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Bomben auf das Dorf Staraja Kondraschowka

In der Ostukraine werden immer mehr Zivilisten Opfer der »Anti-Terror-Operation« der Kiewer Regierung

Von Ulrich Heyden, Moskau *

In dem Dorf am Ostrand der Ukraine gab es keine Stellungen der Separatisten. Sieben Menschen starben, als fünf Fliegerbomben niedergingen.

Vor den schwer beschädigten Häusern des ostukrainischen Dorfes Staraja Kondraschowka hockten am Mittwoch verzweifelte Menschen. Ältere Frauen fragten die aus Russland angereisten Fernsehjournalisten der Sender Russia today und NTW: »Wofür bestraft man uns?« Die Frage liegt auf der Hand, denn in dem Dorf gab es keine militärischen Stellungen der Aufständischen. Trotzdem gingen am 2. Juli fünf Fliegerbomben in dem Ort nieder. Sie wühlten tiefe Krater in die Dorfstraße und zerstörten mehrere Häuser. Entweder hat der Pilot zu spät auf den Knopf gedrückt – die nächste Stellung der Separatisten ist drei Kilometer weit entfernt – oder er hat wirklich den Befehl bekommen, das friedliche Dorf zu bombardieren, grübelt Juri, ein Anwohner, der früher Militärpilot war.

Auf der Dorfstraße von Kondraschowka, wo sonst Kinder mit ihren Fahrrädern entlangrasen, lagen tote Anwohner unter Decken. Sieben Tote, darunter ein fünfjähriger Junge, und elf Verletzte waren Folge des Luftangriffes an jenem Tag, als Außenminister Franz-Walter Steinmeier in Berlin mit seinen Kollegen aus Paris, Moskau und Kiew über Waffenruhe für die Ukraine verhandelte.

In den Häuserruinen brannte es noch, als die Journalisten in das Dorf kamen. Die Anwohner schimpften auf den Präsidenten »mit der Schokoladen-Fres…«. Alexander, ein Anwohner von etwa 35 Jahren, forderte die Korrespondenten im Befehlston auf, seine Mutter und seine Großmutter zu filmen. Die lagen mit abgerissen Gliedmaßen unter einer weißen Gardine. »Hier liegen Terroristen«, ruft Alexander verzweifelt. Seine Stimme überschlägt sich. Wird er jemals wieder mit Menschen aus Kiew normal sprechen können? Oder wird er jetzt selbst zur Waffe greifen?

Wie immer bei Angriffen auf zivile Objekte erklärt die Leitung der Anti-Terror-Operation, die Verantwortung für die Toten trügen »die Terroristen«. Die hätten einen »tückischen Angriff« mit Granatwerfern gegen den Ort ausgeführt, um die ukrainischen Armee dann dafür verantwortlich zu machen.

Doch überraschend kommt ein Eingeständnis von dem stellvertretenden Kommandeur der ukrainischen Spezialeinheit »Asow«, Igor Mosijtschuk. Der erklärt gegenüber dem ukrainischen Fernsehkanal »112«, es könne sein, dass es sich bei dem Bombardement auf das Dorf Kondraschowka um einen »Pilotenfehler« handelte.

Immer mehr ähnelt die Anti-Terror-Operation der Armee und der Spezialeinheiten einer Strafaktion gegen die russischsprachige Bevölkerung im Südosten der Ukraine. Immer wieder werden unbeteiligte Zivilisten getötet. Auf die Gebietsverwaltung von Lugansk feuerte ein Kampfflugzeug eine Rakete ab, das Gewerkschaftshaus von Odessa wurde in Brand gesteckt und in Mariupol wurden Passanten auf offener Straße von ukrainischen Soldaten erschossen. Mehrere Hundert Zivilisten sind im Bürgerkrieg in der Ostukraine schon gestorben, über Hunderttausend nach Russland und Zehntausende in andere Regionen der Ukraine geflüchtet.

* Aus: neues deutschland, Samstag 5. Juli 2014


Zivilisten als Ziele

Ukrainische Armee beschießt Wohnviertel und Krankenhäuser. Präsident Poroschenko kündigt Fluchtkorridor für Bewohner des Donbass an

Von Reinhard Lauterbach **


Im Donbass richtet die ukrainische Armee immer größere Zerstörungen an der zivilen und industriellen Infrastruktur an. In der belagerten Stadt Kramatorsk wurden erneut Wohnviertel und eine Schule mit Raketen beschossen. Anwohner zeigten am Morgen Geschoßhülsen, die aus Mehrfachraketenwerfern vom Typ »Grad« oder dem stärkeren »Uragan« abgeschossen worden seien. In Lugansk wurde das Bezirkskrankenhaus einschließlich des Operationssaales beschädigt. Die Chefärztin erklärte gegenüber dem russischen Fernsehen, es bestehe auch die Gefahr, daß die Röntgen- und Bestrahlungsgeräte zerstört würden und dabei Radioaktivität freiwerde. Parallel dazu beobachten die Behörden der »Volksrepubliken« Donezk und Lugansk seit Tagen gezielte Angriffe auf Industriebetriebe. So wurde ein Chemiewerk in der Stadt Lisitschansk durch Luftangriffe schwer beschädigt.

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko kündigte an, zur Waffenruhe zurückzukehren, sofern sich auch die andere Seite daran halte und die gesamte russisch-ukrainische Grenze wieder unter Kontrolle der Armee sei. Im übrigen versprach er erneut, einen Fluchtkorridor für Bewohner des Donbass zu öffnen, die ihre Heimat verlassen wollten. Der Chef des Kiewer Sicherheitsrates, Andrij Parubij, beschuldigte die Aufständischen, die Öffnung solcher Fluchtkorridore nicht zuzulassen. Sie würden auch Fluchtwilligen die Autos wegnehmen, sagte Parubij. Dagegen berichteten Flüchtlinge aus Kramatorsk, die Regierungstruppen hätten in der Nacht auf sie geschossen und sie gezwungen, mit erhobenen Händen durch die Stellungen der Belagerer zu gehen.

Für die wachsende Brutalität der ukrainischen Angriffe gegen die Zivilbevölkerung werden verschiedene Gründe genannt. Eine Hypothese lautet, daß die Einheiten von Armee und Nationalgarde keine hohen Verluste im Häuserkampf riskieren wollten und statt dessen aus der Distanz relativ ungezielt aus schweren Waffen auf die von den Aufständischen gehaltenen Städte und Siedlungen schössen. Denkbar wäre allerdings auch, daß man sich in Kiew insgeheim damit abgefunden hat, daß das Donbass für die prowestlichen Kräfte verloren ist, und man deshalb in einer Art Strategie der verbrannten Erde zerstört, was zu zerstören ist, um den Neuanfang der »Volksrepubliken« zu erschweren und ihre Unterstützung für Rußland möglichst kostspielig zu machen. Nicht zu vergessen ist, daß zumindest in Teilen der Kiewer Truppen eine Mischung von Haß und Verachtung gegenüber den Bewohnern des Donbass vorherrscht.

Eine Reportage in der sehr pro­ukrainischen polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza vom Freitag zitierte einen ukrainischen Soldaten mit der Aussage, die Ortsansässigen lebten »psychisch in Rußland«. Schon im Frühjahr hatte die Website der ukrainischen Botschaft in Washington Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk mit der Aussage zitiert, im Donbass lebten »Untermenschen«. Nachdem diese Passage für einige Unruhe gesorgt hatte, wurde sie inzwischen entfernt. Jedenfalls sind vor diesem Hintergrund Aussagen aus Kiew, wonach viele Bewohner des Donbass inzwischen die Ukrainer als Befreier herbeisehnten, wohl mit Vorsicht zu genießen. Nicht zuletzt deshalb, weil der von Kiew eingesetzte Gouverneur von Donezk, Sergij Taruta, vor einigen Tagen in einem offenen Brief an Poroschenko den ungezielten Beschuß von Wohnhäusern durch die Truppen kritisiert und geäußert hatte, dieses Vorgehen schaffe auch dort »Separatisten«, wo es zuvor keine gegeben habe.

** Aus: junge Welt, Samstag 5. Juli 2014


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