Kiews Kellerleichen
Neue Berichte über die Maidan-Gewalt vor einem Jahr
Von Reinhard Lauterbach *
Die rund 100 Toten in der Schlussphase des Kiewer Euromaidan sind die Grundlage des Kiewer »Revolutions«-Mythos. Als »himmlische Hundertschaft« verklärt, sind sie in der offiziellen Ukraine Gegenstand eines anhaltenden Totenkults. Sollen sie doch diejenigen gewesen sein, die für den Wunsch nach einer prowestlichen Ukraine ihr Leben durch Polizeikugeln des Janukowitsch-Regimes verloren haben.
Zweifel an dieser eindimensionalen Darstellung der Vorgänge hatte es schon rasch gegeben. Nicht nur deshalb, weil auch auf seiten der Polizei etliche Todesopfer zu beklagen waren. Bereits 14 Tage nach den blutigen Ereignissen kam ein Telefongespräch zwischen der damaligen EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton und dem damaligen estnischen Außenminister an die Öffentlichkeit. Darin berichtete dieser, die leitende Ärztin des Rettungsdienstes des Maidan, Olga Bogomolez, habe ihm mitgeteilt, in den Leichnamen von Opfern beider Seiten seien gleichartige Projektile gefunden worden. Bogomolez dementierte diese Äußerung später wieder, aber was in den letzten Februartagen 2014 ein Team des WDR-Fernsehmagazins »Monitor« recherchierte, war nicht durch ein Dementi aus der Welt zu schaffen: Aus der Rekonstruktion der Schusskanäle an einigen Bäumen in der Institutska-Straße, wo ein Großteil der Schießereien stattfand, ergab sich, dass aus dem Rücken der gegen das Regierungsviertel vorgehenden Demonstranten gefeuert worden sein muss. Die Frage war immer noch, wer da geschossen hat.
In Frage kamen erstens Scharfschützen der Sonderpolizeieinheit »Berkut«. Dagegen spricht erstens, dass das Hotel »Ukraina«, aus dem geschossen wurde, damals schon seit Monaten in der Hand des Euromaidan war, der dort unter anderem ein Lazarett für seine Verletzten eingerichtet hatte. Sollten Polizisten von Janukowitsch mit voller Bewaffnung in diese Höhle des Löwen eingedrungen sein? Dagegen spricht zweitens ein dokumentierter Anruf des damaligen Polizeichefs bei Andrej Parubi, seinem Gegenspieler vom Maidan. Darin meldete der Mann mit allen Anzeichen der Überraschung, aus dem Rücken der Demonstranten werde auf die Polizei geschossen. Parubi möge doch feststellen, was dort los sei, und das Schießen abstellen.
Die offizielle Kiewer Version ist sehr dubios und unkonkret: wenn es keine Scharfschützen der Polizei gewesen sein sollten, dann entweder Vertreter russischer Geheimdienste oder Agenten einer »dritten Kraft«. Dass auch Aktivisten des Maidan über Schusswaffen verfügt und diese eingesetzt haben könnten, wird von offizieller Seite bis heute bestritten.
In der Sendung »Newsnight« präsentierte dagegen der britische Fernsehsender BBC vor einigen Tagen einen Mann, der zugibt, als Mitglied der Maidan-Selbstverteidigung auf Polizisten geschossen zu haben, und zwar bevor die Polizei ihrerseits das Feuer eröffnet habe. Der Mann, der nur mit unkenntlich gemachtem Gesicht in einem abgedunkelten Zimmer gezeigt wurde, erklärte, er sei als Mitglied der Maidan-Selbstverteidigung bereits im Januar gefragt worden, ob er schießen könne. Auf seine bejahende Antwort – er sei schließlich beim Militär gewesen – habe ihm sein Anführer bedeutet, er solle sich bereithalten. Am Abend des 19. Februar habe ihm dann jemand ein Scharfschützengewehr und viel Munition in die Hand gedrückt und ihn aufgefordert, am nächsten Morgen in der Kolonnade des am Unabhängigkeitsplatz gelegenen Konservatoriums Position zu beziehen. Von dort aus, durch Säulen gedeckt, hätten er und ein zweiter Mann gezielt auf Polizisten geschossen, die damals lediglich einen Teil des Unabhängigkeitsplatzes besetzt gehalten hätten, aber nicht offensiv gegen die Demonstranten vorgegangen seien. Er habe sie nicht töten wollen, so der von der BBC präsentierte Zeuge. Nachdem die Polizei dann ihrerseits das Feuer eröffnet habe und die Lage eskaliert sei, hätten ihn Leute, die er der Maidan-Security zurechnete, an den Stadtrand von Kiew gebracht und ihn dort seiner Wege gehen lassen.
Dass auf dem Maidan Schusswaffen vorhanden waren, lässt sich auch aus Plakaten erschließen, die der Autor wenige Tage vor der finalen Eskalation auf dem Maidan gesehen hat. Darauf wurde um Spenden »für Zigaretten und Munition« gebeten. Schon im vergangenen Oktober hatte ein Vertreter des ukrainischen Innenministeriums eingeräumt, dass bei der Besetzung von Polizei- und Armeekasernen im Januar 2013 auch zahlreiche Waffen in die Hände des Euromaidan gekommen seien. Die »dritte Kraft«, die auf seiten der Regimegegner das Feuer eröffnete, könnte auch eine »Kraft Nummer zweieinhalb« gewesen sein, zumal in jenen Tagen der Abgeordnete Sergej Paschinski von der »Vaterlandspartei« mit einem Scharfschützengewehr in der Hand fotografiert wurde. Die neuen Machthaber haben bisher weder eigene Untersuchungsergebnisse über den Hergang vorgelegt noch eine internationale Untersuchung genehmigt.
* Aus: junge Welt, Samstag, 21. Februar 2015
Zurück zur Ukraine-Seite
Zur Ukraine-Seite (Beiträge vor 2014)
Zurück zur Homepage