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Friendly fire auf Kiew

US-Organisation "Human Rights Watch" wirft ukrainischer Armee Einsatz von Streubomben vor. Regierung dementiert und spricht von Provokation der Aufständischen

Von Reinhard Lauterbach *

Die US-amerikanische Organisation »Human Rights Watch« hat den Parteien des Kriegs im Donbass vorgeworfen, die international geächteten Streubomben eingesetzt zu haben. Mitarbeiter der Organisation listeten in einer am Montag veröffentlichten Erklärung mindestens zwölf Fälle solchen Streubombeneinsatzes auf. Insbesondere in zwei Fällen vom 2. und 5. Oktober gebe es »besonders starke Indizien« dafür, dass ukrainische Regierungstruppen diese Geschosse abgefeuert hätten.

Der Gebrauch solcher Geschosse in Gebieten mit Zivilbevölkerung verstoße wegen deren ungezielter Wirkung gegen das Kriegsvölkerrecht und stelle möglicherweise ein Kriegsverbrechen dar. Streumunition explodiert noch vor dem Aufschlag und verteilt großflächig kleinere Sprengsätze. Sie wurde entwickelt, um Gelände für gegnerische Truppen unpassierbar zu machen. In zivil bewohnten Bereichen fallen besonders oft Kinder den Tochterbomben zum Opfer.

Auch die US-Zeitung New York Times (NYT) stärkte die Kette der Indizien gegen Kiew. Das Blatt berichtete am Dienstag über Zeugenaussagen von Bauern im Aufstandsgebiet, die Blindgänger solcher Streumunition auf ihren Feldern gefunden hätten, nachdem Raketen aus Richtung der ukrainischen Stellungen auf Donezk abgefeuert worden seien. Ein von der NYT befragter Arzt in einem Donezker Krankenhaus bestätigte, Splitter von Streubomben aus dem Körper eines Verletzten herausoperiert zu haben. Der Mediziner warf der Kiewer Seite einen gezielten Vernichtungsfeldzug gegen die Bevölkerung des Donbass vor: »Die sind nicht richtig im Kopf«, zitiert ihn die US-Zeitung.

Die ukrainische Regierung wies die Vorwürfe zurück. Die ukrainische Seite setze keine Streubomben ein, weil der Präsident dies verboten habe. Tatsache ist jedoch, dass die Ukraine – unter anderem neben Russland und den USA – zu den Ländern gehört, die eine internationale Konvention gegen Streubomben nicht unterzeichnet haben.

Ein von der New York Times befragter Arzt in einem Donezker Krankenhaus warf der Kiewer Seite einen gezielten Vernichtungsfeldzug gegen die Bevölkerung des Donbass vor.

Der Kiewer Armeesprecher Wladislaw Selesnjow ging aus dem Dementi direkt zum Gegenangriff über und behauptete, »Human Rights Watch« und die NYT seien Provokationen der Aufständischen aufgesessen. Denn wenn es zu Streubombeneinsatz komme, dann von seiten der Aufständischen, die damit die ukrainische Regierung in schlechtes Licht stellen wollten. So seien in einem Dorf in der Nähe der im Juli von Kiewer Truppen zurückeroberten Stadt Slowjansk ebenfalls Streubomben gefunden worden. Zu deren mutmaßlichem Abschussdatum äußerte sich der Sprecher nicht.

Vorwürfe wegen Kriegsverbrechen begleiten den Konflikt um das Donbass schon seit dem Sommer. Zuerst ging es um den Einsatz von Phosphorbomben durch die ukrainische Luftwaffe. Nachdem diese durch die Flugabwehr der Aufständischen stark dezimiert wurde und faktisch nicht mehr eingesetzt wird, ist es um die Angelegenheit still geworden. Der Beschuss von Wohnvierteln im Aufstandsgebiet durch Distanzwaffen wie schwere Artillerie und Raketenwerfer ist trotz des Waffenstillstands vom 5. September Alltag. Praktisch jeden Tag sterben dadurch Zivilisten. In diesem Zusammenhang hat die ukrainische Propaganda einen Stellungswechsel vorgenommen. Hieß es anfangs noch, die Aufständischen beschössen ihr eigenes Hinterland, so werden solche Vorfälle neuerdings als »Provokationen« dargestellt, was immerhin ein halbes Eingeständnis darstellt, wer die Granaten und Raketen tatsächlich abschießt.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 22. Oktober 2014


Ukraine: Widespread Use of Cluster Munitions

Government Responsible for Cluster Attacks on Donetsk. Human Rights Watch, October 20, 2014




Bomben-Verbrechen

Klaus Joachim Herrmann über Streumunition im Ukraine-Krieg **

Das ukrainische Militär widersprach umgehend. Es habe natürlich keine Streubomben auf die Stadt Donezk werfen lassen. Das sei nicht erlaubt und Waffen würden ohnehin nicht in zivilen Wohnvierteln angewandt. Das habe der Präsident und Oberkommandierende verboten. Auch wenn all das zutreffen würde, wäre noch längst nicht alles in bester Ordnung.

Mehr Ernsthaftigkeit, Mühe und Geist wäre die Zurückweisung der Anschuldigung der Menschenrechtler wert gewesen. Immerhin handelt es sich um den schweren Verdacht und klare Hinweise, geächtete Munition eingesetzt und ein Kriegsverbrechen verübt zu haben. Dass diese Bomben wahllos und noch Jahre später vor allem immer wieder Kinder töten, sind bittere Gründe für Ächtung und Verbot. Allein sie wären Anlass genug, dem bösen Verdacht mit allen Mitteln und Möglichkeiten nachzugehen. Denn am Einsatz der Bomben selbst hat niemand gezweifelt, das Verbrechen ist gewiss.

Nun ist aber die Aufklärung von Verbrechen im ukrainischen Krieg bislang ergebnislos. Untersuchungen der Todesschüsse vom Maidan, des Sterbens in den Flammen des Gewerkschaftshauses von Odessa und des Abschusses eines Zivilflugzeuges haben bislang aber auch gar nichts gebracht. Im üblichen Fall werden einfach der Gegner oder gar die Opfer für schuldig erklärt. Das wird auf Dauer hoffentlich nicht genügen – auch international.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 22. Oktober 2014 (Kommentar)


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