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Ukrainische Extremisten rücken vor

Ultrarechte Kräfte reden auch nach den Wahlen mit und besetzen "gesäuberte" Posten

Von Marian Krüger *

Nach den schlechten Wahlergebnissen der rechtsextremen Parteien in der Ukraine schalten viele auf Entwarnung. Doch der reale politische Einfluss ist gewachsen. In Kiew verhandeln vor allem die Wahlsieger des Präsidentenblocks Poroschenko und der Volksfront von Premier Arseni Jazenjuk ihre Koalition. Die Regierungsbildung steht bevor, ebenso eine umfassende »Säuberung« des Staats- und Beamtenapparates. Posten sind zu besetzen und zusätzliche werden frei.

Dabei gehen aber auch die vermeintlichen Unterlegenen nicht leer aus. Wenn auch der berüchtigte »Rechte Sektor« klar die Fünfprozenthürde bei den ukrainischen Parlamentswahlen riss und die neofaschistische Swoboda-Partei daran knapp scheiterte. Sie ist auf den Status einer westukrainischen Regionalpartei mit nur noch sieben über Direktmandate gewählten Abgeordnete zurückgestutzt.

Die Radikale Partei des militanten rechtsradikalen Demagogen Oleg Ljaschko gewann hingegen 22 Mandate. Geht es nach dem Vorsitzenden des Poroschenko-Blocks, Juri Luzenko, soll Ljaschko aber nicht in die Koalition eintreten dürfen. Der amtierende Ministerpräsident Jazenjuk, in dessen Volksfront nicht wenige Kommandeure der rechten »Freiwilligenbataillone« zu den Wahlen kandidiert haben, will dagegen bislang nicht auf Ljaschkos Stimmen verzichten. So ist es derzeit keineswegs auszuschließen, dass erneut eine offen rechtsextreme Partei an der Regierung in Kiew beteiligt wird.

Dass Präsident Petro Poroschenko den Demagogen Ljaschko aus der Regierung heraushalten will, sollte nicht den Blick darauf verstellen, dass unter seiner Präsidentschaft Kernforderungen namentlich der Swoboda in Gesetzesform gegossen wurden. Das von der Swoboda seit Langem geforderte Lustrationsgesetz zur »Säuberung« des Staatsapparates und der Beamtenschaft von wirklichen oder angeblichen Anhängern des gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch ist noch kurz vor den Wahlen beschlossen worden.

Weiter gekommen ist die Swoboda auch mit ihrer Forderung, die Gewalt- und Pogromtradition der ukrainischen Nationalisten in die Staatsräson der Ukraine zu integrieren. Der Gründungstag der faschistischen Ukrainischen Aufständischenarmee wurde per Dekret am 14. Oktober als »Tag der Verteidiger der Ukraine« Nationalfeiertag.

Auch wenn Swoboda-Führer Oleg Tjagnibok in Kiew gegen das für seine Partei höchst unangenehme Wahlergebnis protestierte, dürften seine Gesinnungsgenossen sich vielleicht mehr denn je Hoffnungen auf Posten machen. Viele werden aufgrund der mit dem Lustrationsgesetz vorangetriebenen Säuberung des Staatsapparates frei. Schließlich hatte Tjagnibok selbst mehrfach erklärt, dass die Wahlen als Weg zur Macht nicht so sehr im Vordergrund stehen wie der unmittelbare Gewinn von Einfluss auf den Staatsapparat.

Wie Radio Ukraine mitteilte, hat Innenminister Arsen Awakow bereits 91 Beschäftigte entlassen, darunter 8 Generale. Der neue Verteidigungsminister Stepan Poltorak kündigte die Bestrafung von Beamten an, die ihre Pflichten im Rahmen der sogenannten Antiterroroperation im Donbass verletzt hätten. Damit ist keineswegs die Ahndung oder auch nur die Aufklärung der zahlreichen Übergriffe und Morde an Zivilisten gemeint. Poltorak greift eine Forderung rechter Milizen auf, die ihre einschneidenden militärischen Niederlagen in den Augustwochen nicht auf eigenes Versagen, sondern das der regulären Militärführung zurückführen. Deren Köpfe würden sie gern rollen sehen.

Wer auf die freien Plätze nachrücken könnte, zeigt eine Meldung des britischen Portals »Solidarity with the Antifascist Resistance in Ukraine«. Demnach ist Juri Michalstschischin, einer der Chefideologen der Swoboda, aus der Partei ausgetreten, um künftig die Propaganda- und Analyseabteilung des Geheimdienstes SBU zu leiten. Michalstschischin rief 2005 ein »Joseph-Goebbels-Zentrum für politische Forschung« ins Leben, das er später stilsicher nach Ernst Jünger umbenannte. Im Sommer 2014 schlug er die Einrichtung eines Ministeriums für Propaganda als Teil der Aufstandsbekämpfung in der Ostukraine vor.

* Aus: neues deutschland, Montag, 10. November 2014


Einsatz von Brandbomben in Ostukraine

Kämpfe in Donezk eskaliert / OSZE äußert sich besorgt

Bei neuen Kämpfen in der Ostukraine haben die prorussischen Separatisten den Regierungstruppen die gezielte Zerstörung von Wohnvierteln mit Brandbomben vorgeworfen. Mehrere Menschen seien verletzt worden, sagte in Donezk der Vizekommandeur der Aufständischen, Eduard Bassurin, am Sonntag. Zwei Aufständische seien getötet, ein weiterer verletzt worden. Nach Angaben der Nachrichtenagentur RIA Novosti reagierte Bassurin auf Äußerungen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die sich besorgt über die Zunahme der Gewalt geäußert hatte. Die Kämpfe an der Front hätten sich intensiviert, sagte Bassurin. Bei der von der OSZE beobachteten Bewegung einer großen Kolonne handele es sich um eine notwendige Rotation in den Reihen der Aufständischen, erklärte Bassurin. Ein Teil der Kämpfer müsse angesichts des Artilleriebeschusses durch ukrainische Truppen neue Stellungen beziehen. Auch die Aufständischen in der »Volksrepublik« Lugansk berichteten von einer Zunahme der Gewalt.

In der ostukrainischen Rebellenhochburg Donezk gab es am Wochenende die heftigsten Gefechte seit der Einigung auf eine Waffenruhe Anfang September. In unmittelbarer Nähe zum Stadtzentrum war in der Nacht zum Sonntag Artilleriefeuer zu hören.

OSZE-Beobachter zur Überwachung der Waffenruhe hatten nahe der von prorussischen Rebellen kontrollierten Städte Donezk und Makijiwka Konvois mit Panzern, Truppentransportern und Haubitzen gesichtet, wie die Organisation in der Nacht zu Sonntag mitteilte.

(nd, 10.11.2014)



Brandbomben auf Donezk

Kiew eskaliert trotz internationaler Warnungen Krieg gegen die Bevölkerung des Donbass. NATO beginnt aktive Phase einer Stabsübung in Estland

Von Arnold Schölzel **


Bei den schwersten Gefechten seit Beginn der Waffenruhe vor zwei Monaten sind in der Ostukraine zahlreiche Menschen getötet und mehrere Gebäude beschädigt worden. Die Aufständischen warfen den Truppen Kiews die gezielte Zerstörung von Wohnvierteln mit Brandbomben vor. Wie schon in der Vergangenheit dienten Berichte von Bewegungen angeblich russischer Truppen im Krisengebiet den Machthabern in der ukrainischen Hauptstadt als Vorwand, den Krieg gegen die eigene Bevölkerung zu eskalieren. Am Sonntag wies der Vizekommandeur der Aufständischen, Eduard Bassurin, die Meldungen über einen russischen Militärkonvoi zurück. Bei den von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beobachteten Panzern und Lastkraftwagen handele es sich um eine notwendige Rotation der Aufständischen, erklärte er in Donezk.

Ex-US-Außenminister Henry Kissinger warnte wegen der Ukraine-Krise vor einer »Neuauflage des Kalten Krieges«. Wenn diese Gefahr nicht ernst genommen werde, »wäre das eine Tragödie«, sagte er dem Spiegel. Der ehemalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) sprach sich für einen Neuanfang in den Beziehungen zu Moskau aus. Angesichts von Bedrohungen wie der durch die Terrormiliz »Islamischer Staat« seien die gemeinsamen Interessen des Westens und Russlands »erheblich größer« als die Differenzen, meinte Genscher in Bild am Sonntag. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) betonte beim Staatsakt zum 9. November 1989 in Berlin: »Wir haben die Kraft zu gestalten, wir können die Dinge zum Guten wenden, das ist die Botschaft des Mauerfalls. In diesen Tagen richtet sie sich an die Ukraine, an Syrien, an den Irak und an viele, viele andere Regionen der Welt.« Zuvor hatte der Expräsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, in Berlin angesichts der Spannungen vor einem Rückfall in alte Zeiten gewarnt: »Die Welt ist an der Schwelle zu einem neuen Kalten Krieg. Manche sagen, er hat schon begonnen.«

Bei den erbitterten Kämpfen im Raum Donezk seien mindestens zwei Aufständische getötet worden, erklärte Bassurin. Die Zusammenstöße an der Front hätten sich intensiviert. Auch die Kämpfer in der »Volksrepublik Lugansk« berichteten von einer Zunahme der Gewalt. In Kiew sprach Andrej Lyssenko vom Sicherheitsrat der Junta von drei getöteten Soldaten. Etwa 13 weitere Kämpfer seien verletzt worden.

Russland und die USA erklärten, sich weiter für eine politische Lösung einsetzen zu wollen. Es gebe aber unterschiedliche Ansichten über die Lage in der Ukraine, erklärte US-Außenminister John Kerry am Sonnabend in Peking nach einem Treffen mit seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow. Weitere Sanktionen gegen Moskau seien möglich. Lawrow betonte, die ukrainische Führung müsse ihre angekündigten Maßnahmen für den Frieden verwirklichen. Das gelte vor allem für die Vereinbarung über eine Trennlinie zwischen den Konfliktseiten im Unruhegebiet. Diese Trennlinie solle helfen, die Waffenruhe besser zu überwachen.

Die NATO begann laut RIA Nowosti am Wochenende in Estland die Stabsübung »Trident Juncture«. Laut dem Szenario verhängt Estland nach einem Angriff eines »großen feindlichen Landes« den Kriegszustand, wie das Verteidigungsministerium in Tallinn am Sonntag mitteilte. Die NATO schickt daraufhin laut Drehbuch eine schnelle Eingreiftruppe in den baltischen Staat, um die feindlichen Kräfte zurückzuwerfen. An der Übung, die am 17. November zu Ende gehen soll, nehmen rund 1.500 Soldaten und zivile Spezialisten aus 20 NATO-Staaten teil.

** Aus: junge Welt, Montag, 10. November 2014


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