Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Fragen bleiben

Was der ARD-Film zu MH 17 (nicht) bewiesen hat

Von Reinhard Lauterbach *

Die ARD hat einigen Aufwand getrieben, um den Flug MH17 vom 17. Juli 2014 zu rekonstruieren. Das Ergebnis der am Montag abend ausgestrahlten »Story im Ersten: Todesflug MH 17 – Warum mussten 298 Menschen sterben?« läuft auf die These hinaus, der Abschuss sei ein tragisches Versehen gewesen: Die Aufständischen im Osten seien womöglich durch einen Sympathisanten am Flughafen Dnipropetrowsk per SMS vor dem bevorstehenden Start eines ukrainischen Kampfflugzeugs gewarnt worden. Der Flugbegleiter sei am selben Tag von Sicherheitskräften verhaftet worden; aus dem Kontext geht hervor, dass er »kooperiert« habe. Aus Eintragungen in sozialen Netzwerken auf Seiten der Aufständischen ergibt sich, dass zunächst über den Abschuss eines ukrainischen Militärflugzeuges gejubelt wurde. Im weiteren Verlauf des Films werden abgehörte Telefongespräche aus dem Hinterland der Aufständischen zitiert, in denen die Beteiligten feststellen, dass »es total schiefgelaufen« sei.

Die Quelle dieser Telefonate und anderer zentraler Elemente der Argumentation des Films ist die Internetseite der britischen Organisation »Bellingcat«. Sie ist darauf spezialisiert, soziale Netzwerke auf beiläufig mitgelieferte Informationen – Straßenschilder, Reklametafeln und dergleichen – zu durchsuchen und dadurch zur Rekonstruktion des Ablaufs von Ereignissen beizutragen. Auf diese Weise will »Bellingcat« ermittelt haben, dass ein Raketenwerfer vom Typ BUK vom 16. bis 18. Juli 2014 kreuz und quer durch das Gebiet der Aufständischen gefahren sei. Das fragliche Gerät sei anhand einer beschädigten Identifikationsnummer der Ausrüstung einer russischen Flugabwehreinheit zuzuordnen. Russland sei damit wenigstens indirekt für den Abschuss verantwortlich.

»Bellingcat« bezeichnet sich als »investigative Bürgerjournalisten«, was einen Graswurzelcharakter der Organisation suggeriert. Man kann daran schon aufgrund der im Film sichtbaren sehr professionellen Bürotechnik Zweifel haben. Die Webseite von »Bellingcat« nennt als Recherchethemen zahlreiche Abstürze und Anschläge, die aktuellen oder potentiellen »Schurken« aus westlicher Sicht angelastet werden können; ganz oben »syrische Chemiewaffen«. Im übrigen: Die abgehörten Telefongespräche wurden nicht in sozialen Netzwerken geführt. Hier ist »Bellingcat« mit großer Wahrscheinlichkeit vom ukrainischen Geheimdienst gefüttert worden. Die Sprecher sind offenkundig Ukrainer; sie benutzen statt des russischen »Schto« (Was?) den ukrainischen Ausdruck »Scho«, wie den Einblendungen zu entnehmen ist, für die das Wort ins Russische transkribiert wird. Von wem und für wen? »Bellingcat« arbeitet für ein englischsprachiges Publikum; eine russischsprachige Version der Seite gibt es nicht. Eine ukrainische Propagandaseite ist als Quelle dieser Aussagen sehr wahrscheinlich.

Das Spiel über die Bande der »sozialen Netzwerke« betreiben im Krieg um das Donbass beide Seiten. Gewährsmann auf ukrainischer Seite ist Anton Geraschtschenko, PR-Berater des Kiewer Innenministeriums und inzwischen Parlamentsabgeordneter der »Volksfront«, der den instrumentellen Charakter seiner Postings in dem Film offen zugibt: »Wenn ich diese Bilder nicht veröffentlicht hätte, hätten am nächsten Tag die Russen die Ukraine beschuldigt, das Flugzeug abgeschossen zu haben.« Das haben sie ja kurz darauf sowieso getan, das Argument zählt also nicht. Dass Geraschtschenko ein Fachmann für genau jene Desinformation ist, die der Film aufzuklären beansprucht, wird nicht erwähnt.

Es bleibt eine Reihe von Fragen. Das BUK-System besteht nach Aussage von ehemaligen NVA-Soldaten, die daran ausgebildet wurden, aus mindestens drei Fahrzeugen; die Aufnahmen von »Bellingcat« zeigen jeweils nur eines plus einem Jeep als Begleitung. Zwar ist der Abschuss einer Rakete auch aus dem Starterfahrzeug möglich, doch bliebe dann zu erklären, warum dieses Fahrzeug, von dem man annehmen muss, dass es auf einer Geheimmission war, auf einem Rundkurs durch die Volksrepubliken transportiert wurde, darunter auch durch die Großstadt Donezk. Damit es gesehen werden konnte?

Der Luftraum über dem Donbass wurde von der Ukraine kurz vor dem Unglück unterhalb von 10.000 Metern gesperrt. Die Filmautoren stellen die Frage, warum die Ukraine die Höhe, in der der internationale Luftverkehr abgewickelt wird, von dieser Sperre ausgenommen hat. Es können natürlich die im Film genannten finanziellen Gründe sein: die Überfluggebühren internationaler Fluglinien spülen monatlich zweistellige Millionenbeträge in die Kiewer Staatskasse.

Aber wäre nicht auch dieser Hergang denkbar: In Dnipropetrowsk wird der mit den Aufständischen zusammenarbeitende Flugbegleiter festgenommen. Der von ihm angekündigte Militärflug bleibt aus, um den Gegner in die Falle zu locken. Oder wurde vielleicht die entscheidende SMS erst zu einem Zeitpunkt geschickt, an dem sein Mobiltelefon in der Hand der ukrainischen Behörden war? Statt des angekündigten ukrainischen Kampfflugzeugs kommt MH17. Das Freund-Feind-Erkennungssystem der BUK-Rakete erhält keine Antwort – kann es auch nicht, weil Zivilflugzeuge damit nicht ausgerüstet sind und über Kriegsgebieten auch nichts zu suchen haben. Damit ist für die Besatzung der Rakete der Punkt auf dem Radarschirm automatisch ein Gegner. Die Provokation ist – aus ukrainischer Sicht – gelungen. Schon das würde die Ukraine, die den Luftraum über dem Donbass als den ihren betrachtet, mitschuldig machen. Wenn man zumindest nicht ausschließt, dass diese Provokation geplant gewesen sein könnte, um ausländische Opfer zu bekommen, die man dem Gegner in die Schuhe schieben konnte, dann wäre die – wie die im Film gezeigten westlichen Experten sagen, höchst unübliche – Teilsperrung des Luftraums durch Kiew plötzlich relativ logisch.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 30. April 2015


Pogrom ohne Täter

Keine Gewalt, keine Brandstiftung: Die ukrainische Staatsanwaltschaft hat interessante Erkenntnisse zum Massaker von Odessa vor einem Jahr

Von Reinhard Lauterbach **


Lange war es ruhig um die Ermittlungen zum Pogrom von Odessa am 2. Mai 2014. Zur Erinnerung: mindestens 48 Gegner des Kiewer Machtwechsels waren in den Flammen des Gewerkschaftshauses gestorben oder vor dem Gebäude von Faschisten totgeschlagen worden, über 200 wurden verletzt. Vor einigen Tagen hielt nun der stellvertretende ukrainische Generalstaatsanwalt, Wolodymyr Gusyr, eine Pressekonferenz zum Stand der Ermittlungen, die es in sich hatte.

Wie die Zeitung Vesti Ukraina berichtete, sieht die Behörde keine Anzeichen für einen gewaltsamen Tod der Opfer. Keiner der Toten weise Spuren physischer Gewalt auf. Auch für vorsätzliche Brandstiftung gibt es nach Ansicht der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft. Ursache des Feuers sei vielmehr die »Anwendung feuergefährlicher Gemische« durch »Teilnehmer an den Massenunruhen«. Konkreter wurde der Beamte nicht. Leicht neben der Logik liegt die Aussage des Staatsanwaltes, die Menschen, die sich vor den angreifenden Nazis ins Innere des Gewerkschaftshauses geflüchtet hätten, hätten den Brandeffekt noch verschärft, indem sie die Türen verbarrikadiert hätten. Dadurch sei ein »Kamineffekt« entstanden; jeder, der schon einmal einen Kamin angezündet hat, weiß freilich, dass dessen Feuer durch das Schließen der Klappe gedämpft und nicht angefacht wird.

Die Mitteilungen Guzyrs widersprechen Aussagen von Zeugen der Ereignisse und eigenen Eindrücken des Autors, der wenige Tage nach dem Pogrom an der Beerdigung des 26jährigen Antifaschisten Andrej Brazhewskij teilnahm. Der junge Mann war nach Aussage seiner Mutter, die alles mitansehen musste, aus dem ersten Stock des brennenden Hauses gesprungen und vor dem Gebäude, wo er mit gebrochenen Gliedmaßen lag, mit Eisenstangen totgeprügelt worden. Seine im offenen Sarg liegende Leiche wies jedenfalls keine sichtbaren Spuren von Verbrennungen auf, sondern eine Naht an der Stirn, die wohl Wunden am Kopf verschließen sollte.

Immerhin hat die Staatsanwaltschaft Verdächtige: 22 mutmaßliche Anstifter der Unruhen warten nach Aussage Gusyrs auf ihren Prozess, nach 13 weiteren werde noch gefahndet. Sie hätten sich durch die Flucht ins Ausland den Ermittlern entzogen. Wann das Verfahren eröffnet wird, sagte der Staatsanwalt nicht. Die jetzige Lage ist für Kiew letztlich am bequemsten: Man kann alles auf Abwesende schieben und über die Beteiligung der eigenen Anhänger diskret Gras wachsen lassen. Die Theorie der nach Russland entwichenen Provokateure hatte die ukrainische Regierung entwickelt, nachdem eine erste Version, wonach diese aus Russland und Transnistrien eingeschleusten Anstifter in den Flammen umgekommen seien, sich nicht hatte halten lassen: Alle Opfer waren als Bewohner von Odessa und Umgebung identifiziert worden, die örtliche Polizei war noch nicht auf Linie gewesen.

Der Angriff auf das nicht besonders große Zeltlager von Anhängern des »Antimaidan« war von der »proukrainischen« Seite gut organisiert und koordiniert worden. Es ging strategisch gesehen darum, ein Übergreifen des Aufstands im Donbass auf die russischsprachige und traditionell multikulturelle Stadt Odessa zu verhindern. 1.500 Fußball-Hooligans und Faschisten aus Charkiw waren unter dem Vorwand eines Erstligaspiels nach Odessa angereist und hatten nach anfänglichen Rangeleien mit Antifaschisten in der Innenstadt im Zusammenspiel mit Angehörigen des örtlichen »Rechten Sektors« den Platz vor dem Gewerkschaftshaus gestürmt. Die linken Aktivisten waren vor der Übermacht der Angreifer in das Gewerkschaftshaus geflohen; die bei der Attacke verwendeten Molotow-Cocktails waren nach auf Youtube zirkulierenden Videos in der Innenstadt von »Freiwilligen«, darunter fröhlich lachenden Schülerinnen mit blau-gelben Fahnen um die Schultern, gemixt worden. Die örtliche Polizei sah dem Pogrom tatenlos zu; sie war um das Polizeipräsidium konzentriert worden, um einen Sturm der Behörde zu verhindern. Die Feuerwehr wurde von den rechten Demonstranten am Ausrücken gehindert.

Chronologie der Ereignisse und Augenzeugenberichte: www.lauffeuer-film.de

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 30. April 2015


Ohne Rücksicht auf Verluste

Bei der Rückeroberung von Mariupol durch die Ukraine kamen vor einem Jahr Dutzende Menschen ums Leben

Von Reinhard Lauterbach *


Mariupol ist für die Ukraine ein strategischer Ort. Nicht nur, dass dort zwei der größten Stahlwerke des Landes stehen. Der Hafen ist als einziger in der Ukraine mit einer Kohleverladungsanlage ausgestattet und kann deshalb helfen, den Ausfall der Donbass-Kohle auszugleichen. Im April 2014 sah es so aus, als würde der Aufstand im Donbass auch auf Mariupol übergreifen. Polizeipräsidium und Rathaus waren von Demonstranten mit roten Fahnen besetzt, sie forderten ein Referendum über die weitere Zugehörigkeit zur Ukraine.

Kiew antwortete mit Gewalt. Panzer drangen Anfang Mai in die Stadt ein, Truppen der soeben aus Angehörigen der Maidan-Selbstverteidigung gebildeten Nationalgarde stürmten die besetzten Gebäude. Mindestens 30 Menschen wurden getötet, Innenminister Awakow rühmte sich der »Liquidierung« mehrerer Dutzend »Terroristen«. Bei der Sicherung der Stadt für die Ukraine war auch der Oligarch Rinat Achmetow behilflich. Ihm gehören die beiden Stahlwerke. Aus deren Arbeitern formierte er eine bewaffnete Miliz, die in Werkoveralls durch die Stadt patrouillierte und Gegenwehr der Aufständischen erstickte.

Achmetows Rolle in Mariupol kennzeichnet sein strategisches Doppelspiel: er versuchte anfangs, im Konflikt mit den Aufständischen zu vermitteln, stellte sich aber letztlich auf die Kiewer Seite. Um im Donbass nicht enteignet zu werden, liefert er humanitäre Hilfe und hat bisher einige Millionen Dollar an die Volksrepublik Donezk gezahlt. Als Gegenleistung hat die Führung der Volksrepublik bisher nicht nur die Enteignung von Achmetows Betrieben verhindert, sondern offenbar auch die Eroberung der Stadt durch die Aufständischen.

*** Aus: junge Welt, Donnerstag, 30. April 2015


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