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Dauerfeuer statt Waffenpause

Ukraine lehnt Offerte der Rebellen ab und verstärkt Angriffe auf Donezk *

Trotz eines Angebots der Rebellen zu einem Waffenstillstand haben die ukrainischen Streitkräfte ihre Angriffe auf die östliche Rebellenhochburg Donezk am Sonntag intensiviert.

Der neue »Regierungschef« der selbstproklamierten Volksrepublik Donezk, Alexander Sacharschenko, hatte am Samstag eine Feuerpause angeboten, sollte die Armee ihre Offensive stoppen. »Wir sind zu einem Waffenstillstand bereit, um die zunehmende humanitäre Katastrophe abzuwenden«, erklärte er auf der Rebellen-Webseite. Sollte die Armee aber einmarschieren, werde »ein Kampf um jede Straße, jedes Haus und jeden Meter unseres Lands geführt« und Donezk zu einem neuen »Stalingrad«.

Anstelle einer Feuerpause wurde die einstige Millionenstadt unter Dauerfeuer genommen. Eine AFP-Reporterin hörte am Sonntagmorgen vom Stadtzentrum aus mehr als 20 Explosionen und berichtete, dass die Fenster einer Entbindungsstation zertrümmert wurden. Eine Frau brachte ihr Kind in einem Schutzraum zur Welt. Nach Angaben des Bürgermeisteramtes wurde ein Privathaus von einem Geschoss zerstört, auch ein Krankenhaus wurde demnach schwer beschädigt. In der Nähe sei eine Frau verletzt worden.

Die Streitkräfte teilten am Sonntag mit, sie hätten ihre Offensive fortgesetzt, um die prorussischen Separatisten in die Enge zu treiben. Die Angriffe seien auf Stützpunkte der Aufständischen gerichtet gewesen, diese hätten »schwere Verluste« erlitten. Auch drei Soldaten seien in den letzten 24 Stunden getötet worden.

Angaben der ukrainischen Regierung, an der Grenze zu Russland sei eine als Hilfskonvoi getarnte russische Militärkolonne gestoppt worden, hatten am Samstag für internationale Beunruhigung gesorgt. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und US-Präsident Barack Obama kamen nach Angaben des Weißen Hauses in einem Telefonat überein, dass eine russische Intervention ohne formelle Zustimmung Kiews »nicht hinnehmbar« wäre und »zusätzliche Konsequenzen« nach sich ziehen würde. Ein Hilfskonvoi könne nur »unter der Ägide des Roten Kreuzes und mit Zustimmung der ukrainischen Regierung stattfinden«, sagte eine Regierungssprecherin in Berlin.

Merkel telefonierte am Samstag auch mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko. Dabei erklärte er sich nach Angaben seines Büros bereit, einen Hilfskonvoi in die zweite große Rebellenhochburg Lugansk zuzulassen. Die Mission müsse aber von einem internationalen Team ohne militärische Begleitung geführt werden. Es gebe bereits Gespräche mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), hieß es dazu weiter aus seinem Büro.

In Kiew wurden unterdessen – knapp sechs Monate nach dem Sturz des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch – die letzten Protestlager auf dem Unabhängigkeitsplatz geräumt. Hunderte Bürger beteiligten sich am Samstag an den Aufräumarbeiten, unter ihnen der neue Bürgermeister Vitali Klitschko.

Unterdessen will Russland nach dem Einfuhrverbot für westliche Lebensmittel die befürchteten Preissteigerungen mit Absprachen unterbinden. Das sagte ein Sprecher des Landwirtschaftsministeriums in Moskau am Sonntag dem Rundfunksender Echo Moskwy.

Moskauer Politiker warnten die Ukraine unterdessen davor, wie angedroht russische Energielieferungen nach Westeuropa zu unterbrechen. Die Ukraine will an diesem Dienstag abstimmen.

* Aus: neues deutschland, Montag 11. August 2014


Donezk im Kessel

Ukraine: Schwere Kämpfe um Krasnij Lutsch. Aufständische bieten humanitäre Waffenruhe an. Immer mehr Flüchtlinge. Donezk und Lugansk unter Artilleriebeschuß

Von Reinhard Lauterbach **


Ukrainischen Truppen ist es am Samstag gelungen, in die südöstlich von Donezk gelegene Ortschaft Krasnij Lutsch vorzudringen. Die Stadt ist von strategischer Bedeutung, weil in der Nähe die letzte Straße von Donezk nach Südosten verläuft. Sollte sich die ukrainische Kontrolle über den Ort stabilisieren, wäre der Westteil des Aufstandsgebiets mit den Hochburgen Donezk und Gorlowka eingekesselt. Bis zum Sonntag mittag gelang es den Aufständischen nach eigenen Angaben zwar, die ukrainischen Truppen zurückzudrängen. Aber auch die ukrainische Seite meldete, die Regierungstruppen seien »bemüht«, den Ort zu »befreien«.

Der Verteidigungsminister der »Volksrepublik Donezk«, Igor Strelkow, räumte den Verlust von Krasnij Lutsch am Samstag mittag in einer Mitteilung ein. Er beschuldigte eine der benachbarten »Volksrepublik Lugansk« unterstehende Kosakeneinheit, die Stadt kampflos aufgegeben zu haben. In Strelkows Erklärung wird diesen Kosaken auch der Verlust weiterer Städte im Donbass in den letzten Wochen zur Last gelegt. Seitdem hat sich Strelkow nicht mehr zu Wort gemeldet; seine Erklärung muß als Zeichen schwerwiegender politischer Konflikte in der Führung der Aufständischen gewertet werden.

Offenbar als Reaktion auf die drohende Einkesselung von Donezk bot der »Ministerpräsident« der Volksrepublik (und als solcher der politische Vorgesetzte Strelkows), Olexander Sachartschenko, am Samstag abend eine Waffenruhe an, um die Zivilbevölkerung versorgen zu können. Am Sonntag schob sein Pressedienst eine Erläuterung nach, wonach die Waffenruhe nur einvernehmlich verkündet werden könne. Da die Ukraine als Voraussetzung für eine Einstellung des Feuers verlangt, daß die Aufständischen aufgeben, ist es wenig wahrscheinlich, daß die Kämpfe bald enden. Für den Fall ihrer Fortführung hatte Sachartschenko der Ukraine bereits in seiner Erklärung am Samstag mit einem »zweiten Stalingrad« in Donezk gedroht – das Stichwort steht im postsowjetischen Kontext, anders als im deutschen, nicht für die zweite Phase der Schlacht mit der Einkesselung der Angreifer, sondern für die erste: härteste Straßenkämpfe um jedes Haus.

Unterdessen gehen die Zerstörungen in den Städten des Donbass weiter. Donezk, Lugansk und andere Orte wurden von der ukrainischen Armee mit Artillerie beschossen. Die ukrainische Seite beschuldigte die Aufständischen, ihr eigenes Hinterland zu zerstören. Die Zahl der Flüchtlinge nimmt weiter zu; aus Lugansk flohen im Laufe der letzten Woche weitere 4000 Bewohner allein in die ukrainisch kontrollierten Gebiete; weitere 10000 Donbass-Bewohner wurden im westlich anschließenden ukrainischen Gebiet Saporischschja registriert, wo es Schwierigkeiten damit gibt, alle unterzubringen.

Trotz der Not beharrt die ukrainische Seite darauf, alle humanitäre Hilfe für das Kampfgebiet müsse ausschließlich über von ihrer Armee kontrollierte Routen geliefert werden. In einem Gespräch mit Präsident Petro Poroschenko unterstützte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel diesen Standpunkt. Ukrainische Medien zitieren sie mit den Worten: »Auch eine humanitäre Invasion bleibt eine Invasion.« Die Kiewer Regierung meldete, man habe eine russische Kolonne mit Hilfsgütern »gestoppt«. Der Transport wurde offensichtlich noch auf russischer Seite angehalten, nachdem ihn ukrainische Grenzer am Kontrollpunkt Gukowo an der Grenze zur »Volksrepublik Lugansk« nicht durchlassen wollten.

** Aus: junge Welt, Montag 11. August 2014


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