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Brüchige Waffenruhe

Beschuss im Donbass geht weiter. Kiew will schwere Waffen nicht abziehen. Merkel: Frieden wird kompliziert

Von Reinhard Lauterbach *

Die Waffenruhe im Donbass wird immer häufiger gebrochen. Die ukrainische Seite warf den Aufständischen vor, sie hätten schon am Sonntag insgesamt 112mal die Regierungstruppen beschossen. Solange dies nicht aufhöre, würde die Armee ihre schweren Waffen nicht von der Frontlinie abziehen. Ähnlich äußerten sich Vertreter der Aufständischen über die Kiewer Seite. Nach ihren Angaben wurde am Montag mittag der Flughafen von Donezk mehrfach mit Artillerie angegriffen.

Schwerpunkt der Schusswechsel sind im Norden der Abschnitt um Debalzewe und im Süden bei Mariupol. Im Norden versuchen die Aufständischen nach eigenen Angaben zu verhindern, dass die bei Debalzewe eingeschlossenen Ukrainer aus dem Kessel ausbrechen. Die ukrainische Seite bestreitet, dass es einen solchen Kessel gibt. Der Regierungsseite sei es mehrfach gelungen, Munition und Versorgungsgüter in den Ort zu bringen. Unabhängige Aussagen zur Lage liegen nicht vor.

Östlich von Mariupol lieferten sich Aufständische und Kämpfer des Freikorpsbataillons »Asow« Kämpfe um die Ortschaft Schirokino. Ein von den Faschisten ins Internet gestelltes Video zeigt den Einsatz von Granatwerfern und Panzern auf Kiewer Seite.

Die international nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk stellten inzwischen zusätzliche Bedingungen dafür, dass sie sich an den Waffenstillstand halten. Ihre Verhandlungsführer erklärten, die Ukraine müsse die Militäraktion im Donbass vollständig abbrechen, und außerdem auf ihre Bestrebungen, der NATO beizutreten, verzichten. Anderenfalls würden die Aufständischen alle Beziehungen zu Kiew abbrechen.

Die Erklärung kam, nachdem am Wochenende führende Kiewer Politiker Elemente der Minsker Vereinbarung zurückgenommen hatten. So erklärte Außenminister Pawlo Klimkin, eine eventuelle Amnestie werde nicht für die Anführer des Aufstandes und jene gelten, die »Verbrechen gegen die Menschheit« begangen hätten. Auch bestritt Kiew, dass es in Minsk Zusagen über eine Verfassungsreform und eine Dezentralisierung des Landes gemacht habe. Von solchen Reformen hatte wiederum Russland abhängig gemacht, dass die Ukraine die Kontrolle über die Grenze zwischen Russland und dem Donbass zurückerhält.

Die Entwicklung löste international Besorgnis aus. Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte in Berlin, es werde sehr kompliziert werden, den Waffenstillstand umzusetzen. Das Auswärtige Amt kündigte an, im Weltsicherheitsrat eine russische Resolution zur Bekräftigung der Minsker Vereinbarungen zu unterstützen. Der Vertreter Großbritanniens im Sicherheitsrat erklärte dagegen, es sei noch zu früh, sich in dieser Frage festzulegen.

Unterdessen wurde bekannt, dass die ukrainische Seite den USA falsche Fotos über die angebliche Präsenz russischer Truppen in der Ostukraine vorgelegt hat. Der republikanische Senator James Inhofe hatte vergangene Woche Bilder gezeigt, die nicht in der Ukraine, sondern 2008 in Georgien gemacht worden waren. Die Fälschung ist dabei außerordentlich plump: Eines der Bilder zeigt russische Panzer vor einer Hochgebirgskulisse, wie es sie in der Ostukraine nicht gibt.

Als Quelle der Fälschung wurde der für seine umfangreichen Internetaktivitäten bekannte ukrainische Freiwilligenkommandeur Semjon Semjontschenko genannt. Er habe sie den USA bei einem Besuch im Herbst 2014 übergeben, als er mit dem Pentagon die Ausbildung seiner Truppe durch US-Spezialisten für Guerillakrieg vereinbarte.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 17. Februar 2015


Feuer und Wasser

Zu den Chancen des Friedens im Donbass

Von Reinhard Lauterbach **


Bereits am Donnerstag war klar, dass der ausgehandelte Waffenstillstand für den Donbass kaum Chancen auf Erfolg haben würde. Zu gegensätzliche Interessen prallen aufeinander. Zu ausgeglichen ist indes das Kräfteverhältnis, als dass eine Seite sich gezwungen sähe, ohne Rücksicht auf den damit verbundenen Gesichtsverlust nachzugeben. Die Vermutung liegt nahe, dass die Vereinbarung von Minsk von Anfang an vor allem darauf berechnet war, der Gegenseite die Verantwortung für ihren Bruch zuweisen zu können.

Angela Merkel und François Hollande ging es mit ihrer Verhandlungsmission darum, für die EU ein Stück diplomatischer Initiative zurückzugewinnen. Sie fuhren nach Minsk in der Hoffnung, von Russland jene Konzessionen »im Guten« zu erhalten, von denen niemand weiß, ob Moskau sie unter dem Druck US-amerikanischer Waffenlieferungen an die Ukraine – einige tausend Tote später – machen würde.

Washington wäre es gewiss recht gewesen, wenn Russland den Aufständischen mit sofortiger Wirkung den Nachschub gesperrt hätte – es also sein Ziel auch ohne die Ausgabe von einer Milliarde Dollar für Waffen an die Ukraine erreicht hätte. Aber solange sich die USA zu nichts Konkretem verpflichtet haben und sich die Option der Waffenlieferungen offenhalten, wäre es für Russland eine leichtfertige Verhandlungsstrategie gewesen, auf Merkels und Hollandes vage Zusagen seine Trümpfe aus der Hand zu geben. Aus russischer Sicht geht es nicht um irgendeinen Flecken Erde Tausende Kilometer entfernt. Für Russland ist der Krieg um die Zukunft der Ukraine eine Auseinandersetzung um seine eigene strategische Sicherheit.

Petro Poroschenko hat sich auf die Vereinbarung von Minsk eingelassen, weil er innenpolitisch die nächste militärische Niederlage der ukrainischen Armee – deren Oberkommandierender er ist – nicht überleben würde. Schon jetzt sägen Ministerpräsident Arseni Jazenjuk und Oligarchenkollege Igor Kolomojskij an seinem Stuhl. Die wachsende Enttäuschung der Ukrainer über die Verteilung der Kriegslasten und die Folgen der »Strukturreformen« tun ein Übriges.

Wenn Poroschenko, kaum zurück in Kiew, anfängt, bei den in Minsk gemachten politischen Zusagen zurückzurudern, zeigt das den Druck, unter dem er steht. Doch Poroschenko ist Russland wahrscheinlich lieber, als Jazenjuk und Co. Andernfalls wäre Moskau nicht bereit gewesen, sich auf die Formelkompromisse über die noch auszuhandelnde Verfassungsreform einzulassen.

Dass sich Vertreter der Volksrepubliken, die in Minsk nicht mitverhandelt haben, nun mit Forderungen – wie der Verhinderung eines NATO-Beitritts – zu Wort melden, ist weniger grotesk, als es auf den ersten Blick erscheint. Moskau opfert die Fassade der Unabhängigkeit der Republiken, um klarzustellen, dass es sich mit formalen Zugeständnissen Kiews nicht zufrieden geben wird.

Aber kein Formelkompromiss kann verdecken, dass die Partei des Krieges in Kiew und die Aufständischen im Donbass einander wie Feuer und Wasser gegenüberstehen. Den Konflikt einzufrieren, ist das Beste, was momentan an Optionen auf dem Tisch liegt.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 17. Februar 2015 (Kommentar)


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