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Flackerndes Friedenssignal aus Genf

Skepsis auf beiden Seiten der ukrainischen Front / Obama droht Russland nach wie vor mit Sanktionen

Von Detlef D. Pries *

Auch nachdem sich Russland, die USA, die EU und die Ukraine am Donnerstag in Genf auf einen Fahrplan zur Lösung der ukrainischen Krise geeinigt haben, bleiben die Fronten starr.

Verzicht auf Gewalt, Einschüchterungen und Provokationen, Entwaffnung aller illegalen bewaffneten Gruppen, Räumung illegal besetzter Gebäude, Straßen und Plätze – das sind Kernforderungen der Erklärung, die von den Chefdiplomaten Russlands, der USA, der EU und der Ukraine am Donnerstag in Genf vereinbart worden war. Die Forderungen richteten sich ausdrücklich an alle Konfliktparteien. Gewaltverzicht wird demnach nicht nur von »prorussischen Aktivisten« in der Ostukraine, sondern auch von der Regierung in Kiew verlangt, darin eingeschlossen ist die Entwaffnung des ultranationalistischen »Rechten Sektors« ebenso wie die Räumung des Kiewer Maidan, was der ukrainische Außenminister Andrej Deschtschiza jedoch bestreitet.

Auch im Westen wird die Erklärung reichlich einseitig interpretiert. So drohte US-Präsident Barack Obama in einem Telefonat mit Bundeskanzlerin Angela Merkel ausschließlich Russland mit weiteren Sanktionen, »falls sich die Deeskalation nicht in kurzer Zeit vollzieht«. Russlands Präsident Wladimir Putjn hatte am Donnerstag in einer Fernsehfragestunde noch einmal bestritten, dass separatistische Kräfte in der Ukraine von russischem Militär angeleitet würden. »Es gibt im Osten der Ukraine überhaupt keine russischen Einheiten«, sagte Putin, der sich zugleich zu einem »echten Dialog« bereit erklärte, obwohl er die derzeitige Führung in Kiew als »nicht legitim« bezeichnete, da sie »kein nationales Mandat« besitze.

Denis Puschilin, einer der Führer der ostukrainischen »Donezker Republik«, erklärte denn auch laut AFP: »Wir sind einverstanden, dass die Gebäude geräumt werden müssen. Aber zuerst müssen (Regierungschef) Jazenjuk und (Übergangspräsident) Turtschinow die Gebäude verlassen, die sie seit ihrem Staatsstreich illegal besetzen.« Überdies habe der russische Außenminister Sergej Lawrow die Genfer Erklärung im Namen Russlands unterzeichnet, »nicht in unserem Namen«. Ein Referendum über die regionale Autonomie der Donezk-Region werde daher weiter für den 11. Mai vorbereitet. Die Genfer Erklärung verpflichtet die Regierung in Kiew zum »breiten nationalen Dialog, der alle ukrainischen Regionen erreicht«. Premier Arseni Jazenjuk beharrte indes auf dem zu Wochenbeginn angeordneten »Anti-Terror-Einsatz«, der allerdings derzeit »nicht in einer aktiven Phase« ist, wie eine Geheimdienstsprecherin erklärte.

Beim Angriff ostukrainischer Aufständischer auf einen Militärstützpunkt in Mariupol waren am Donnerstag mindestens drei Menschen zu Tode gekommen. In der Nacht zum Freitag wurde unbestätigten Angaben zufolge in Slawjansk ein Mensch getötet.

Die Ukraine verwehrt russischen Männern zwischen 16 und 60 Jahren derzeit die Einreise. Aus Anlass der Osterfeiertage wurde jedoch eine Lockerung der Kontrollen angekündigt.

* Aus: neues deutschland, Samstag 19. April 2014


Russland schuf die »Bedingungen«

Putin räumt Einsatz russischer Einheiten auf der Krim vor dem Referendum ein

Von Irina Wolkowa, Moskau**


Erwartungsgemäß drehten sich die meisten Fragen bei der großen Fernseh-Fragestunde des russischen Präsidenten Wladimir Putin am Donnerstag um die Krise in der Ukraine und den Umgang mit ihr.

Zur gleichen Zeit, da in Genf die Außenminister Russlands, der Ukraine und der USA zusammen mit Europas Chefdiplomatin Catherine Ashton nach politischen Lösungsansätzen suchten, beantwortete Wladimir Putin knapp vier Stunden lang Fragen aus verschiedenen Regionen Russlands. Nach dem Genfer Treffen sprachen russische Beobachter von Anfangserfolgen und Licht am Ende des Tunnels. Wie lang der ist, sei jedoch unklar. Ebenso, ob die Akteure sich an die in Genf getroffenen Abmachungen halten, die vor allem die Eskalation der Gewalt stoppen sollen. Dafür plädierte auch Putin bei seiner Bürgersprechstunde mehrfach. Gleichzeitig warnte er die Führung in Kiew vor gewaltsamen Lösungen in der Ostukraine.

Der Faktor Gewalt, so der Präsident, sei zwar eine geopolitische Konstante, aber »nicht maßgebend«. Russland setze beim Krisenmanagement auf ein »starkes Völkerrecht«. Die Staaten müssten sich vom gesunden Menschenverstand leiten lassen und Verhaltensregeln festlegen, die »stabil sind und es ermöglichen, Einvernehmen zu erzielen und nach Kompromissen zu suchen, ohne zu Gewalt zu greifen«.

Putin verwies dabei auf die Entwicklungen in Irak, Afghanistan und Libyen und auf Versuche der USA. eine unipolare Welt zu schaffen. Dem liege die Illusion zugrunde, dass sich alles nur durch Gewalt lösen lasse.

Auf die Frage, ob Russland militärisch in die Entwicklungen in der Ostukraine eingreifen wird, sagte Putin, das Mandat, das der Föderationsrat ihm dazu auf dem Höhepunkt der Krimkrise Anfang März erteilte, sei nach wie vor gültig. Er hoffe jedoch, »dass es uns gelingen wird, alle akuten Probleme der Ukraine mit politischen und diplomatischen Mitteln zu regeln.« Man dürfe nach dem Beitritt der Krim zu Russland jedoch nicht in Euphorie verfallen. Russland, so Putin weiter, habe die Schwarzmeerhalbinsel nicht annektiert. Die – überwiegend russischsprachigen – Bewohner hätten sich dafür durch freie Willensäußerung entschieden.

Erstmals – und das war wohl die einzige Überraschung bei den 85 Fragen, die Putin beantwortete – räumte er in diesem Zusammenhang jedoch ein, was er noch Anfang März bestritten hatte: den Einsatz regulärer Streitkräfte und Spezialeinheiten auf der Krim, die als prorussische sogenannte Selbstschutzeinheiten getarnt waren. »Selbstverständlich«, sagte Putin wörtlich, hätten sie »die Bedingungen für das Referendum geschaffen, das sonst nicht hätte stattfinden können«.

Der kritische Militärexperte Alexander Golz sah darin das Eingeständnis, dass die Eingliederung der Krim mit militärischen Mitteln erfolgt sei. Zugegeben habe Putin das jetzt nur, weil längeres Leugnen aufgrund der Beweislast sinnlos und die »Operation letztendlich von Erfolg gekrönt war«. Zumindest kurzfristig. Der Langzeitschaden, warnte Politikwissenschaftler Dmitri Oreschkin, sei beträchtlich und würde das ohnehin gestörte Vertrauen zwischen Russland und dem Westen weiter untergraben.

Putin selbst sah das anders. Moskau, sagte er bei der Fragestunde, trage daran keine Schuld. Reparabel sei der Schaden nur durch Berücksichtigung der Interessen des jeweils anderen und durch Verzicht auf »doppelte Standards«. Gemeint war vor allem westliche Kritik an russischen Vergleichen zwischen den Entwicklungen auf der Krim und der Abspaltung Kosovos von Serbien.

Doppelte Standards und westliche Sanktionen, orakeln russische Medien seit Tagen, würden Moskau nachgerade in ein antiwestliches Militärbündnis mit Peking drängen, über Details werde der Präsident bei seinem Besuch in China im Mai verhandeln.

Putin dementierte. Russland habe nicht die Absicht, ein militärpolitisches Bündnis mit China zu gründen. Aber auch ohne dieses werden die russisch-chinesischen Beziehungen ein wesentlicher Faktor der Weltpolitik sein, derart vertrauensvolle Beziehungen im militärischen Bereich habe es nie zuvor gegeben.

Auf die Beziehungen zur derzeitigen Führung der Ukraine angesprochen, sagte Putin: »Heute halten wir diese Behörden für nicht legitim, und als solche können sie auch nicht gelten, denn sie verfügen über kein nationales Mandat für die Verwaltung des Landes.« Dennoch lehne Moskau Kontakte, »mit wem auch immer«, nicht ab. Als Beispiele nannte er Gespräche, die der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedjew mit dem amtierenden ukrainischen Premier Arseni Jazenjuk und Staatsduma-Chef Sergej Naryschkin mit Interimspräsident Alexander Turtschinow geführt hätten.

Das Parlament der von der Republik Moldau abtrünnigen Dnjestr-Republik hatte Russland und die UNO am Mittwoch zur Anerkennung ihrer Unabhängigkeit aufgerufen. Putin ging darauf nicht direkt ein, beklagte aber, dass an der Grenze zwischen der Dnjestr-Republik und der Ukraine nationalistische bewaffnete Verbände konzentriert seien. »Diese Situation muss beendet werden. Die Menschen müssen selbstständig über ihre Zukunft entscheiden dürfen.« Darauf werde Russland gemeinsam mit seinen Partnern hinarbeiten.

** Aus: neues deutschland, Samstag 19. April 2014


Verhärtete Fronten

Ukraine: Militär setzt Angriffe im Donbass fort. Aufständische stellen Bedingungen, Kiew lehnt ab und schürt Separatistenhysterie. Oligarchen bieten Kopfgelder

Von Reinhard Lauterbach ***


In der Ukraine gibt es nur wenige Anzeichen, daß die Genfer Vereinbarung vom Donnerstag verwirklicht wird. Die Truppen der Kiewer Machthaber griffen in der Nacht in Slowjansk Stellungen der Aufständischen an und töteten einen von ihnen. Am Freitag verkündete eine Regierungssprecherin in Kiew dann eine Pause der »aktiven Phase« des »Antiterroreinsatzes« über die Osterfeiertage. Die Sprecherin des ukrainischen Sicherheitsdienstes sagte, der Einsatz werde dauern, »solange noch ein Terrorist auf unserem Boden ist«. Man kann das als indirektes Angebot freien Abzugs nach Rußland sehen.

Die Aufständischen im Donbass haben sich unterdessen auch von Rußland distanziert. Ein Sprecher der »Volksrepublik Donezk« sagte, man fühle sich an die Genfer Vereinbarungen nicht gebunden. Rußland habe kein Verhandlungsmandat von ihnen bekommen und habe im eigenen Namen unterzeichnet. Die Protestierenden seien »Leute von hier« und hätten ihre eigenen Ziele. Für diese These spricht der Umstand, daß Sprecher der Besetzer in verschiedenen Städten des Donbass für eine Entwaffnung und Räumung der besetzten Gebäude Gegenforderungen stellten, die sich im einzelnen unterscheiden. In einer Stadt wurde Kiew aufgefordert, zuvor die Kämpfer des »Rechten Sektors« und der »Nationalgarde« aus dem Donbass abzuziehen. Anderswo wollten die Kämpfer nicht aufgeben, bevor nicht die Übergangsregierung zurücktritt oder ein Referendum über den Status der Region abgehalten wird. An dritter Stelle wurde verlangt, zunächst den Maidan in Kiew aufzulösen und »das illegal besetzte Parlament und die Präsidialverwaltung zu räumen«.

Die Kiewer Machthaber haben offenbar nicht vor, auf irgendwelche dieser Forderungen einzugehen. Über die in Genf vereinbarte Amnestie werde man »nachdenken«, wenn die Aufständischen zuvor kapituliert hätten, revidierte »Ministerpräsident« Arseni Jazenjuk nachträglich den Verhandlungsstand. »Außenminister« Andrij Deschtschyzja erklärte, im Unterschied zu den Rathausbesetzungen in Donezk und Umgebung finde der Kiewer Maidan legal statt. Mit der Gründung der »Nationalgarde«, die sich im wesentlichen aus Angehörigen der »Maidan-Selbstverteidigung« und des »Rechten Sektors« zusammensetzt, haben die Machthaber schon vor Wochen die auf ihrer Seite stehenden bewaffneten Formationen formal legalisiert, so daß sie sich auf den Standpunkt stellen können, die entsprechende Vereinbarung in Genf gelte nicht für sie.

Statt dessen schüren die Kiewer Machthaber Separatistenhysterie in anderen Teilen des Landes. So behauptete ein Sprecher der Gebietsverwaltung in Zaporizzhja, russische Spezialeinheiten seien in die Stadt unterwegs. Passenderweise am Gründonnerstag versuchten dem Regime treue Oligarchen in Dnipropetrowsk und Donezk unterdessen, durch finanzielle Angebote Aufständische zur Kapitulation oder zum Verrat zu ködern. In Donezk wurden pro abgegebene Maschinenpistole 1000 US-Dollar geboten, für ein MG 1500, einen Granatwerfer 2000 – und für die Auslieferung eines »ausländischen Söldners« 10000. Für die Übergabe eines ganzen besetzten Gebäudes können sich Verräter mit 200000 Dollar den Grundstock einer neuen Existenz schaffen. Plakate auf den Straßen von Donezk bebilderten die Gleichung für eventuelle Analphabeten: Vermummter Bewaffneter x 10 = dickes Auto.

*** Aus: junge Welt, Samstag 19. April 2014


Fahrplan ohne Ankunftsgewähr

Detlef D. Pries über Reaktionen nach dem Genfer Ukraine-Treffen ****

Durchbruch? Eine Sensation, wenn auch nur eine kleine? Gewiss, was nach siebenstündigen Beratungen aus dem Genfer Hotel »Intercontinental« verlautete, war nicht von vornherein zu erwarten gewesen. Schon wegen der unterschiedlichen Sichtweisen, mit denen die Teilnehmer angereist waren. In Kiew wurde das Treffen gern »Drei plus Eins« genannt und als »Drei gegen Eins« interpretiert: die Ukraine, unterstützt von den USA und der EU, gegen Russland. Nur um die Zurückweisung der vermeintlichen »russische Aggression« sollte es nach den Vorstellungen der neuen ukrainischen Machthaber gehen.

Dieses Vorhaben wenigstens ist gescheitert. Der Ärger darüber ist hörbar. Die Genfer Erklärung fordert nämlich auch von Kiew, sich jeder Gewaltanwendung zu enthalten und künftig die Interessen aller Regionen und ihrer Bewohner zu wahren. War es doch nicht zuletzt der faktische Ausschluss des russischsprachigen Südostens von gesamtukrainischen Entscheidungen, der dort Ängste und Wut auslöste. Wladimir Putin kann die besetzten Verwaltungssitze nicht räumen, vielmehr ist es Aufgabe der ukrainischen Führung, sich um das Vertrauen derer zu bemühen, die sie – vorsichtig gesagt – vor den Kopf gestoßen hat. Wer schon wieder nur Russland mit Sanktionen droht, falls es keine Fortschritte im Sinne der Genfer Erklärung gibt, wird das Ziel unweigerlich verfehlen. Entworfen wurde am Genfer See ein Friedensfahrplan. Dass der Zug am gewünschten Ziel ankommt, ist aber längst nicht garantiert.

**** Aus: neues deutschland, Samstag 19. April 2014 (Kommentar)


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