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Für die USA ist Ungeklärtes "ziemlich klar"

Trauer um die Opfer des Absturzes von MH 017 in aller Welt – Drohungen gegen Russland und Putin

Von Detlef D. Pries *

Der Westen richtet nach dem mutmaßlichen Abschuss der malaysischen Passagiermaschine über der Ostukraine scharfe Drohungen gegen Russland.

In den Niederlanden, Australien, Malaysia und anderen Staaten trauern Angehörige um die 298 Opfer des Absturzes der Boeing 777 in der Ostukraine. Dessen genaue Ursache ist noch ungeklärt. In Kiew und Washington scheint der Hauptschuldige indes schon gefunden: Russlands Präsident Wladimir Putin. »Es ist ziemlich klar, dass dieses System (das zum Abschuss der Maschine genutzt wurde – d.A.) von Russland in die Hände der Separatisten gelangte«, sagte US-Außenminister John Kerry am Sonntag dem US-Nachrichtensender CNN. Und die Kiewer USA-Botschaft teilte mit, Experten hätten die Echtheit des Mitschnitts eines Telefonats zwischen Separatisten bestätigt, aus dem hervorgeht, dass die Rebellen das Flugzeug versehentlich abgeschossen haben sollen.

Der britische Premier David Cameron, Frankreichs Präsident François Hollande und Bundeskanzlerin Angela Merkel forderten Putin auf, seinen Einfluss bei den Separatisten geltend zu machen machen, damit unabhängigen Nothelfern und Ermittlern freier Zugang zur Absturzstelle gewährt werde. Falls Russland die »erforderlichen Maßnahmen« nicht »sofort« treffe, werde der Rat der EU-Außenminister Konsequenzen ziehen, drohten sie laut Pariser Präsidialamt. »Wenn Präsident Putin seine Haltung zur Ukraine nicht ändert, dann müssen Europa und der Westen ihre Haltung zu Russland grundsätzlich ändern«, schrieb Premier Cameron in der »Sunday Times«.

Zuvor hatten OSZE-Vertreter geklagt, dass sie nur eingeschränkten Zugang zur Absturzstelle im Rebellengebiet hätten. Die Separatisten begründeten ihre Restriktionen damit, dass sie die Sicherheit der Experten nicht garantieren könnten, da die Kiewer Regierung einer Waffenruhe im umkämpften Gebiet nicht zustimmen wolle.

Nach eigenen Angaben haben die Aufständischen inzwischen »Flugzeugteile« gefunden, die »Black Boxes ähneln«. Das Material könne »internationalen« Ermittlern übergeben werden, zu den ukrainischen habe man kein Vertrauen.

Die sterblichen Überreste zahlreicher Opfer sind offenbar in die ostukrainische Stadt Tores gebracht worden, wo sie in drei Kühlwaggons lagern. Die Separatisten hätten von 167 Opfern in den Waggons gesprochen, das habe aber nicht geprüft werden können, sagte Michael Bociurkiw von der OSZE am Sonntagnachmittag. Der ukrainische Vizepremier Wolodymyr Groisman bestätigte, dass mit den Aufständischen vereinbart worden sei, die Leichen zunächst in Kühlwaggons zu lagern. Weitergehende Verhandlungen mit den »Terroristen« schloss der ukrainische Präsident Petro Poroschenko erneut aus.

CDU-Fraktionsvize Andreas Schockenhoff sieht derweil die Zeit gekommen, in der man »über einen Blauhelmeinsatz unter dem Dach der Vereinten Nationen mit einem entsprechenden Mandat nachdenken« müsse. Der »Rheinischen Post« sagte er, auch Deutschland wäre in diesem Fall gefragt. Der Vorstoß stieß nicht nur bei der LINKEN auf Ablehnung.

* Aus: neues deutschland, Montag 21. Juli 2014


Ein Flugzeug und viele Fragen

Wurde Flug MH 017 abgeschossen? Wenn ja, von wem? Ohne Experten vor Ort wird es keine Antworten geben können

Von René Heilig **


Der Absturz von Flug MH 017: Es gibt zu viele (falsche) Leute vor Ort, zu viele (falsche) Informationen in den Medien – und keine Antworten der Verantwortlichen und der Wissenden.

Information oder Desinformation? Wahrheit oder Lüge? Nach dem mutmaßlichen Abschuss der Boeing 777 von Malaysia Airlines am Donnerstagnachmittag kämpfen die Kriegsparteien mit den Waffen der Medien. Begierig saugen TV- und Radiosender, Zeitungen und vor allem Foren im Internet jede auch noch so krude Behauptung auf. Ungeprüft wird in die Welt entlassen, was letztlich mehr verschleiert als erklärt. Halbwegs objektiv verhält sich die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Deren Schweizer Botschafter, Thomas Greminger, äußerte sich nun gegenüber der »SonntagsZeitung«. Er meinte: »Es hat zu viele Leute. Das beunruhigt uns.« Es hielten sich Rebellen, Journalisten und bald auch internationale Delegationen sowie Angehörige bei der Absturzstelle auf. Die trilaterale Kontaktgruppe (Ukraine, Russland, OSZE), werde mit den Separatistengruppen in Kontakt bleiben, »damit diese ihre Versprechen bezüglich Zugang, Korridor und Zusammenarbeit einhalten«, so Greminger am Samstag weiter. Das sei unerlässlich für die Arbeit internationaler Ermittler.

Die stehen bereit, verschiedenste Einrichtungen haben ihre Unterstützung zugesagt. Wesentlich für die Untersuchung ist die sogenannte Black Box. Ein System zeichnet die Daten des Luftfahrzeugs auf, also Höhe, Geschwindigkeiten, Steigwinkel, Status der Bordsysteme und ähnliches, das andere System schneidet Funksprechverkehr und die interne Kommunikation im Cockpit auf. Die Rebellen behaupten, sie hätten sie gefunden. Laut der Nachrichtenagentur AFP sagte Seperatistenführer Alexander Borodaj am Sonntag, in Donezk man habe an der Absturzstelle »Flugzeugteile« gefunden, die »Black Boxes ähneln«. Ukrainischen Ermittlern bringe man »kein Vertrauen« entgegen, das Material könne jedoch »internationalen« Ermittlern übergeben werden. Wann dies geschehen sollte, war am Sonntag unklar.

Nach Aussagen von Reportern vor Ort arbeiten an den Absturzstellen lokale Mitarbeiter des ukrainischen Ministeriums für Katastrophenschutz. Sie sind unter Aufsicht der Rebellen, die aber offenkundig zu schwach sind, um das ganze Gebiet, in dem Trümmer liegen, zu kontrollieren.

Doch nicht nur die elektronischen Speicher können helfen, die Absturzursache zu ergründen. Die USA – einschließlich Präsident Barack Obama – scheinen sich sicher zu sein, dass die Maschine von einer Boden-Luft-Rakete des sowjetischen Systems »Buk« (Buche) abgeschossen worden ist. Über dieses mobile Waffensystem verfügt Russland wie die Ukraine. Beide Staaten haben es an der sensiblen Grenze stationiert.

Noch gibt es nur die Behauptung, dass eine solche Rakete die Absturzursache war. Seltsam wenig in Betracht gezogen wird die Möglichkeit, dass der Sprengsatz, der die Maschine zerlegte, an Bord gewesen ist. Der Theorie folgend, könnte der Unfallort ebenso zufällig sein, wie geplant. Der Ort der Explosion ließe sich mit Hilfe eines GPS-gesteuerten Zünders relativ exakt bestimmen, zumal die Route von Flug MH 017 – so wie die Hunderter anderer ziviler Linienflüge über die Ukraine – Tag für Tag dieselbe war. Der Zustand und die Lage der Rumpfteile, auch Gepäckstücke und sogar die Körper der Opfer ließen eine exakte Bestimmung zu, woher die Explosion kam, welcher Sprengstoff verwendet wurde, ob es sich um eine Bombe oder eine Rakete gehandelt hat. Doch dazu müsste man Experten an nicht-manipulierte Funde heranlassen.

Warum machen viele zivile Airlines erst nach dem Unfall einen Bogen um das Rebellengebiet? Warum hatte Kiew nicht schon längst den Luftraum über dem Kriegsgebiet gesperrt? Man habe es für ausreichend empfunden, dies bis zu einer Höhe von 10 000 Fuß (knapp 3050 Meter) zu veranlassen, heißt es. Man hatte angeblich geglaubt, die Aufständischen verfügten nur über Ein-Mann-Raketen, die Flugzeuge und Hubschrauber nur bis knapp 3000 Meter gefährden können. Diese Aussage ist mehrfach unsinnig. Erstens wusste man spätestens seit dem Abschuss eines An 26-Transporters der ukrainischen Luftwaffe am 14. Juli, dass die Rebellen über weitreichende Systeme verfügen. Die Antonow flog in 6500 Metern Höhe. Zweitens: Wenn der Kiewer Armeeführung schon entgangen sein sollte, dass eine ihrer Flugabwehrstellungen – die Regimentsbezeichnung soll 1402 lauten – bereits im Juni von den Rebellen erobert worden ist, so hätte der ansonsten rührige Geheimdienst wenigsten die Meldung von ITAR-Tass registrieren können – die russische Nachrichtenagentur hatte am 29. Juni darüber berichtet, dass die Aufständischen damit über »Buk«-Systeme verfügen. Trotzdem wurde der Luftraum über dem umkämpften Gebiet nicht gesperrt.

Grundsätzlich ist es möglich, dass man rein mathematisch den Startort der Rakete ermittelt. Die Ausgangsdaten sind bekannt. Es steht fest, welchen Kurs Flug MH 017 gesteuert hat, in welcher Höhe die Maschine flog, wann sie von den Radarschirmen verschwand. Experten können Modelle erstellen, in welchem Umkreis die Raketenstellung gewesen sein muss – so die Abschusstheorie stimmt. Noch hilfreicher wären militärische Radaraufzeichnungen von ukrainischer und russischer Seite. Oder von Frühwarnflugzeugen der NATO. War kein AWACS in den Nachbarstaaten am Himmel? Und Russland hatte auch kein fliegendes Radar an der Grenze im Einsatz?

Die zivile Luftraumkontrolle liefert nicht genügend aussagefähige Daten, denn zumeist nutzt man über weite Gebiete kein aktives Radar, sondern die Transponderdaten, die das Flugzeug sendet. Zudem ist ziviles Gerät nicht geeignet, den Anflug einer drei Mach schnellen Rakete zu registrieren.

Die Computermodelle ließen sich bestens ergänzen durch Daten von Satelliten. Die USA sind sich sicher, dass eine »Buk« Ursache der Katastrophe ist. Präsident Barack Obama sagte, es »gibt Hinweise« darauf, dass das Flugzeug von einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen worden ist, die in dem ukrainischen Gebiet, das von den von Russland unterstützten Separatisten kontrolliert wird, stationiert war. US-Analysten, so die »New York Times«, konzentrieren ihre Nachforschungen auf das Städtchen Snizhne Torez. Das liegt 80 Kilometer östlich der Rebellenhochburgen Donezk. Man habe die Flugbahn der Rakete verfolgt, den Startort aber noch nicht zweifelsfrei identifiziert.

Warum liegen die Belege dafür noch immer nicht auf dem Tisch? Gibt es keine Radarsatellitenbilder, optische Aufklärungsbilder? Das Wetter am Unglücksort und in der Unglückszeit ließe sogar Spektralanalysen zu, mit deren Hilfe der Raketentreibstoff und so auch das mutmaßlich verwendete System bestimmt werden könnten. Die Frage nach solchen Daten geht selbstverständlich auch an Moskau.

Ein weiteres Indiz für einen Raketenabschuss wären Radarsignaturen. Nach den Einsatzgrundsätzen der »Buk«-Komplexe gibt es zwei Möglichkeiten, um ein Flugziel zu vernichten. Ersten – so würden reguläre Armeen handeln – ist da die zentralisierte Führung eines Komplexes. Mit dem Aufklärungssystem »Kupol« wird das Ziel ausgemacht. Einer entsprechenden Startrampe wird das Ziel zugewiesen. Von dort wird das Ziel erfasst und eine Kennungsabfrage durchgeführt. So unterscheidet man Freund von Feind. Doch die Boeing ist eine zivile Maschine, sie konnte keine Antwort geben. Im Kriegsfall heißt das, hier fliegt der Feind. Feuer frei!

Um das Flugzeug mit einem »Buk«-Flugkörper zu treffen, muss man das Ziel beleuchten. Das heißt, die Rakete fliegt quasi auf dem Radarstrahl, mit dem die Bodenstation das Flugzeug im Blick behält. Obwohl die Reaktionszeit von der Zielerfassung bis zum Abfeuern der Rakete nur 22 Sekunden beträgt, ist die Rampe durch die Beleuchtungsnotwendigkeit relativ einfach aufzuklären. Während die Ukraine beteuert, keine »Buk«-Raketen abgefeuert zu haben, will das russische Verteidigungsministerium nach einem Bericht der Nachrichtenagentur RIA am Tag des Absturzes Radaraktivitäten der ukrainischen Luftabwehr registriert haben, die auf »Buk«-Stellungen hindeuten. Doch davon ist seither nicht mehr die Rede in den Propagandaschlachten.

Es gibt jedoch auch eine zweite Art der Bekämpfung von Luftzielen durch das »Buk«-System. Dabei läuft eine Rampe im autonomen System. Das Ziel wird von dem Feuerleitradar der Rampe selbst in einer Reichweite von bis zu 32 Kilometern erfasst. Diese Begrenzung engt den Standort einer möglichen Abschussstellung weiter ein.

Neben der zweifach möglichen Radaraufklärung und -leitung gibt es aber auch eine ganz simple optische. Die schließt ein mögliches irrtümliches Abschießen der Boeing aus. Man sieht Kondensstreifen – in dieser Gegend tauchten die im Minutenabstand auf, weil es eine internationale Lufttrasse gibt -, man geht davon aus, dass eigene Flugzeuge nicht am Himmel sind, weil man keine hat, sieht den konstanten West-Ost-Kurs, weiß somit, dass die Maschine nicht aus Russland kommt. Die Rampenbesatzung schaltet das Radar auf Zielverfolgung und feuert.

Eine – wie von Kiew auch angedeutete Verwechslung der Maschine mit einem IL 76 Transporter der ukrainischen Streitkräfte ist – vorausgesetzt, die »Buk« wurde von kundigem Personal welcher Seite auch immer bedient – in jedem Fall auszuschließen. Selbst bei nur optischer Aufklärung hätte das nicht passieren können, die IL hätte vier Kondenzstreifen gezogen, die Boeing 777 hat nur zwei Triebwerke.

Der Unfall oder Abschuss über der Ukraine, bei dem 298 Menschen grausam umgekommen sind, verlangt eine gründliche Aufklärung, die nur durch eine international besetzte Kommission von Experten erfolgen kann. Deren Arbeit muss so transparent wie möglich sein.

** Aus: neues deutschland, Montag 21. Juli 2014


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