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Charkow will keine Kiewer Zustände

Die Angst vor dem Rechten Sektor wächst

Von Ulrich Heyden, Charkow *

Von westukrainischen Nationalisten, die über einen Staatsstreich an die Macht kamen, will man sich im ostukrainischen Charkow keine Vorschriften machen lassen. Nur eine Minderheit ist für den Maidan.

Charkow ist mit 1,4 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Die Stadt hat viele Unis, aber auch viele Betriebe, die Turbinen, Waggons und Maschinen bauen. Sie setzen ihre Produkte vorwiegend in Russland ab. Nach einer Volkszählung von 2001 sind 60 Prozent der Einwohner Ukrainer. 65 Prozent gaben Russisch als ihre Sprache an.

Das Gesamtbild von Charkow ergibt sich aus vielen Mosaiksteinen. Da ist zum Beispiel der Taxi-Fahrer Taras (Name geändert). Taras ist 30 Jahre alt und Ukrainer. Aber er spreche Russisch und denke auch Russisch. Das sagt er mit Bestimmtheit. So begreift man sofort, dass Russisch ein Teil seiner Identität ist. Die will er sich von keinem ukrainischen Nationalisten streitig machen lassen. Doch Taras ist gegen die Abtrennung der Krim. Es stimme nicht, dass Chruschtschow die Halbinsel 1954 einfach so an die Ukraine verschenkt habe. Die Ukraine musste dafür Teile des Taganrog-Gebietes an Russland abtreten.

Ich treffe in Charkow noch mehr Menschen, die wegen ihrer Herkunft oder Sprache »prorussisch« gestimmt sind, die Vereinigung der Krim mit Russland aber bedauern. Die am weitesten verbreitete Meinung: »Russen, Ukrainer und Weißrussen sind Brudervölker.« Das ist völlig ernst gemeint. Denn es gibt sehr viele Familien, wo sich russische, ukrainische und weißrussische Wurzeln mischen.

Angst vor Repressionen

Seit die Macht in Kiew gewechselt hat, ist es auch nicht mehr einfach, die Menschen in der Ostukraine danach zu fragen, ob sie eine Vereinigung mit Russland unterstützen. Alle, die vorher noch laut nach Autonomie gerufen und russische Fahnen geschwenkt haben, sind jetzt vorsichtiger geworden. Die Macht in Kiew hat deutlich gemacht, dass sie Separatismus strafrechtlich verfolgt. Der »Volks-Gouverneur« von Donezk, der prorussische Aktivist Pawel Gubarew, sitzt wegen »Umsturzversuches« seit dem 6. März in einem Gefängnis in Kiew. Der Druck der Nationalisten ist so stark, dass selbst linke Gruppen beginnen, Text statt auf Russisch auf Ukrainisch zu drucken.

Der Taxifahrer Taras ist eigentlich Militärangehöriger. Er hat als Vertragssoldat im ukrainischen Bataillon an der Seite der Amerikaner in Irak gekämpft. Er war als UN-Friedenssoldat in Sierra Leone. Eines ist für ihn völlig klar: »Nur wer den Krieg selbst erlebt hat, weiß, dass man alles dafür tun muss, dass es keinen Krieg gibt.«

Der ehemalige Vertragssoldat ist stolz darauf, dass Charkow unter Bürgermeister Gennadi Kernes schöner geworden ist. Spiel- und Fußballplätze wurden hergerichtet und Straßen erneuert. Die Stadt sei lebenswerter geworden, sagt Taras. Das war auch einer der Gründe, warum sich der ehemalige Soldat eigenhändig an der Vertreibung der Maidan-Anhänger aus der Gebietsverwaltung von Charkow beteiligte. Das Gebäude war tagelang besetzt und es habe dort Chaos geherrscht. Er habe Molotow-Cocktails, synthetische Drogen, Pistolen und Jagdgewehre mit abgesägtem Lauf gesehen.

Präsident Janukowitsch sei ein schlechter Präsident gewesen, sagt Taras, »aber er wurde immerhin gewählt«. Diesen Satz höre ich in Charkow immer wieder. Und er drückt genau das aus, was die Menschen am meisten sorgt – nämlich dass sie als Russen und Russischsprachige Opfer von Willkür der neuen Herrscher in Kiew werden. Als Beleg zeigt mir Taras das Video von einem Geistlichen aus der Westukraine, der auf dem Maidan dazu aufrief, eine Waffe in die Hand zu nehmen und die Kommunisten »aufzuhängen«.

Der Gewerkschafter

Den Vorsitzenden der unabhängigen Gewerkschaft der Südlichen Ukrainischen Eisenbahn, Abteilung Charkow, Aleksandr Abrosimow, treffe ich vor dem Bezirksgericht im Lenin-Bezirk. Dort verteidigte sich der Gewerkschafter gegen eine Verleumdungsklage, die ein Minister gegen ihn angestrengt hatte. Jetzt geht es um eine gütliche Einigung. Die Vorgeschichte: 2012 hatte Aleksandr in einem Interview gesagt, die zur Fußball-Europameisterschaft 2012 neu angeschafften Hyundai-Eisenbahn-Waggons würden ständig ausfallen und seien im Winter nicht einsetzbar, weil es keine vernünftigen Reparaturabteilungen gebe. Darauf wurde der Gewerkschafter vom damaligen Chef der Südlichen Ukrainischen Eisenbahn, der wie Aleksandr Mitglied der Partei der Regionen war, verklagt.

Unter Janukowitsch sei ein politisches System aufgebaut worden, das Ähnlichkeiten mit einem Gefängnis hatte, meint Aleksandr. Wer nicht spurte, wurde bedroht. Als er 2011 mit seinen Kollegen eine Protestaktion vor dem Kiewer Ministerium für Infrastruktur plante, drohte ihm der stellvertretende Leiter des Ministeriums mit Gewalt.

Dabei sei Janukowitsch von vielen gewählt worden, weil er versprach, Russisch als zweite Amtssprache einzuführen und enge Beziehungen mit Russland aufzubauen. »Aber unter Janukowitsch wurden die Regelungen in der Arbeitswelt noch weniger eingehalten und alle Beschwerden wurden von der Staatsanwaltschaft abgewiesen.«

Viele Leute in der Region strebten nach einem Bündnis mit Russland, meint Aleksandr. Er hat russische Eltern, fühlt sich aber als Ukrainer. Unter der neuen Regierung in Kiew werde es auch nicht einfach, meint der Gewerkschafter. Kiew habe angekündigt, bevor es zu einer Assoziation mit der EU komme, müssten soziale Vergünstigungen gestrichen werden. Das heißt, es gebe bald kein Geld mehr bei der Geburt eines Kindes und für Schulbücher. Die Gaspreise und die Wohnnebenkosten sollen erhöht werden. »Aber wovon sollen wir das bezahlen?« Aleksandr verdient 250 Euro Netto im Monat. Dabei hat er als Chef von 30 Zugbegleitern auf der Strecke Charkow-Lviv eine verantwortungsvolle Arbeit.

Der Wendehals

»Wer das Lenin-Denkmal in Charkow zerstört, dem werde er persönlich Hände und Beine brechen«, erklärte der Bürgermeister von Charkow, Gennadi Kernes, in einer Talkshow. Das waren starke Worte. Ende Februar organisierte er nach dem Umsturz in Kiew zusammen mit dem inzwischen abgesetzten Gouverneur des Gebietes Charkow einen Kongress der russischsprachigen Gebiete im Süden und Osten der Ukraine. Der Kongress beschloss, dass man sich im Osten in Zukunft selbst verwalten werde, weil die neue Regierung in Kiew durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen sei. Doch von diesen radikalen Tönen will Bürgermeister Kernes jetzt nichts mehr wissen.

Denn die Generalstaatsanwaltschaft in Kiew hat gegen den Bürgermeister Ermittlungen wegen eines angeblichen Kriminalfall eröffnet, in den Kernes früher verwickelt gewesen sein soll. Dem Bürgermeister droht jetzt Hausarrest.

Für viele Linke in der Stadt ist Kernes heute einfach ein Verräter. Denn der Bürgermeister hat die Großkundgebung am Sonntag auf dem Freiheitsplatz in Charkow per Gerichtsbeschluss verbieten lassen. Ein Referendum über Föderalismus und die Autonomie des Gebietes Charkow trage nur zur Eskalation in der Ukraine bei und sei »ungesetzlich«, erklärte er.

Seit der Bürgermeister aus Angst, dass man ihn wegen eines alten Kriminalfalls ins Gefängnis steckt, von seinem prorussischen Kurs abgekommen ist und auf Solidaritäts-Kundgebungen für ihn nur noch ukrainische Fahnen zu sehen sind, ist er bei den Linken unten durch. »Seien Sie ausgewogen. Eskalieren Sie nicht!«, rief der Bürgermeister am Sonnabend auf einer Kundgebung der Linksorganisation Borotba. Die 2000 Versammelten ließen den Bürgermeister nicht zu Wort kommen und skandierten »Schande, Schande!«. Kernes blieb nichts anderes übrig, als sich mit Hilfe von Polizisten einen Weg durch die Menge aufgebrachter Linker zu bahnen, in seinen schwarzen Jeep zu steigen und abzubrausen.

Empörung über den Mord

Ein Grund für die Empörung der Linken in Charkow war auch, dass Freitagnacht zwei junge Antifaschisten von Mitgliedern des Rechten Sektors erschossen und fünf weitere Personen – darunter ein Polizist – durch Schüsse verletzt worden waren.

Wie war es zu den Morden gekommen? Es begann damit, dass Mitglieder des Rechten Sektors die Jugendlichen, die das Lenin-Denkmal bewachen aus einem VW-Bus heraus mit Tränengasgranaten und Schüssen provozierten. Als dann 200 Antifaschisten das Büro des Rechten Sektors in der Rymarski-Straße stürmen wollten, wo sich 40 Rechtsradikale mit Pistolen und automatischen Waffen verschanzt hatten, kam es zur Eskalation. Auf den Dächern schossen Scharfschützen auf die Demonstranten, erinnert sich die Aktivistin Sweta (Name geändert).

Zwei junge Antifaschisten – Artjom Schudow und Aleksej Scharow – wurden von Kugeln tödlich getroffen. Fünf weitere Menschen, darunter ein Polizist, wurden von Kugeln schwer verletzt. Die Rechten hatten einen Polizisten und zwei Wachleute als Geiseln genommen. Außerdem warfen sie von einem der Dächer Molotow-Cocktails auf die Demonstranten.

Bürgermeister erreichte die Niederlegung der Waffen

Spät in der Nacht legten dann die Rechten nach Verhandlungen mit Bürgermeister Kernes, der persönlich im Büro des Rechten Sektors erschienen war, die Waffen nieder. Die Rechten wurden mit Bussen einer Spezialeinheit des Innenministeriums auf Polizeiwachen gefahren.

Die Antifaschisten von Charkow fürchten nun, dass die 29 verhafteten Mitglieder des Rechten Sektors nach Kiew gebracht, dort freigelassen werden und die Morde an den beiden Antifaschisten ungesühnt bleiben. Die Sorge ist nicht unbegründet, denn in den letzten Wochen wurden zahlreiche rechtsradikale Gewalttäter, die auch schon längere Zeit in ukrainischen Gefängnissen einsitzen, entlassen.

Die Studentin Sweta erzählt mit leiser Stimme vom Sturm auf das Büro des Rechten Sektors. »Jemand schrie: »Hinlegen!«. Dann explodierte eine Granate. Sie sah den 20 Jahre alten Antifaschisten Artjom Schudow leblos auf der Straße liegen. Eine Kugel hatte seine Wirbelsäule durchschlagen. Ihren Eltern hat Sweta nichts von ihren Erlebnissen in dieser Nacht zum Sonnabend erzählt.

Zwar sind jetzt 29 Mitglieder des Rechten Sektors in Haft. Doch für sie ging die Auseinandersetzung vergleichsweise glimpflich aus. Eine Gruppe »Misanthropic Division – Töten für Wotan«, die die Fotos von der Beschießung der Antifaschisten – noch als die Kugeln flogen – auf vkontakte.ru online stellte, meldete für Freitag 240 000 Klicks und sprach von einem großen Propagandaerfolg.

Gouverneur schiebt Verantwortung auf »prorussische Kräfte«

Was wollte der Rechte Sektor mit der Provokation vor dem Lenin-Denkmal erreichen, mit der am Freitag alles begonnen hatte? Ihnen ging es darum, in Charkow ein Klima der Angst zu verbreiten, damit sich weniger Bürger an Kundgebungen beteiligen. Das Kalkül ist durchaus im Sinne der neuen Macht in Kiew. Der Rechte Sektor stellt die Sache natürlich anders dar. Mit dem Sturm auf das Büro hätten die Demonstranten den Einmarsch russischer Truppen in der Ostukraine provozieren wollen. In die gleiche Richtung argumentiert der von Kiew eingesetzte neue Gouverneur von Charkow, der Millionär Igor Baluta. Er sprach von einer »gut geplanten Provokation prorussischer Aktivisten«.

Der Mord an den zwei Antifaschisten war wohl einer der Gründe, warum sich an den Kundgebungen am Sonnabend und Sonntag in Charkow nur wenige Tausend Menschen beteiligten. In der Stadt sind Gerüchte in Umlauf, dass Terrorakte geplant seien. Und der Mord an den beiden jungen Antifaschisten zeigt, dass die Polizei nicht willens oder nicht in der Lage ist, die Bürger zu schützen.

Als die Mitglieder des Rechten Sektors die 200 Antifaschisten in der Rymarski-Straße beschossen, kamen die ersten Polizeiwagen erst, nachdem die Krankenwagen für die Verletzten eingetroffen waren.

* Aus: neues deutschland, Montag, 17. März 2014


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