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Kiew will bei Genf 2 nicht mit Gegnern reden

Über 40 Tote bei Anti-Terror-Aktion / Übergangsführung soll zurücktreten / KP des Parlaments verwiesen

Von Klaus Joachim Herrmann *

Bei den bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten der Ukraine kamen am Dienstag weitere Menschen ums Leben.

Der Tod von mehr als 30 »Terroristen« und vier Angehörigen der Sicherheitskräfte war Innenminister Arsen Awakow als bisherige Bilanz des »Anti-Terror-Einsatzes« im Osten der Ukraine am Dienstag eine Mitteilung per Facebook wert. Später wurden acht Tote und mehr als ein Dutzend Verletzte hinzugefügt. Geheimdienstchef Valentin Naliwaitschenko räumte ein, die Einsatzkräfte von Polizei, Geheimdienst und Armee stießen auf das Misstrauen der Bevölkerung.

»Der Ukraine-Konflikt hat an Schnelligkeit und Schärfe zugenommen, wie wir es vor einiger Zeit nicht für möglich gehalten hätten«, sagte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier. Er schlug vor, noch vor der ukrainischen Präsidentenwahl am 25. Mai eine zweite Ukraine-Konferenz mit Russland, der Ukraine, den USA und der EU in Genf abzuhalten. Dazu wäre Moskau laut Außenminister Sergej Lawrow bereit, wenn die ukrainische Opposition mit am Tisch sitze. Das komme für die Interimsregierung nicht infrage, blockte Kiews Außenminister Andrej Deschtschiza sofort. Die Chefs der Außenämter Russlands, Deutschlands und der Ukraine sowie OSZE-Vorsitzender Didier Burkhalter trafen sich nach der Tagung des Europarates laut der österreichischen APA später am Wiener Flughafen. Der OSZE-Präsident forderte eine Waffenruhe.

Im Kiewer Parlament forderte die vormals regierende Partei der Regionen erfolglos den Rücktritt der Spitzen der Übergangsmacht. Die Fraktion sehe die volle Verantwortung für die »Strafexpedition in den Osten des Landes« und das »Verbrennen lebendiger Menschen in Odessa« beim Oberkommandierenden, Präsident Alexander Turtschinow, und den Chefs der Innen- und Geheimdienstressorts, Awakow und Naliwaitschenko. Darüber informierte der Abgeordnete Nikolai Lewtschenko laut UNIAN am Rande der geschlossenen Parlamentssitzung.

Der Präsidentschaftskandidat und Oligarch Petro Poroschenko warnte dagegen davor, während eines Brandes gegen »die Feuerwehrleute« vorzugehen. Er forderte einschneidende Personalveränderungen in den Regionen, wo nicht gegen Besetzer von Gebäuden und Geiselnehmer vorgegangen wurde. Für einen Runden Tisch der Nationalen Übereinkunft warb der Kandidat der »Regionalen« Michail Dobkin.

Die Fraktion der Kommunisten war unter Verletzung der Verfassung und der Parlamentsregeln von der Debatte ausgeschlossen worden, nachdem KP-Chef Petro Simonenko »separatistische Erklärungen« abgegeben habe, wie ein Abgeordneter der Vaterlandspartei verbreitete. Simonenko hatte die Untersuchung der »Massenmorde« in Odessa und der Ostukraine gefordert. Oleg Ljaschko, Chef der Radikalen Partei, erklärte laut RIA/Novosti: »Ich hoffe, dass wir diese Verbrecherpartei bald verbieten.«

Eine Volksbefragung zur Föderalisierung der Ukraine am 25. Mai lehnte das Parlament ab.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 7. Mai 2014


Die Russen wollen keinen Krieg

Ein militärisches Eingreifen in der Ukraine befürworten nach der jüngsten Umfrage nur acht Prozent

Von Irina Wolkowa, Moskau **


So groß der Jubel über den Gewinn der Krim bei den Russen war, in der Ukraine will eine große Mehrheit nicht militärisch eingreifen.

Territorialer Zugewinn und eine Erweiterung der Eurasischen Union, des von Moskau dominierten Wirtschaftsbündnisses zur Reintegration ehemaliger Sowjetrepubliken? Bitte gerne. Aber nicht um den Preis einer gewaltsamen Gebietsaneignung durch Truppeneinsatz.

Dagegen sprachen sich bei einer Umfrage, die die Moskauer Wirtschaftszeitung »rbk daily« dieser Tage beim Lewada-Zentrum in Auftrag gab, über 50 Prozent der Teilnehmer aus – obwohl sich Russland seit dem Beitritt der Krim im nationalen Rausch zu befinden scheint und die Berichterstattung staatstreuer Medien über die Entwicklungen in der Ostukraine mitunter wie Artillerievorbereitung zu einer militärischen Intervention Moskaus daherkommt. Zudem ist das Mandat, das der Föderationsrat Präsident Wladimir Putin dazu Anfang März erteilte, nach wie vor gültig.

Zwar beklagten bei der Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts knapp drei Viertel der Interviewten die Diskriminierung ethnischer Russen in den ehemaligen Sowjetrepubliken. Sie sehen die Rechte der russischsprachigen Bevölkerung vor allem in der Ukraine, in Litauen, Lettland, Estland und Georgien verletzt und machten das an Einschränkungen für den Gebrauch der russischen Sprache, der Verweigerung von Gewerbescheinen und Berufsverboten fest. Am wenigsten diskriminiert werden Russen demzufolge bei Moskaus engsten Verbündeten: in Belarus und Armenien.

Die überwältigende Mehrheit der Befragten sprach sich jedoch dafür aus, diese Missstände mit wirtschaftlichen und politischen Sanktionen Moskaus gegen die einstigen Bruderrepubliken zu bekämpfen. Knapp ein Drittel konnte sich eine symmetrische Antwort vorstellen: begrenzte Rechte für Arbeitsmigranten aus den UdSSR-Nachfolgestaaten in Russland. Ganze acht Prozent plädierten für eine Militäroperation.

Noch Ende März war das anders. Zehn Tage nach dem Beitritt der Krim zu Russland hatte »rbk daily« beim Lewada-Zentrum eine Untersuchung mit gleichlautenden Fragen in Auftrag gegeben. Damals waren drei Viertel der Befragten bereit, Kreml und Regierung bei einem militärischen Konflikt mit der Ukraine zu unterstützen. Nur 13 Prozent waren dagegen, fast genauso viele unentschlossen. Und 23 Prozent hielten eine militärische Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine für »wahrscheinlich« oder »sehr wahrscheinlich«. Das, so damals der Chef des Lewada-Zentrums, Alexej Graschdankin, seien »bedrückende Zahlen«.

Sein Chefsoziologe Denis Wolkow erklärte das Phänomen damit, dass die elektronischen Medien, die ausnahmslos staatlich oder staatsnah sind, die öffentliche Meinung bestimmen. Lediglich 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung würden alternative Informationen aus dem Internet beziehen. Dass sich der Trend jetzt gedreht hat, begründete Wolkow mit der Angst vor Verlust von Familienangehörigen und Freunden bei einem Waffengang.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 7. Mai 2014


Einpeitscher in Kiew

Ukraine: Machthaber verweigern Dialog. Kommunisten aus Parlament ausgeschlossen. Referendum über Föderalisierung abgelehnt

Von André Scheer ***


Eine diplomatische Lösung der Krise in der Ukraine bleibt in weiter Ferne. Die Tagung der Außenminister des Europarates am gestrigen Dienstag in Wien brachte keine Fortschritte. Auch ein bilaterales Treffen zwischen dem russischen Außenminister Sergej Lawrow und dem Chefdiplomaten des ukrainischen Regimes, Andrij Deschtschizja, über das im Vorfeld westliche Medien spekuliert hatten, kam nicht zustande. Lawrow wollte offensichtlich vermeiden, daß eine solche Unterredung als Anerkennung der Machthaber in Kiew durch Moskau interpretiert werden könnte.

Eine von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier am Dienstag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ins Spiel gebrachte Neuauflage der Genfer Ukraine-Konferenz erscheint ebenfalls wenig wahrscheinlich. Eine solche Tagung habe nur Sinn, wenn auch die Gegner des Kiewer Regimes mit am Verhandlungstisch säßen, betonte Lawrow. Deschtschi­zja wies das umgehend zurück. »Wir vertreten als ukrainische Regierung alle Regionen der Ukraine«, behauptete er. Nahezu zeitgleich lehnte es die Rada, das Parlament in Kiew, ab, die Bürger des Landes am 25. Mai über eine föderale Verfassung entscheiden zu lassen. Der Abgeordnete Olexander Brihinez von der Timoschenko-Partei »Vaterland« sagte laut der dem Regime nahestehenden Agentur Ukrinform, ein Referendum könne »nicht während des Krieges« durchgeführt werden. Für die Präsidentschaftswahl, die am selben Tag stattfinden soll, gilt das offenbar nicht.

Schon zuvor hatte die Rada für einen Eklat gesorgt, als sie die komplette Fraktion der Kommunistischen Partei (KPU) von einer Debatte über den Militäreinsatz im Osten des Landes ausschloß. Der Abgeordnete Oleg Ljaschko von der Radikalen Partei, der den Ausschluß der Kommunisten beantragt hatte, lobte anschließend das »historische Ereignis« und erklärte: »Ich hoffe, daß wir diese Verbrecherpartei bald verbieten.« Auslöser für den Rauswurf der Fraktion war offenbar ein Antrag von KPU-Chef Petro Simonenko gewesen, in öffentlicher Sitzung über die Morde an Zivilisten in Donezk, Luhansk und Odessa zu diskutieren.

In einer Erklärung warnte die KPU anschließend, nicht die »Separatisten«, sondern die »Neonazijunta« in Kiew treibe die Ukraine in einen Bürgerkrieg und zerstöre die territoriale Integrität des Landes. An ihren Händen klebe das Blut Hunderter unschuldiger Zivilisten, die durch die von ihr illegal gebildeten paramilitärischen Gruppen ermordet worden seien. Die Parlamentsmehrheit beschloß hingegen am Dienstag nach Angaben der Agentur Interfax, allen Teilnehmern der »Antiterroroperation« im Osten des Landes den Status regulärer Kombattanten zuzuerkennen. So bekommen auch die Todesschwadronen des »Rechten Sektors«, die unter anderem für das Massaker von Odessa am vergangenen Freitag verantwortlich gemacht werden, einen quasi-legalen Status.

In der Schwarzmeerstadt mehren sich inzwischen Hinweise darauf, daß die Zahl der am 2. Mai im Gewerkschaftshaus ermordeten Menschen weit höher liegt als bislang angenommen. Offiziell ist die Rede von 46 Todesopfern. Nach Angaben des Kommunalabgeordneten Wadim Sawenko starben in dem brennenden Gebäude jedoch 116 Personen. Einige von diesen seien erschossen worden, das Feuer sollte dann anschließend die Spuren der Mörder vernichten. Der ukrainische Fernsehsender TSN meldete am Montag, seit dem Massaker würden noch 48 Menschen vermißt.

*** Aus: junge welt, Mittwoch, 7. Mai 2014


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