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Auf Eis gelegt

EU-Handelsabkommen mit Ukraine verschoben

Von Guido Speckmann *

Die EU sendet ein Signal des Kompromisses in Richtung Russland. Die Kritik aus Moskau soll offenbar berücksichtigt werden.

Das bereits unterzeichnete Freihandelsabkommen zwischen der EU und der Ukraine tritt erst in 15 Monaten, also Ende 2015, in Kraft. So teilte es Handelskommissar Karel de Gucht in Brüssel am Freitagabend mit. Der EU-Ministerrat müsse diesem Vorschlag aber noch zustimmen, sagte er nach Gesprächen mit Ministern aus Russland und der Ukraine. Bis dahin werde die Ukraine weiter einen privilegierten Zugang zum EU-Markt haben. Trotzdem soll am Dienstag in der ukrainischen Rada und im Europäischen Parlament in Straßburg das umstrittene Abkommen ratifiziert werden.

Die Ablehnung des Vertrages im November durch den damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch hatte die Maidan-Proteste in der ukrainischen Hauptstadt ausgelöst. Über diese stürzte Janukowitsch. Die neue Regierung beeilte sich, zunächst den politischen und dann den wirtschaftlichen Teil – im Kern ein Freihandelslabkommen – mit der EU zu unterzeichnen. Auf dem Maidan erklang anlässlich der Unterzeichnung des Wirtschaftspakts Ende Juni die »Ode an die Freude«.

Doch trotz des Ratifizierungstermins dürfte sich die Freude inzwischen eingetrübt haben. Denn die Verschiebung des Inkrafttretens des Freihandelsabkommens geht auf über 2300 Änderungswünsche zurück, die Russland laut der »Süddeutschen Zeitung« Anfang September übermittelt hatte. In der kurzen Zeit sei es de Gucht zufolge nicht möglich gewesen, zu einer Einigung über die Streitfragen zu kommen. Die Verschiebung wird als Kompromisszeichen in Richtung Moskau gedeutet.

Bundeskanzlerin Angela Merkel soll bei der Kompromisssuche mit Russland eine wichtige Rolle gespielt haben – ungeachtet ihres jüngsten Pochens auf Verschärfung der Sanktionen. Anfang Juni etwa habe sie der »Süddeutschen Zeitung« zufolge die Feierlichkeiten zum 70. Jahrstag der Landung alliierter Truppen in der Normandie genutzt, um mit Präsident Wladimir Putin und dessen ukrainischem Kollegen über das Abkommen zu sprechen. Sodann übernahm der EU-Handelskommissar die folgenden trilateralen Gespräche.

Vereinbart wurde, dass Moskau eine Liste von Einzelposten erstellen solle, die gegen die Bestimmungen der von Russland geführten Zollunion sprechen. Die Änderungswünsche umfassende Liste soll in Brüssel auf wenig Begeisterung gestoßen sein. Zusammen mit Frankreichs Präsident François Hollande habe Merkel dem Zeitungsbericht zufolge dafür gesorgt, dass sich die EU, Russland und die Ukraine doch darauf einigten. Hintergrund dabei: Der Kompromiss beim Freihandelsabkommen könne die derzeit herrschende Waffenruhe in der Ostukraine absichern.

Das EU-Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der Ukraine ist nicht nur von Russland scharf kritisiert worden. Altkanzler Helmut Schmidt hatte der EU vorgeworfen, mit der Angliederung der Ukraine dem Größenwahn verfallen zu sein. Kritische Ökonomen wie Joachim Becker von der Uni Wien sagen voraus, dass sich Deindustrialisierung und vertiefte Abhängigkeitsstrukturen durch mehr Freihandel nur verstärken würden.

* Aus: neues deutschland, Montag 15. September 2014


Unmoralische Aussichten

Katja Herzberg über Barrosos Gerede über einen EU-Beitritt der Ukraine **

Es ist eine seiner letzten Dienstreisen als EU-Kommissionspräsident. Da ist es wohl allzu menschlich, wenn José Manuel Barroso noch einmal »einen raushauen« will. Und so redete er jüngst in Kiew von der Möglichkeit, dass das Land, in dem gerade ein Bürgerkrieg tobt und dessen Lage zur schärfsten Krise zwischen der westlichen Welt und Russland seit Jahrzehnten geführt hat, nicht nur mit dem geplanten Assoziierungsabkommen an die EU gebunden werden sollte, sondern möglicherweise bald EU-Mitglied werden könnte.

Mit politischem Geschick hat das nichts zu tun. Barroso verhält sich schlicht unmoralisch. Gegenüber den Partnern in der EU, gegenüber dem vor noch gar nicht langer Zeit als ebensolchen geltenden Russland und am meisten gegenüber der ukrainischen Bevölkerung. Sicher, Barroso kennt sich damit aus, die von ihm definierte »europäische Nationenfamilie« zu erweitern. Während seiner Amtszeit ist die EU von 15 auf 28 Mitgliedsstaaten angewachsen. Was die Menschen, vor allem in den neuen Ländern, davon haben, verschweigt Barroso lieber. Nur zu Erinnerung: Der EU-Osten hat bei der Europawahl im Mai einen neuen Rekord bei der Nichtwahl aufgestellt.

So bleibt zu hoffen, dass Barrosos Worte nicht mehr als einen Seitenhieb auf seinen Nachfolger Jean-Claude Juncker darstellen. Der nämlich kündigte an, in den nächsten fünf Jahren kein Land in die EU aufnehmen zu wollen.

** Aus: neues deutschland, Montag 15. September 2014 (Kommentar)


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