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Ein Land als Beute

Der Euromaidan und sein Pferdefuß – Mathias Bröckers und Paul Schreyer über die Drahtzieher des ukrainischen Bürgerkriegs

Von Reinhard Lauterbach *

Mathias Bröckers ist bisher nicht als Osteuropa-Spezialist hervorgetreten, auch sein Koautor Paul Schreyer hat zuletzt einen »Faktencheck 11. September« vorgelegt. Wenn zwei verdiente Enthüller von der offiziellen Darstellung abweichender Tatsachen und Zusammenhänge zum 11. September 2001 nun über die Ukraine schreiben, muß man damit rechnen, daß ein großer Teil des Buches doch nicht in Kiew oder Donezk spielt, sondern in Washington. Und so ist es auch. Das ist die starke Seite dieses offenbar in wenigen Wochen entstandenen Buches: die Ereignisse der Ukraine einzuordnen in eine amerikanische Geopolitik, die seit dem Ende der Sowjetunion versucht, in Kiew einen Fuß in die Tür zu bekommen. Der Blick geht zurück bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts und den britischen Geographen Halford Mackinder, der den Begriff des »Heartland« entwickelte: jener eurasischen Landmasse, deren Kontrolle er zur Überlebensfrage des britischen Empire erklärte. Bröckers und Schreyer streifen die deutsche Geopolitik der Zeit um den Ersten Weltkrieg, als deutsche Intellektuelle parallel zu den Angelsachsen eine »Apfelsinentheorie« über die Zerlegung Rußlands in seine ethnischen Segmente entwickelten, und schlagen den Bogen zu Zbigniew Brzezinskis »Großem Schachbrett« und den Neocon-Ideologen der Bush-Ära. All diesen Politikberatern ist gemein, Rußland schwächen und territorial verkleinern zu wollen – um ihm die Kontrolle über die Rohstoffvorräte Zentralasiens zu entreißen und es dadurch zu einem Öl- und Gaslieferanten unter anderen zu machen. Die Schaffung einer nicht nur unabhängigen, sondern auch antirussisch positionierten Ukraine spielt in diesen Strategien eine zentrale Rolle. Bröckers und Schreyer würdigen die Rolle der CIA in der Ukraine, sie liefern einen Überblick über den typischen Ablauf von »Farbrevolutionen« und führen uns in die Kabinette des »New Atlantic Council«, einer jener Lobbyorganisationen in Washington, die geostrategische Imperative an internationale Medienschaffende zur Umsetzung in den Heimatländern weitergeben.

Das alles ist nicht wirklich neu, aber flott zusammengeschrieben und als solche Zusammenfassung nützlich für den ersten Überblick. Allerdings sollte man die Aussagen der Autoren über die Ukraine im besonderen und Osteuropa im allgemeinen nicht auf die Goldwaage legen. Da wimmelt es von Ungenauigkeiten und Fehlern. Weder haben sich, wie die Autoren behaupten, im Ersten Weltkrieg deutsche und russische Armeen »monatelang am ­Dnjepr gegenübergestanden« – und auch im Zweiten nicht monatelang –, noch kann man das Ukrainische als »Russisch mit ein paar abgeleiteten Vokalen« ohne eigene Worte für exotische Tiere beschreiben. Erstens ist ein großer Teil des Ukrainischen polnisch beeinflußt und nicht russisch, zweitens sind die Laute jeder modernen Sprache abgeleitet von Vorläuferidiomen, und drittens ist die Behauptung mit den fehlenden Worten einem Dialog aus Bulgakows Roman »Die Weiße Garde« entnommen, den schon der Zeit-Artikel von 2004, aus dem die Autoren diese Passage ohne größere Änderungen übernommen haben, fälschlich als Aussage über die Sache darstellt – dort immerhin noch mit dem Vorbehaltswort »offenbar«. Selbst wenn es aber so gewesen sein sollte: Was besagt das denn? Dafür gibt es in jeder Sprache Lehnworte, die irgendwann eingebürgert werden. Das deutsche »Fenster« kommt auch aus dem Lateinischen, weil die Germanen keine hatten. Die Chronologie des Wirkens von Nationalistenführer Stepan Bandera geht durcheinander, und Sewastopol ist mitnichten der einzige eisfreie Hafen der russischen Marine. Einmal das Wort »Murmansk« googeln hätte geholfen, diesen Fehler zu vermeiden.

Neben der verdienstvollen Zusammenstellung der US-Machenschaften in Osteuropa und der mit den genannten Schönheitsfehlern versehenen Präsentation der Lage und der Interessenkonflikte vor Ort hat das Buch einen dritten Großaspekt: eine Polemik gegen die Behandlung des Ukraine-Konfliks in den deutschen Medien. Dieser mit umfangreichem Material angereicherte Aufschrei gegen die herrschende Heuchelei ist der stärkste Teil des ganzen Buches. Den Autoren gelingen treffende Vergleiche: Angenommen, in Berlin käme eine Regierung an die Macht, die sich auf die NPD und rechte Kameradschaften stützt, und in Nordrhein-Westfalen würden sich die Leute dagegen wehren, von solchen Leuten regiert zu werden, und Rathäuser besetzen – wären das dann Separatisten und Terroristen? Für die unmittelbare Anfangsphase des Konflikts mag diese Frage zugetroffen haben, allerdings müßten dann im Verlauf des Konflikts auch noch niederländische »grüne Männchen« in Oberhausen und Bochum auftauchen, also Vorsicht – diese Vergleiche haben ihre Verfallsdaten.

Bröckers und Schreyer schreiben vom Standpunkt einer »fairen, rechtsstaatlichen Partnerschaft« zwischen dem Westen und Rußland, fragen sich aber nicht, warum eine solche Partnerschaft nie zustande gekommen ist. Genauer: Ihre Erklärung dafür ist das Wirken von »Big Oil« und anderen finsteren Interessengruppen hinter den Kulissen. Nicht, daß das Wirken jener Cliquen bestritten werden soll – aber die Schwäche solcher Analysen ist immer, daß sie neben dem schmutzigen außenpolitischen Alltag, in dem die »Werte« aus den Sonntagsreden ständig mit Füßen getreten werden und so, als Fußabtreter imperialistischer Politik, ihre praktische Realität gewinnen, eine Sphäre der idealen, ehrlichen Außenpolitik als prinzipiell möglich, aber leider nicht realisiert, bestehen lassen. Aber genau die ist unter den Bedingungen der imperialistischen Konkurrenz eine Illusion. Ob eine Langfristpartnerschaft zwischen deutscher Technologie und russischen Rohstoffen, wie die Autoren sie am Schluß des Buches als wünschenswert skizzieren, so stabil wäre, wie es Bröckers und Schreyer erhoffen, ob nicht die zur europäischen Großmacht aufgestiegene BRD mit einer Rolle als Juniorpartner Rußlands (oder dieses als Juniorpartner Deutschlands) schnell unzufrieden wäre, ob sich hinter dieser Konstellation nicht ebenso Kriegsszenarien verbergen – wenn auch andere – wie hinter dem von den Autoren trefflich gebrandmarkten transatlantischen Kamikazekurs: Das wird leider nicht reflektiert.

Mathias Bröckers/Paul Schreyer: Wir sind die Guten - Ansichten eines Putinverstehers oder Wie uns die Medien manipulieren. Westend-Verlag, Frankfurt am Main 2014, 208 Seiten, 16,99 Euro

* Aus: junge Welt, Montag 29. September 2014


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