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Kiew im Siegesrausch

Ukraine: Regime blockiert Donezk und Lugansk. Aufrufe zu Waffenruhe *

Nach der Besetzung der ost­ukrainischen Städte Slowjansk und Kramatorsk durch die Truppen der Kiewer Machthaber hat der Chef des Informationszentrums des Rates für nationale Sicherheit und Verteidigung der Ukraine (SNBU), Andrej Lyssenko, Bombenangriffe und den Einsatz schwerer Artillerie gegen Donezk und Lugansk ausgeschlossen. Man werde jedoch die Hochburgen der »Separatisten«, die zwei Volksrepubliken ausgerufen haben, blockieren, um den Nachschub für die dortigen Milizen zu unterbinden. Zivilisten könnten die beiden Städte ungehindert verlassen, versicherte Lyssenko am Montag in Kiew. Demgegenüber kündigte Anton Geraschtschenko vom Kiewer Innenministerium »strenge Kontrollen« beim Verlassen der Städte an. Die Armee habe die Zufahrtswege bereits weitgehend abgeriegelt, sagte er. »Donezk wird schon bald befreit sein.« Auch um Lugansk werde der Ring enger gezogen. »Unsere Truppen stehen am Stadtrand. Die Terroristen haben keine Perspektiven mehr.«

Am Samstag waren Kiewer Truppen in Slowjansk und Kramatorsk eingerückt, die seit Mitte April von den Volksmilizen kontrolliert worden waren. Zuvor hatten die Widerstandskämpfer ihre dortigen Posten verlassen und waren nach Donezk und Lugansk durchgebrochen. Ihr Kommandeur Igor Strelkow sagte am Sonntag, man habe mit der Organisation der Verteidigung der Städte begonnen. In Lugansk ist der Widerstandsbewegung dabei offenbar ein Kampfflugzeug vom Typ Su-25 der ukrainischen Luftwaffe in die Hände gefallen. Der Verteidigungsminister der Lugansker Volksrepublik, Igor Plotnizki, teilte am Montag mit, die Maschine habe auf einem der Flugplätze notlanden müssen, der Pilot habe sich ergeben.

Wie der Sender Stimme Rußlands berichtete, haben ukrainische Truppen das Zentrum von Lugansk aus einem Granatwerfer beschossen und anschließend Raketen auf einen Vorort abgefeuert. Angesichts der anhaltenden Kämpfe forderte die russische Regierung am Montag die EU auf, ihren Einfluß auf das ukrainische Regime geltend zu machen. »Anscheinend ist es sinnlos, ein weiteres Mal von Kiew zu verlangen, den Beschuß ziviler Objekte zu stoppen. Kiew bleibt taub gegenüber den Appellen, Menschenleben zu erhalten«, heißt es in einer Erklärung des Außenministeriums in Moskau. »Wir hoffen, daß die EU-Länder darauf angemessen reagieren und die verbrecherische Politik der Behörden in Kiew verurteilen«, heißt es weiter in dem Dokument, bevor gefragt wird: »Oder wird diese Politik etwa im Rahmen des sogenannten politischen Teils des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine umgesetzt?«

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier forderte Kiew zu Gesprächen mit den »Separatisten« auf. Die Regierung müsse trotz jüngster militärischer Erfolge den Dialog suchen, sagte er am Montag bei einem Besuch in der Mongolei. Als wichtigstes Ziel nannte Steinmeier eine allseits respektierte Waffenruhe.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 8. Juli 2014


Ukraine zahlt hohen Preis für EU-Assoziierung

Eigene Produkte immer schwerer absetzbar / Billigwaren aus der EU werden Markt überschwemmen

Von Irina Wolkowa, Moskau **


Seit die Ukraine auf dem langen Marsch »nach Europa« ist, kennen die Preise nur noch eine Richtung: steil aufwärts.

Benzin kostet inzwischen das Anderthalbfache, auch die Kosten für Lebensmittel, Medikamente und vor allem für Wohnraum sind, obwohl die Ukraine das Assoziierungsabkommen mit der EU erst am 27. Juni unterzeichnet hat, bereits drastisch gestiegen. Das Ende der Fahnenstange, warnen russische Wirtschaftswissenschaftler wie Alexander Karejewski, sei jedoch noch lange nicht erreicht.

Auch habe die Regierung in Kiew den Ukrainern nur von den Segnungen des Vertrags – Visafreiheit und Arbeitserlaubnis im Westen – erzählt. Der Preis wurde jedoch verschwiegen. Zumindest solange die Übergangsbestimmungen wirken, warnte Karejewski im russischen Fernsehen, sei das Assoziierungsabkommen eine Einbahnstraße mit mickrigen Quoten für ukrainische Exporte. Bei Stahl drohe zudem ein harter Konkurrenzkampf mit China und Indien. Agrarerzeugnisse würden den strengeren europäischen Standards nicht genügen. Auch hocke die EU bei Weizen auf eigenen Überschüssen.

Andererseits würden Billigwaren aus der EU den Markt überschwemmen. Ukrainische Produkte seien dann zu Hause nicht mehr konkurrenzfähig. Nicht nur Russlands Präsident Wladimir Putin, auch seine Kollegen aus der von Moskau dominierten Zollunion drohten bereits mit Einfuhrstopp, um eigene Produzenten zu schützen. Tausende Arbeitsplätze in der Ukraine seien bereits mittelfristig akut gefährdet. Durch die Masseninsolvenz von Unternehmen würde der Staat weniger Steuern einnehmen, das wiederum zu Kürzungen der ohnehin kargen Renten und Sozialleistungen führen.

Allein die »Desintegrationsverluste im prosowjetischen Raum« dürften sich auch aus der Sicht von Experten in Wirtschafts- und Finanzministerium in Moskau auf jährlich etwa zehn Milliarden US-Dollar belaufen. Faktisch sei die Ukraine schon jetzt bankrott: Das Land ist mit gigantischen 100 Milliarden Dollar verschuldet. Kiew steht nicht nur bei Moskau wegen nicht bezahlter Gaslieferungen in der Kreide, es muss allein in diesem Jahr an seine Gläubiger insgesamt 20 Milliarden Dollar überweisen.

Zwar hat der Internationale Währungsfonds (IWF) Darlehen in gleicher Höhe zugesagt. Doch der Kredit geht komplett für den Schuldendienst drauf. Auch hat der IWF bisher nur die erste Tranche – drei Milliarden US-Dollar – ausgereicht.

Das Licht am Ende des Tunnels, das der neue Präsident Petro Poroschenko sieht, weil er als erfolgreicher Unternehmer auf seine Managerqualitäten vertraut, könnte daher ein Zug sein. Vor allem dann, wenn Moskau seinen Arbeitsmarkt abschottet.

Rund ein Fünftel der ukrainischen Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter jobbt in Russland. Auch mit dem Geld, das sie an die Lieben daheim überweisen, schönte Kiew lange seine Bilanzen. Nun droht, wie erste Hochrechnungen russischer Ökonomen ergaben, ein Einbruch von bis zu 50 Prozent. Dadurch eskalieren nicht nur die ohnehin beträchtlichen sozialen Spannungen, sondern auch die Zentrifugalkräfte in den Regionen. Dies dann sogar in der Westukraine, wie Forscher des Instituts für GUS-Studien in Moskau warnen.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 8. Juli 2014


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