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Offensive auf Mariupol

Volksrepubliken greifen an: Donbass-Aufständische beginnen Vorstoß gegen ukrainische Stellungen. Anwesenheit von US-Söldnern auf Kiews Seite dokumentiert

Von Reinhard Lauterbach *

Die Streitkräfte »Neurusslands« haben an mehreren Abschnitten der Front im Donbass eine Offensive gegen die ukrainischen Stellungen begonnen. Hauptstoßrichtung ist die im Süden am Asowschen Meer gelegene Industriestadt Mariupol. Dort waren am Samstag beim Einschlag mehrerer Raketen in ein Wohngebiet mindestens 30 Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt worden. Die Aufständischen und die ukrainische Armee beschuldigten sich gegenseitig, für den Angriff verantwortlich zu sein. Nachweise sind schwierig, weil beide Seiten die gleichen Waffensysteme sowjetischer Produktion verwenden. Am Sonntag teilte die Kiewer Führung mit, ein Bewohner von Mariupol habe als Artilleriebeobachter für die Angreifer gearbeitet und sei festgenommen worden. Die Aufständischen argumentieren, ihre Artillerie könne wegen zu großer Entfernung nicht für den Beschuss verantwortlich sein. Im Kontrast dazu stehen Siegesmeldungen in Internetforen der Volksrepubliken, wonach erste Kämpfer der Milizen schon den Stadtrand erreicht hätten. Der Präsident der international nicht anerkannten Volksrepublik Donezk, Alexander Sachartschenko, erklärte am Sonntag, die Eroberung der Stadt sei nicht das Ziel der Offensive. In den zurückliegenden Tagen hatten russische Medien gemeldet, den Aufständischen stünden an der gesamten Frontlinie nicht mehr als 7.000 Soldaten für Angriffsoperationen zur Verfügung; die Eroberung einer Stadt setzt aber eine deutliche Überlegenheit des Angreifers voraus.

Ein weiterer Schwerpunkt der Kämpfe lag nordwestlich des Flughafens Donezk, den die Ukraine in der vergangenen Woche vorläufig aufgegeben hatte. Weiter östlich versuchen Einheiten der Volksmilizen, den Frontvorsprung von Debalzewo von drei Seiten abzuschneiden und die ukrainischen Truppen dort entweder einzuschließen oder zum Rückzug zu zwingen. Meldungen vom Sonntag besagten, dass die Ukrainer in großer Eile ihren Stab und ihre Beamten aus der Stadt abzögen. Debalzewo ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt an der direkten Straße von Donezk nach Lugansk. Eine dritte Offensive begann nordwestlich der letzteren Stadt. Dass die Lage der ukrainischen Truppen ernst ist, lässt der Vorschlag des Vorsitzenden der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, Ilkka Kanerva aus Finnland, vermuten, Friedenstruppen in den Donbass zu schicken.

Kiew beschuldigte ein weiteres Mal Russland, die Offensive der Aufständischen mit eigenen Truppen zu unterstützen. Der im allgemeinen seriöse US-Analysedienst Stratfor vermutete, eine solche Offensive könne das Ziel haben, eine Landbrücke zur Krim herzustellen, schloss aber auch begrenztere Ziele der Operation nicht aus. Von Mariupol bis zur Landenge, die die Krim mit dem Festland verbindet, sind es etwa 300 Kilometer. Militärisch hätte ein solcher Vorstoß nur Sinn, wenn er auf breiter Front erfolgte. Für einen so großangelegten Charakter der Operation gibt es aktuell keine Belege.

Als Nebenprodukt der Kämpfe um Mariupol ist russischen Fernsehjournalisten ein erster dokumentarischer Beleg für die Anwesenheit amerikanischer Söldner auf ukrainischer Seite gelungen. Eine Reporterin, die die Aufräumarbeiten nach dem Raketenbeschuss drehte, begrüßte ein Uniformierter, der ihr durchs Bild lief, mit den Worten »Out of my face, please« (Film nicht mein Gesicht, bitte) in amerikanischem Englisch. Da Mariupol unter Kontrolle der Ukraine ist, scheidet der Verdacht der Inszenierung in diesem Fall eher aus.

* Aus: junge Welt, Montag, 26. Januar 2015


Donezk reicht’s

Volksrepubliken starten Offensive in Ostukraine

Von Reinhard Lauterbach **


Auf den ersten Blick ist am Freitag in Donezk etwas Unerhörtes passiert. Alexander Sachartschenko, Präsident der international nicht anerkannten Volksrepublik Donezk, desavouierte seine mutmaßlichen Protektoren. Mit seiner Erklärung, die Volksrepubliken sähen nach dem Bushaltestellen-Anschlag von Donezk keinen Sinn darin, weiter mit Kiew über einen Waffenstillstand zu verhandeln, strafte Sachartschenko den russischen Außenminister Sergej Lawrow Lügen. Der hatte noch am Donnerstag in Berlin angekündigt, die Kämpfer der Volksrepubliken seien bereit, ihre schweren Waffen von der Frontlinie zurückzuziehen.

Die Erklärung und die unmittelbar darauf folgende Offensive der Aufständischen in mehrere Richtungen haben militärisch ihre Logik. Es ist absehbar, dass das Kräfteverhältnis für die Volksrepubliken ungünstiger würde, wenn Kiew erst seine angekündigte neue Einberufungswelle vollzogen hat. Die Ressourcen der Volksrepubliken sind vergleichsweise begrenzt. Die Erklärung ist auch politisch im Innenverhältnis zur Bevölkerung des Donbass nachvollziehbar. Die Bewohner sind es aus gutem Grund leid, ständig die Zielscheibe ukrainischer Kanoniere abzugeben. Nach dieser Seite ist das Abdrängen der ukrainischen Streitkräfte von den Großstädten – worauf die Kämpfe der letzten Tage abzielen – die beste Garantie dafür, dass der Granaten- und Raketenterror aufhört.

Komplizierter ist die Einschätzung von Sachartschenkos Erklärung vor dem Hintergrund des Verhältnisses der Volksrepubliken zu Russland. Schließlich bleibt die hochgradige Abhängigkeit der Republiken von russischer Unterstützung – politischer, wirtschaftlicher, logistischer, wahrscheinlich auch militärischer – bestehen. An dieser Abhängigkeit ändert sich durch Sachartschenkos Eigenmächtigkeit nichts. Wahrscheinlich ist, dass der Präsident der VR Donezk versucht hat, den Spieß gegenüber Moskau umzudrehen. Er weiß, dass eine Niederlage der Volksrepubliken auch eine geostrategische Niederlage und ein Gesichtsverlust für Russland wäre. Die Ankündigung der Offensive ist die Aufforderung an Moskau, Farbe zu bekennen und nicht zu glauben, sich mit warmen Worten aus der Affäre ziehen zu können. Nachdem Russland über Monate verstanden hat, die ukrainische Eskalationsstrategie ins Leere laufen zu lassen, könnte es jetzt unter Druck der eigenen Protegés kommen. Sofern natürlich die Sache nicht ein koordiniertes Vorgehen des »guten« Polizisten Lawrow und des »bösen« Polizisten Sachartschenko ist. Mit dem Ziel, Kiew durch die Zufügung neuer Verluste verschärft klarzumachen, dass es militärisch nicht gewinnen kann und sich deshalb im eigenen Interesse besser mit den Republiken an den Verhandlungstisch setzte. Die Unbekannte in diesem makabren Spiel ist Kiews großer Bruder in Washington.

** Aus: junge Welt, Montag, 26. Januar 2015


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