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Ukrainische Miliz mit Russlands Georgsband

Föderalisten stürmten weitere Verwaltungen / Anhaltende Rätsel um die Mission der Militärbeobachter

Von Klaus Joachim Herrmann *

Während in der Ostukraine erneut Verwaltungen gestürmt wurden, warf die Mission der festgesetzten Militärbeobachter weitere Fragen auf.

In der ostukrainischen Stadt Lugansk stürmten am Dienstag rund 3000 Föderalisten nach einer Kundgebung die Gebietsverwaltung. Die Angehörigen der Miliz liefen zu ihnen über, wie die Agentur UNIAN berichtete. Sie legten das gestreifte Georgsband, ein russisches Tapferkeitssymbol, an. In der Ortschaft Perwomaisk wurde der Stadtsowjet besetzt und die Fahne der »Lugansker Republik« gehisst. Insgesamt sind damit in mehr als einem Dutzend Städte Gebäude besetzt.

Um 14 Uhr Ortszeit war ein Ultimatum der ostukrainischen Protestbewegung abgelaufen. Darin wurden eine Amnestie für Protestteilnehmer, die Anerkennung von Russisch als Staatssprache und ein Referendum über regionale Selbstbestimmung gefordert.

Der Präsidentschaftskandidat der Bewegung »Süden – Osten«, Oleg Zarjow, zog seine Bewerbung zurück. Er sei »unter Verletzung aller demokratischer Normen« gehindert worden, auf die Probleme der Region in der Ukraine und in der Hauptstadt aufmerksam zu machen. Die durch einen Putsch an die Macht gekommene Führung verfolge Andersdenkende und arbeite auf die Spaltung des Landes hin. Er forderte alle Kandidaten aus dem Südosten zum Boykott der Präsidentenwahl auf.

Die Bemühungen zur Freilassung der in der Ostukraine festgehaltenen Militärbeobachter kamen nach Angaben von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier nicht voran. Zwei Verhandlungsrunden hätten keine »substanziellen Fortschritte« gebracht, sagte der SPD-Politiker. Damit blieben die am Freitag in der Ostukraine festgesetzten Militärbeobachter aus Deutschland, Polen, Tschechien und Dänemark in der Gewalt prorussischer Kräfte. »Wir haben für sie die besten Bedingungen geschaffen«, sagte Wjatscheslaw Ponomarjow, der »Volksbürgermeister« von Slawjansk, gegenüber der Agentur Interfax. Er hält an seiner Absicht fest, seine »Gäste«gegen in Kiew festgenommene Anhänger auszutauschen.

Unterdessen mehren sich Fragen zum Einsatz des Verifikationsteams. Es ist bereits der vierte bilateral vereinbarte Einsatz seit dem 5. März in der östlichen Ukraine. Die Regierung hat das Parlament über diese Tätigkeit der Bundeswehroffiziere nicht informiert. Nicht einmal Russlandbeauftragter Gernot Erler (SPD) konnte Dienstag mitteilen, wer wann die Entsendung der Soldaten beschlossen habe.

Die Präsidenten Russlands und Kasachstans, Wladimir Putin und Nursultan Nasarbajew, trafen sich am Abend in Belorusslands Hauptstadt Minsk mit ihrem Amtskollegen Alexander Lukaschenko zum Gipfel der Eurasischen Wirtschaftsunion.

Die NATO bestätigte einen russischen Truppenabzug von der Grenze zur Ukraine bis zum Abend nicht. Kritik erntete Altkanzler Gerhard Schröder für die Feier seines 70. Geburtstages mit Präsident Putin.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch 30. April 2014


Wer servierte »OSZE-Beobachter«?

Kein Kontakt zu Entführten – unklare Verantwortung bei geheimer Operation in der Ukraine

Von René Heilig **


Seit dem 5. März nimmt die Bundeswehr an Beobachtermissionen in der Ostukraine teil. Sie sind bilateral mit der neuen Kiewer Führung vereinbart. Wurde die nunmehr vierte Gruppe als Köder serviert?

Die das in dieser Situation angeordnet haben, »haben nicht alle Tassen im Schrank«, schimpft der Grünen-Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele und nennt solche Operationen »unverantwortlich«. Denn so könnte es Entwicklungen geben, »die Obama und Putin nicht mehr steuern können«. Auch der Außenpolitikexperte der Linksfraktion Stefan Liebich will Auskunft darüber haben, wer die Beobachtermissionen am Parlament vorbei befohlen hat. Eine Einladung der ukrainischen Seite ist ihm als Begründung nicht genug, um Soldaten in die Krisenregion zu schicken. Auch nicht, wenn sie dem Zentrum für Verifikationsaufgaben, also dem scheinbaren diplomatischen Dienst der Bundeswehr, zuzuordnen sind.

Wer die Mission angeordnet hat, ist unklar. Entsprechende »nd«-Nachfragen wurden am Dienstag vom Verteidigungsministerium nicht beantwortet. Und das, obwohl Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) am Montagnachmittag das Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr in Geilenkirchen besuchte. Sie ließ sich von Brigadegeneral Jürgen Beyer, dem Chef der 140 Mann starken Einheit, ausführlich informieren. Doch ihr anschließendes Statement war bestenfalls einsilbig.

Die rechtliche Grundlage für die Exkursion – neben der weitgehend problemlos verlaufenden OSZE-Beobachtermission von 140 Experten – ist das Wiener Dokument über Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung. Es wurde zwischen 57 Mitgliedsstaaten der OSZE geschlossen.

Im Berliner Auswärtigen Amt beruft man sich insbesondere auf das Kapitel X, Artikel 144.9 (Vereinbarung zusätzlicher Inspektions- und Überprüfungsbesuche durch Nachbarstaaten, insbesondere in Grenzgebieten) aus dem Jahr 2011. Die Gruppe von Bundeswehroberst Axel Schneider, der von den prorussischen Kräften am Sonntag in Slawjansk vorgeführt wurde, hatte – so sagte Schneider in einem Interview mit dem Bayrischen Rundfunk am vergangenen Mittwoch selbst – ausschließlich den Auftrag, »reguläre staatsbewaffnete Kräfte« zu beobachten. Man kümmere sich um »Einheiten der Streitkräfte der Ukraine«, nicht um Aufständische oder gar russische Spezialeinheiten.

Angesichts dieser Erläuterungen durch den Delegationschef fragt man sich, wie es geschehen konnte, dass die Militärbeobachter in Zivil die letzten Vorposten der ukrainischen Streitkräfte hinter sich lassen und in von Aufständischen beherrschtes Gebiet gelangen konnten. Immerhin war ihr Bus begleitet von Polizeifahrzeugen und ukrainischen Militärs. Nach allem, was sich derzeit ohne Kontakt zu den Inhaftierten herausfinden lässt, wurde der Bus vier Kilometer vor Slawjansk, dem Zentrum der Aufständischen, gestoppt. Das lässt zumindest den Verdacht zu, dass die von Kiew eingeladenen Beobachter Opfer einer geheimen Operation geworden sind, dass sie jemand quasi als Geisel angeboten hat. Wer? Nutznießer der Entführer von angeblichen OSZE-Mitarbeitern sind jene, die Russlands Unrechtssystem an den internationalen Pranger stellen und die Sanktionspolitik verschärfen wollen.

Wie rasch man in der Öffentlichkeit gefährliche Debatten auslösen kann, zeigen massive Forderungen nach dem Einsatz der KSK-Elite. Schließlich seien die Spezialkräfte für die Geiselbefreiung ausgebildet. Glücklicherweise hat die Bundeswehr solchen abenteuerlichen Gedanken ein klares »Nein« entgegengesetzt.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch 30. April 2014


Shell und BP bleiben mit Russland im Geschäft

Neue Sanktionen Washingtons werden in Moskau nicht recht ernst genommen

Von Irina Wolkowa, Moskau ***


Die neuen Sanktionen haben in Russland unverhoffte Gewinne gebracht. An der Börse stiegen die Kurse.

Es waren zwei gute Tage für Larissa Sjomina. Die pensionierte Volkswirtschaftlerin spekuliert »ein ganz klein bisschen« an der Börse und streicht »endlich wieder« Gewinn ein. »Trotz neuer westliche Sanktionen, besser gesagt: genau deshalb.«

Schon als US-Präsident Barack Obama am Montag des Update der Blacklist – der schwarzen Listen mit den Namen russischer Spitzenbeamter und Konzernlenker bekannt gab, die wegen der Ukraine-Krise mit Einreiseverboten und Sperrung ihrer Auslandsaktiva gestraft wurden, legten Kurse russischer Unternehmen und der Rubel kräftig zu. Dienstag – am Abend zuvor hatte auch Europa Stufe zwei der Sanktionen in Kraft gesetzt – ging es nochmals kräftig aufwärts.

Zwar sind Experten weniger euphorisch und sprechen nur von Kurzzeiterholung. Dieses Phänomen erklären allerdings auch sie damit, dass die neuen Sanktionen reinen Symbolcharakter hätten. Konzerne wie Shell oder Britisch Petroleum BP denken nicht daran, ihr Russlandgeschäft zurückzufahren. Beide sind strategische Partner des staatlichen russischen Ölförderers Rosneft. Dessen Vorstand Igor Setschin, der zum engsten persönlichen Freundeskreis von Wladimir Putin zählt, steht an prominenter Stelle auf den schwarzen Listen des Westens.

Doch Shell und Rosneft begannen letzte Woche mit der Förderung in der Arktis und BP, das knapp 18 Prozent der Rosneft-Anteile hält, will sich das Geschäft ebenfalls nicht vermiesen lassen. »Wir sind der Investitionspolitik gegenüber Rosneft treu und wollen in Russland weiter langfristig anlegen… Derzeit versuchen wir, die möglichen Folgen dieser Sanktionen einzuschätzen«, zitierten Agenturen einen BP-Sprecher, der anonym bleiben wollte.

Zwar drohte das Außenamt, Moskau werde die Sanktionen »nicht unbeantwortet lassen«. Doch nicht Ressortchef Sergej Lawrow verkündete dies, sondern stellte dazu Stellvertreter Sergei Rjabkow ab. Rjabkow kontra Obama – eine protokollarische Demütigung. Es war nicht die einzige Kröte, die der Chef des Weißen Hauses schlucken musste. Andrej Klimow,Chef des außenpolitischen Ausschusses im Senat, nannte ihn einen »Papiertiger«, der die Welt mit seinen Sanktionen »immer mehr zum Lachen bringt«. Früher oder später, so zitierte ihn RIA/Nowosti, würden Washingtons »Satelliten« – also die europäischen NATO-Mitglieder – ihm das Vertrauen entziehen. Die Politiker stünden schon jetzt unter massivem Druck der Wirtschaft.

Auch würden nach der Europawahl Kommissionspräsident José Manuel Barroso oder die in Russland höchst unpopuläre Chefdiplomatin Catherine Ashton neuen Politikern Platz machen müssen. In das Europaparlament würden auch »Nationalisten – im konservativen Sinne des Wortes – einziehen«. Klimow hofft, dass die eher Russland unterstützen.

*** Aus: neues deutschland, Mittwoch 30. April 2014


Lukaschenko kommt nicht mit Panzern

Von Klaus Joachim Herrmann ****

Zählt sie auch zu den treuen Verbündeten Moskaus, erweist sich das Herangehen der Respublika Belarus an die ukrainische Krise doch als differenziert. Am aufregendsten blieben freilich bislang die Gerüchte. Das größte wies Präsident Alexander Lukaschenko persönlich zurück: Er werde niemals mit Panzern in Kiew einfahren, versicherte er im Interview mit einer ukrainischen TV-Station. Keinesfalls würden Belarus vom Norden und Russland vom Südosten beim Nachbarn einfallen.

Die Verlegung von NATO-Kräften in Nachbarländer wie Polen und das Baltikum sehe Belarus vorläufig gelassen, wurde Dmitri Mirontschik, Sprecher des Außenamtes in Minsk, am Donnerstag nach einem Briefing von der russischen Agentur RIA/Novosti zitiert. Doch hatte sich der Staatschef bereits vorher von Moskau mit Kampffliegern verstärken lassen.

In der strikten Ablehnung von Sanktionen steht Präsident Lukaschenko unzweifelhaft an der Seite Russlands. Unter der medienwirksamen Beschuldigung, »letzter Diktator Europas« zu sein, ist der autokratisch regierende Lukaschenko seit rund zwei Jahrzehnten ja selbst Strafmaßnahmen ausgesetzt. Die würden den Betroffenen aber eher helfen, eigene Kräfte zu mobilisieren, argumentiert er. Wohl auch in dieser Logik nannte Lukaschenko Sanktionen gegen Russland »völligen Schwachsinn«.

Andererseits fährt der Partner in Minsk durchaus nicht millimetergenau den Kurs des Kremls. Er wahrt eine zuweilen schon demonstrative Neutralität in der russisch-ukrainischen Auseinandersetzungen. So begab sich Lukaschenko auch zu einem offiziellen Besuch des Übergangspräsidenten Alexander Turtschinow nach Kiew und zeigte danach »große Zufriedenheit«. Er werde aber nichts, was Russland betreffe, ohne Abstimmung mit Russland tun, versicherte er vorsichtshalber. Er sah sich schon dem Verdacht ausgesetzt, Vorteil aus der Krise ziehen zu wollen.

Die Föderalisierung der Ukraine, also die von Moskau bevorzugte Variante, hält der Chef aus Minsk für »zerstörerisch«, da sie die Ukraine spalten würde. Kaum zufällig pries er vor dem Parlament als »kostbarstes Gut« die Unabhängigkeit. Zur Angliederung der Krim wurde als seine Wertung »gefährlicher Präzedenzfall« zitiert, öffentlicher Protest führte aber tagelang ins Gefängnis, klagte die Opposition. Gerade an ihre Adresse ging aber eine Beschwörung Lukaschenkos, die ihren Ursprung in den frühen Tagen des Maidan haben dürfte: Wir brauchen einen tiefen und ehrlichen öffentlichen Dialog. Dafür war der Präsident bislang nicht bekannt.

**** Aus: neues deutschland, Mittwoch 30. April 2014


Rußland zieht Truppen ab

Ukraine: Zusammenstöße in Donezk. Faschisten marschieren in Lwiw

Von Reinhard Lauterbach *****


Rußland hat nach den Worten von Verteidigungsminister Sergej Schojgu begonnen, seine Truppen von der ukrainischen Grenze abzuziehen. Bei einem Telefongespräch mit seinem US-Amtskollegen Charles »Chuck« Hagel sagte Schojgu nach russischen Angaben am Montag, die Rückführung der Soldaten an ihre Standorte sei möglich geworden, nachdem die Kiewer Machthaber erklärt hätten, sie planten keinen Militäreinsatz gegen die Bevölkerung des Donbass.

Unterdessen mehren sich offenbar die Zwischenfälle im internationalen Luftraum über der Ost- und Nordsee. Wie die NATO bekanntgab, haben US-Maschinen, die aus Litauen aufgestiegen waren, ein russisches »Spionageflugzeug« vom Typ Il-20 abgefangen und zum Abdrehen gezwungen. Nach westlichen Angaben hat Moskau seine Überwachungstätigkeit über dem Baltikum intensiviert. Die NATO bringt dies mit der Krimkrise in Verbindung, ohne dazuzusagen, daß sie selbst ihre Luftstreitkräfte in dieser Region deutlich verstärkt hat.

In Donezk kam es am Montag zu Zusammenstößen zwischen zwei Demonstrationen mit gegensätzlicher Stoßrichtung. 14 Menschen wurden teilweise schwer verletzt. Die Darstellungen gehen dabei zwischen den Konfliktparteien extrem auseinander. Während westliche und Kiewer Medien berichten, Anhänger der »Volksrepublik Donezk« seien mit Knüppeln und Eisenstangen über abziehende Teilnehmer einer Kundgebung für die Einheit der Ukraine hergefallen, liest es sich in russischen Quellen anders. Danach kam es zu den Auseinandersetzungen am Rande einer Demonstration von Faschisten im Stadtzentrum; Rechte und Fußball-Hooligans hätten Parolen zur Glorifizierung der SS-Division »Galizien« gerufen, deren Gründungstag sich am Montag zum 70. Mal jährte. Polnische Medien bestätigten, daß es zumindest in der westukrainischen Metropole Lwiw eine Demonstration zum Andenken an die SS-Division gegeben habe. Dort hätten sich etwa 500 Rechte versammelt.

Im Donbass übernahmen die Aufständischen in fünf weiteren Ortschaften und kleineren Städten Verwaltungsgebäude. In Kramatorsk zog die Stadtverwaltung neben der ukrainischen Flagge auch die der »Volksrepublik Donezk« auf. Beide sollen bis zu einem Referendum nebeneinander wehen. In Kiew beauftragte der Sicherheitsrat die Übergangsregierung, Voraussetzungen für eine gesamt­ukrainische Volksabstimmung zum künftigen Staatsaufbau zu schaffen.

***** Aus: junge Welt, Mittwoch 30. April 2014


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