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"Ode an die Freude" auf dem Maidan

EU-Assoziation in Kiew gefeiert und von Moskau kritisiert / Abtrünnige Region formiert eigene Strukturen

Von Klaus Joachim Herrmann *

Auf dem Kiewer Maidan erklang die »Ode an die Freude«. Rund 1000 Menschen feierten hier die EU-Assoziation der Ukraine als Sieg.

Mit seiner Unterschrift unter den wirtschaftlichen Teil des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union vollendete der ukrainische Präsident Petro Poroschenko am Freitag in Brüssel auch politisch den Sturz seines Vorgängers. Viktor Janukowitsch hatte im November 2013 mit seiner Abkehr von der EU und der Hinwendung zu Russland heftige Proteste und eine innenpolitische Krise ausgelöst. Die kostete ihn sein Amt und zwang den noch im Jahr 2010 in einer Stichwahl gegen Julia Timoschenko erfolgreichen Präsidenten ins russische Exil.

Nun feierte der Nachfolger Ende Juni 2014 einen »historischen Tag« und »eine vollkommen neue Perspektive«. Begleitet wurde er im Zentrum Kiews von einem Orchester. Das intonierte Beethovens »Ode an die Freude« und die ukrainische Hymne.

Die Moskauer Deutung des Ereignisses war eher düster. Russlands Präsident Wladimir Putin erklärte, der »verfassungswidrige Putsch in Kiew und die Versuche, die Ukrainer vor eine künstliche Wahl zwischen Europa und Russland zu stellen«, hätten zu einer Spaltung der Gesellschaft und einer »schmerzvollen internen Konfrontation geführt«. In der Krise wurde auch die der Ukraine zugehörige Halbinsel Krim unter Berufung auf die Willensbekundung der dortigen Bevölkerung wieder an Russland angegliedert.

Scharfe Kritik am Partnerschaftsabkommen selbst überließ Putin dem Kremlsprecher Dmitri Peskow. Der beklagte laut Agentur Interfax, dass weder Kiew noch Brüssel mit Moskau über Folgen der Unterzeichnung gesprochen hätten. »Wenn das Abkommen in Kraft tritt, werden wir natürlich alles Nötige zum Schutz unserer Wirtschaft unternehmen«, warnte er. Vizeaußenminister Grigori Karassin räumte ein, dass zwar jeder souveräne Staat über derartige Assoziierungsabkommen entscheiden könne. Doch würden die Folgen der Unterschriften »zweifellos ernst sein«. Erwartet wird beim Eintreten der Ukraine in den EU-Binnenmarkt, dass Russland Zölle für Waren aus dem Nachbarland erheben wird.

Die bewaffneten Auseinandersetzungen in der Ostukraine waren trotz der Feuerpause fortgesetzt worden. In Donezk besetzten Milizen der abtrünnigen Region nach fast siebenstündigem Schusswechsel einen Stützpunkt der Nationalgarde. Nahe der seit Wochen umkämpften Stadt Slawjansk zerstörten Regierungseinheiten einen Kampfpanzer ihrer Gegner. Das Blutvergießen im Südosten habe zu einer »humanitären Katastrophe« geführt, beklagte Russlands Präsident in einer vom Fernsehen übertragenen Ansprache. »Es ist entscheidend, dass die Ukraine auf den Weg des Friedens, des Dialogs und der Versöhnung zurückfindet«, sagte er.

Die »Volksrepubliken« Donezk und Lugansk hatten am Vortag ihre Union unter dem Namen »Noworossija« (Neurussland) ratifiziert. Der Chef der südukrainischen Bewegung »Südost« und frühere Präsidentschaftskandidat Oleg Zarjow sei nun deren Parlamentsvorsitzender, berichtete RIA/Novosti. In dem Gremium seien die »Volksrepubliken« mit je 30 Abgeordneten vertreten.

Nach den Worten Zarjows könne eine wirkliche Feuerpause »nur nach dem Abzug der ukrainischen Truppen« eintreten. Er beklagte die Schwierigkeit von Absprachen, weil die bewaffneten Kiewer Formationen keine einheitliche Führung hätten. Befehligen würden sie verschiedene Kommandeure, darunter auch Oligarchen. »Ich denke, dass in der Ukraine jetzt das passiert, was für sie immer charakteristisch war: zu viel Hetmane und sonstige Machthaber.«

Die abtrünnige Region versucht, weitere eigene Strukturen zu bilden. So wurde aus Lugansk die Bildung eines Komitees für Staatssicherheit unter der Abkürzung KGB berichtet. Es sei eingerichtet für Bereiche wie Spionageabwehr, Antiterrorkampf und Kriminalitätsbekämpfung.

* Aus: neues deutschland, Samstag 28. Juni 2014


Ultimatum an Moskau

EU fordert Rußland auf, die ukrainischen Aufständischen bis Montag zur Kapitulation zu bewegen. Poroschenko unterzeichnet in Brüssel Assoziierungsvertrag

Von Reinhard Lauterbach **


Die Ukraine ist mit der EU assoziiert. Präsident Petro Poroschenko unterzeichnete in Brüssel beim EU-Gipfel das Assoziierungsabkommen. Gleichartige Verträge schloß die EU auch mit Georgien und der Republik Moldau. Die Abkommen sehen freien Handel vor und verpflichten die osteuropäischen Länder, ihr Rechtssystem auf allen Gebieten an das der EU anzupassen. Die Verträge sehen auch die Verpflichtung zur Unterstützung der EU-Außen- und Militärpolitik vor, ohne daß die assoziierten Staaten auf deren Formierung Einfluß hätten. Bei der Unterzeichnung sagten EU-Vertreter, die Abkommen seien kein Schlußpunkt der Beziehungen zwischen Brüssel, Kiew, Tbilissi und Chisinau, sondern ein Übergangsstadium. Beitrittstermine wurden nicht genannt, jedoch schloß Erweiterungskommissar Stefan Füle eine spätere Mitgliedschaft nicht aus.

Einstweilen gaben die EU-Regierungschefs Kiew freie Hand für die Fortsetzung seiner Militäroperation im Donbass. Rußland setzten sie dagegen ein Ultimatum bis zum Montag, sich »konstruktiv an der Umsetzung des Friedensplans von Präsident Poroschenko zu beteiligen«, im Klartext, die Rebellen zur Aufgabe zu bewegen. Die russische Regierung rief dagegen Poroschenko auf, die am Freitag abend auslaufende Waffenruhe zu verlängern, um Zeit für einen Verhandlungsprozeß mit den Aufständischen zu gewinnen. Poroschenko erklärte nach Angaben von Diplomaten in Brüssel, er werde die Feuerpause um 72 Stunden bis Montag abend 22 Uhr Ortszeit verlängern. Ein Berater von Innenminister Arsen Awakow hatte zuvor erklärt, die ukrainischen Truppen hätten die Feuerpause genutzt, um ihre Vorräte aufzufüllen und ihre Ausbildung zu verbessern. Die Zeit der Ruhe sei nicht vertan worden, versicherte der Mann. Er kündigte eine politische Säuberung des Donbass im Falle eines Sieges an. Die Führer und Sympathisanten der Aufständischen müßten durch den Entzug des aktiven und passiven Wahlrechts aus dem öffentlichen Leben entfernt werden, ansonsten werde sich das Problem noch Jahrzehnte hinziehen.

Unterdessen unternahmen die Aufständischen einen Versuch, kurz vor dem Ablauf der ohnehin löchrigen Waffenruhe militärische Fakten zu schaffen. Wie am Freitag mittag bekanntwurde, eroberten sie die Ortschaft Sewersk im Gebiet Donezk von der Nationalgarde zurück. Damit sei der Belagerungsring um Slowjansk durchbrochen, erklärte ein Sprecher gegenüber der Agentur Interfax. Zu Angriffen auf Stellungen der Regierungstruppen kam es auch in Artjomowsk, Kramatorsk und anderen Orten. Dabei sollen die Aufständischen nach Angaben aus Kiew Panzer und schweres Gerät russischer Herkunft eingesetzt haben. In Donezk stürmten Aufständische eine Kaserne der Nationalgarde und vertrieben die Einheit. Es gab etliche Tote auf beiden Seiten, jedoch keine entscheidenden Erfolge einer Konfliktpartei.

Angesichts der andauernden Kämpfe fliehen immer mehr Menschen aus der Ukraine. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR haben allein in der letzten Woche über 16000 Bewohner des Donbass ihre Häuser verlassen und sind geflohen. Insgesamt sind nach UN-Zählungen in den letzten drei Monaten rund 165000 Ukrainer geflohen, zwei Drittel davon nach Rußland. Rußland zählt rund 400000 Flüchtlinge aus der Ukraine seit dem Umsturz. Unter den Binnenflüchtlingen innerhalb der Ukraine sind nach den Angaben des UNHCR etwa 12000 Bewohner der Krim. Die Gesamtzahl der ethnischen Ukrainer auf der Krim lag vor dem Referendum bei etwa 500000.

** Aus: junge Welt, Samstag 28. Juni 2014


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