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Zarenadler und rote Fahne

Eine Reise auf die Krim, ein Jahr "danach". Für die Bewohner ist der Alltag zurückgekehrt, doch sie erinnern sich noch gut an die Loslösung von der Ukraine

Von Hugo Braun *

Die Aeroflot-Maschine landet in der Hauptstadt Simferopol. Das ist der Ort, in dem alles begann. »2009 fing es an. Da haben wir mit einer Gruppe junger Leute unsere Bürgerbewegung gegen die zunehmende Diskriminierung der russischen Mehrheit durch die Regierung in Kiew gegründet«, sagt Dimitri Polonski, heute Minister für Innere Politik und Information der Republik Krim.

Der 34jährige, der seine Gesprächspartner im Regierungsgebäude am Lenin-Platz unkonventionell und mit offenem Hemdkragen empfängt, gilt als der zweite Mann im Staat und tatsächlicher Organisator der Loslösung von der Ukraine. »Aber der eigentliche Auslöser waren die Ereignisse auf dem Maidan in Kiew und die Versuche, ihn zu uns zu exportieren. Wir haben uns entschieden, diese Entwicklung bei uns nicht zu dulden. Eine deutliche Mehrheit war und ist bereit, sich auch mit Waffen gegen die ukrainischen Faschisten zur Wehr zu setzen.«

Dazu kam es nicht dank der grün uniformierten, schweigend lächelnden Bewaffneten, die ihm und den Seinen den Weg ins Regierungsgebäude ebneten, in dem Polonski heute das Erbe jahrzehntelanger Misswirtschaft aufarbeiten muss. Er sieht sich auf dem Erfolgsweg: »Nachdem Kiew praktisch kaum in die Infrastruktur der Krim investiert hat, haben wir in diesem einen Jahr das Fundament für eine gleichmäßige Entwicklung gelegt, und eine Mehrheit sagt, dass das Leben bei uns deutlich besser geworden ist.« Eine Umfrage der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) vom Februar 2015 scheint ihm recht zu geben. 93 Prozent haben demnach »ja« gesagt zu dem, was Polonski etwas außerhalb des Protokolls »unseren Umzug von einem in ein anderes Land« nennt.

Und die Alternative? »Wenn wir diesen Weg nicht gegangen wären, hätten wir heute auch bei uns eine Situation wie im Donbass«, lautet die spontane Antwort. Und was sagt der Krim-Politiker zur Zukunft dieses kriegerischen Konflikts in seiner unmittelbaren Nachbarschaft? Polonski vorsichtig: »Es ist nicht meines Amtes, diese Vorgänge zu kommentieren. Privat aber meine ich, dass eine Lösung in der Unabhängigkeit des Donbass in guter Kooperation mit seinen Nachbarn liegen könnte. Voraussetzung für jede friedliche Entwicklung ist jedoch die Erfüllung der Vereinbarungen von Minsk. Die Ereignisse im Donbass haben sich übrigens spontan entwickelt. Der Bewegung fehlte zu Beginn eine Führung. Das hat sich heute verändert, und es gibt eine fähige Selbstregierung.«

Erbe einer deutschen Prinzessin

Das Auto in den Süden steuert Wassili, der die Offizierspension mit seinem Taxi aufbessert. Er kennt nicht nur alle Gipfel des Krim-Gebirges mit Namen, er weist auch auf jedes blumengeschmückte Mahnmal am Straßenrand hin, das den im Kampf gegen die Naziarmee gefallenen Partisanen gewidmet ist. Gleich hinter Simferopol zeigt er auf ein helles Palais in der Ferne, das einst Katharina II. als Quartier diente. Tatsächlich war es diese Herrscherin aus dem deutschen Hause Anhalt-Zerbst, die die idyllische Halbinsel 1783 aus dem zerbröckelnden Osmanischen Imperium in das Zarenreich überführte. »Und jetzt gehört die Krim wieder uns, und das bleibt auch so«, fügt er entschlossen hinzu. Für die Drohung des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko vom Vortag, seinen Krieg bis zur Eroberung der Krim fortzusetzen, hat der Exoberst nur ein verächtliches Lächeln übrig.

Das Hotel in Balaklawa, einem südlichen Vorort von Sewastopol, trägt den Namen des klassischen griechischen Autoren Homer, dessen legendärer Abenteurer Odysseus auch hier an diesem felsigen Arm des Schwarzen Meeres gelandet sein soll. Anton, der Hotelier, ist gespannt auf seine deutschen Gäste. Seine erste Frage nach der Begrüßung lautet: »Haben auch Sie Zweifel, dass in dem Referendum 90 Prozent für Anschluss an Russland gestimmt haben?« Auf das leichte Zögern reagiert er leidenschaftlich: »Ich glaube, dass es eher 100 Prozent waren! Vom frühen Morgen bis zu ihrer Schließung haben vor unserem Wahllokal lange Schlangen gestanden. Ich kenne niemanden, der nicht zur Abstimmung gegangen ist.« Anton drückt damit aus, was jedem Krim-Besucher immer wieder entgegengehalten wird, dass nämlich eine überwältigende Mehrheit unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft diesen politischen Wechsel herbeigesehnt hatte, ausdrücklich auch die relativ kleine Gruppe der Russlanddeutschen. Auch der etablierten Touristikkauffrau mit ihrer Kritik an der russischen Bürokratie und anderen Bedenken ist diese Entwicklung lieber als Krieg wie im Donbass. Insgesamt sei das Leben leichter geworden. Und sie beobachtet, dass ukrainische Flüchtlinge aus den Februartagen des vergangenen Jahres langsam wieder zurückkehren.

Tag des Sieges

Und dann Sewastopol. Auf dem Prachtboulevard, nach dem legendären Admiral Nachimow benannt, suchen wir das Café »1820«. Hier treffen wir in elegantem Ambiente bei Kaffee und Torte Larissa, Lena, Olga und Ludmila, vier echte Sewastopolerinnen, von Beruf Lehrerin, Historikerin, Naturwissenschaftlerin und Kunstmalerin. Es sind Freundinnen einer Freundin, alle parteilos. Ohne Smalltalk sind wir sofort beim Thema. »Wir sind glücklich, dass wir wieder in Russland sind«, sagt Lena. Sie sagt »in Russland«. Beifälliges Nicken in der Runde. »Seit dem Ende der Sowjetunion 1991 haben wir uns hier wie unter ukrainischer Besatzung gefühlt. Jelzin hat uns damals im Stich gelassen.«

»Der russische Sprachunterricht wurde auf zwei Wochenstunden reduziert, unsere Sprache diskriminiert«, berichtet die Lehrerin. »Die ukrainische Führung hat Sewastopol nie geliebt. Sie ließ sogar die Geschichte neu schreiben, als habe es uns Russen hier nie gegeben«, fügt die Historikerin hinzu.

Aufgeregt, einander ergänzend, schildern die vier Frauen die spannungsreichen Februartage des vergangenen Jahres aus ihrem Erleben: »Die rechtsnationalistischen bewaffneten Maidan-Leute waren schon in Simferopol, da haben wir spontan beschlossen, unsere Stadt zu verteidigen. Für uns sollte Sewastopol die antifaschistische Heldenstadt bleiben. Wir haben Straßenblockaden gegen den Maidan errichtet und haben uns auf den Plätzen versammelt. 30.000 Menschen waren wir am 23. Februar und haben gegen die nationalistischen ukrainischen Banden protestiert. An diesem Tage wussten wir nicht, dass Russland uns unterstützen würde. Übrigens waren unsere Söhne immer dabei. Am 9. Mai, dem Tag des Sieges, sind sie dann mit den Orden und Fahnen ihrer Großeltern zur Demonstration gekommen.«

»Und wenn nun Russland damals nicht eingegriffen hätte?« – »Dann würde hier Bürgerkrieg herrschen wie im Donbass!«

Dabei haben die Frauen keine Illusionen. Sie wissen, dass die ökonomischen Probleme nicht gelöst sind, dass die Arbeitslosigkeit nicht beseitigt ist. »Aber das nehmen wir in Kauf, wenn nur die Krim sicher bei Russland bleibt.«

Identitätssuche

35.000 Namen leuchten an den Wänden der Ehrenhalle auf der Batterie 35, jeder ein Rotarmist, gefallen im Zweiten Weltkrieg im Kampf um Sewastopol. Zwei Jahre lang hatten sie dem Ansturm der Naziarmee widerstanden. Von einem von ihnen ist an diesem 70. Jahrestag des Sieges ein Porträtfoto dabei, getragen von seinem Urenkel. Leonid, 16 Jahre alt, Schüler in Sewastopol, hat vor einem Jahr mit seinen Freunden Flugblätter gegen den Maidan verteilt. An diesem 9. Mai sagt er dazu: »Mein Urgroßvater sollte nicht umsonst gestorben sein.«

Mehr noch als die perfekte Inszenierung der Militärparade und furchtgebietende Waffenschau beeindruckt in den Straßen Sewastopols in dem viele Kilometer langen Demonstrationszug der Wald von Soldatenfotos. Getragen von ganz jungen Frauen wie von gebrechlichen Veteranen, ziehen die Gesichter der unvergessenen Toten des Zweiten Weltkriegs vorüber. Leonid ist mit seinem Urgroßvater darunter. Gleiches überträgt das russischen Fernsehen an diesem Tag aus allen Städten des riesigen Landes. Was vor drei Jahren noch die ganz private Idee des Journalisten Sergej Lapenkow aus dem sibirischen Tomsk war, hat sich zu einer gewaltigen Welle der Erinnerung entwickelt – an die »Armee der Unsterblichen«. Es sind diese Bilder und nicht etwa Putin-Porträts, die die Feierlichkeiten dieses 70. Jahrestags prägen.

Es fehlen aber auch nicht die roten Fahnen mit Hammer und Sichel. Ein Transparent fordert »Vorwärts zum Kommunismus!« Seltsam nur, dass sich in diese Fahnengruppen ganz friedlich immer wieder auch Traditionsflaggen aus der Zarenzeit mischen. Demonstrativ und unübersehbar gehen Zarenadler und rote Fahne eine befremdliche Ehe ein. »Putin setzt die gleichwertige Pflege zaristischer wie sowjetischer Geschichte und Tradition bewusst zur Schaffung einer nationalen russischen Identität ein, nachdem die soziale Identität mit der Sowjetunion verloren gegangen ist. Für ihn gibt es nur eine gemeinsame große Geschichte«, erklärt Alexander Buzgalin dieses Phänomen. Der Professor von der Moskauer Lomonossow-Universität, ein häufiger Gast auf Veranstaltungen linker Gruppen in Deutschland, ist wie die deutliche Mehrzahl der linken russischen Intellektuellen der Meinung, dass die Krim historisch und kulturell ein Teil Russlands ist. »Und so ist die Krim heute zum Symbol der nationalen Identität geworden.« Ironisch fügt er hinzu, ein Urlaub auf der Krim sein nun zum staatspatriotischen Akt geworden.

Im Geschichtsmuseum

An den schroffen Felshängen der Südküste entlang, vorbei am Liwadija-Palast, dem Ort der geschichtsträchtigen Konferenz, die im Februar 1945 mit Stalin, Roosevelt und Churchill das Nachkriegseuropa gestaltete, geht es nach Jalta. Bei bestem Frühlingswetter beginnt hier die Urlaubssaison. Das Publikum auf der Strandpromenade schiebt sich vorbei an eleganten Modeboutiquen, deren Markennamen vom Kurfürstendamm geläufig sind, vorbei an verführerischen Restaurants bis hin zum Leninplatz, auf dem nach wie vor eine überlebensgroße Statue des Revolutionärs die Erinnerung an – ja, an was eigentlich? – wach hält. Die Partei jedenfalls, die sich seinem Erbe verpflichtet fühlt, die KPRF, hat bei den letzten Wahlen zum Parlament der Krim-Republik die Fünfprozenthürde nicht geschafft. Dafür sitzen nun fünf bekannte Millionäre in der Volksvertretung.

Zum Einkaufen geht es auf die Märkte, die Obst und exotisches Gemüse, halbe Schweine und ganze Hammel feilbieten, dazu frische Fische und anderes Meeresgetier. Vor dem Rathaus, wie jetzt das Gebäude des früheren Stadtsowjets heißt, hat sich ein mittelasiatischer Honigmarkt etabliert.

In Jalta sind die Bewohner, die Urlauber und die Marktfrauen zur Tagesordnung übergegangen. Im Historisch-Literarischen Museum in der Puschkin-Allee gibt es eine gedrängte, aber sehr informative Übersicht über die vieltausendjährige Geschichte der Krim. Die letzte Vitrine mit Fotos, Flugblättern und Dokumenten ist diesem »Umzug in einen anderen Staat« gewidmet. Die dramatischen Ereignisse des Februar 2014 sind jetzt Geschichte.

* Aus: junge Welt, Samstag, 23. Mai 2015


Zeittafel Krim

21. November 2013: Beginn der Maidan-Demonstrationen in Kiew

19. Januar 2014: Beginn der Straßenschlachten auf dem Maidan

21. Januar 2014: Krimparlament distanziert sich per Beschluss von Maidan-Aktivitäten

22. Februar 2014: Präsident Janukowitsch per Staatsstreich abgesetzt

23. Februar 2014: Russisch wird in Kiew per Parlamentsbeschluss als Amtssprache abgeschafft

26. Februar 2014: Demonstrationen von Maidananhängern und Unabhängigkeitsbefürwortern in Simferopol, Demonstranten blockieren in Sewastopol die Zugangsstraßen gegen befürchtete Maidan-Aktivisten

27. Februar 2014: »Bewaffnete Kräfte« besetzen das Krim-Parlament, die russische Fahne wird gehisst, das Gremium setzt den Ministerpräsidenten ab

30. Februar 2014: Kundgebung mit 30.000 Teilnehmern in Sewastopol für Beitritt zur Russischen Föderation (RF)

2. März 2014: Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Marine unterstellt sich der Krim-Regierung, »bewaffnete Kräfte« blockieren die ukrainischen Militärstützpunkte

16. März 2014: Referendum über den Beitritt zur RF, 96 Prozent stimmen dafür

18. März 2014: Unterzeichnung des Beitrittsvertrags zur RF

20. März 2014: Die russische Duma stimmt für die Aufnahme der Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation

21. März 2014: Die ukrainische Regierung unterzeichnet das EU-Assoziierungsabkommen mit Einbindung in die »europäische Sicherheitsstruktur«

10. April 2014: Die Krim gibt sich eine neue Verfassung als »unabänderlicher Teil der Russischen Föderation«

1. Juni 2014: Der Rubel wird alleiniges Zahlungsmittel auf der Krim

4. Februar 2015: Nach einer Umfrage der Nürnberger GfK unterstützen 93 Prozent der Krim-Bewohner den Anschluss an Russland



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