mit Bundeskanzlerin Angela Merkel telefonisch sprach, hat die Vernichtung des sozialen und politischen Gegners zur Voraussetzung.

Die Aufgabe Poroschenkos sei, teilte die FAZ am Dienstag mit, »eine Art Neugründung des von Korruption zerfressenen und ineffizienten ukrainischen Staates«. Ohne Schmiergeld und Staatsverfall hätte der Magnat allerdings keine Milliarden anhäufen können. Durch die Übernahme der Präsidentschaft kann Poroschenko im Stil seiner Amtsvorgänger das Ausplünderungsverfahren erheblich vereinfachen. Das wäre ganz im Sinne von Weltbank, Währungsfonds, US- oder deutscher Regierung, die in der Ukraine statt organisierter Kriminalität und Gangsterkrieg deren »zivilisiertes« Gegenstück, ein neoliberales Ausplünderungsregime, installieren möchten. Allerdings eins, das neofaschistischen Terror einschließt.

Denn das entspricht dem Charakter der Verhältnisse. Dem barbarischen Reichtum der Poroschenko und Co. entspricht der Absturz der Bevölkerung in die soziale Barbarei. Nur Armenien und Moldawien liegen in Europa beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hinter der Ukraine zurück. Das ist die Quelle für Revolte auf dem Maidan wie im Donbass, aber auch für den terroristischen Klassenkampf von oben. Frank-Walter Steinmeier behauptete, mit dem von ihm angezettelten Februarputsch sei Blutvergießen beendet worden. Er hat es in einen vom Westen geförderten, wahrscheinlich langandauernden Bürgerkrieg überführt.

*** Aus: junge Welt, Mittwoch 28. Mai 2014 (Kommentar)


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