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Wer schafft es in die zweite Runde?

Gut fünf Jahre nach der "Orangenrevolution" ist die Ukraine wieder zur Präsidentenwahl aufgerufen / Viktor Janukowitsch und Julia Timoschenko gelten als Favoriten bei Abstimmung

Von Manfred Schünemann *

Am Sonntag (17. Jan.) sind etwa 36,5 Millionen Wahlberechtigte in der Ukraine aufgerufen, einen neuen Präsidenten zu wählen. Um das Amt bewerben sich 18 Kandidaten, darunter Amtsinhaber Viktor Juschtschenko, Ministerpräsidentin Julia Timoschenko und Oppositionsführer Viktor Janukowitsch, die in den vergangenen gut fünf Jahren abwechselnd miteinander verbündet und verfeindet waren.

Nach allen Prognosen wird keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang die absolute Stimmenmehrheit erreichen. Vorausgesagt wird eine Stichwahl, zu der am 7. Februar Julia Timoschenko und Viktor Janukowitsch antreten dürften. Entscheidend wird dabei sein, wem es besser gelingt, das Wählerpotenzial der im ersten Wahlgang unterlegenen Bewerber für sich zu mobilisieren. Eine Wiederholung der Auseinandersetzungen wie bei der Wahl vor fünf Jahren ist so gut wie ausgeschlossen. Weder ist die Bevölkerung dazu bereit noch würden solche Aktionen diesmal finanziell und organisatorisch aus dem Ausland unterstützt.

Gespieltes Desinteresse in Ost und West

Sowohl Russland als auch der Westen halten sich weitgehend zurück und demonstrieren geradezu Desinteresse. Offensichtlich überwiegt der Wunsch nach einem möglichst reibungslosen Amtswechsel, um danach ohne Zeitverzug über anstehenden Entscheidungen (Wirtschaftsverträge mit Russland; Assoziierungsabkommen mit der EU) verhandeln zu können. Trotzdem sind nach dem ersten Wahlgang gegenseitige Vorwürfe der Wahlfälschung oder -manipulation nicht auszuschließen. Die Partei der Regionen unter Janukowitsch hat bereits Kundgebungen angemeldet, Timoschenko schließt Einsprüche gegen das Wahlergebnis beim Verfassungsgericht nicht aus. Doch Demonstrationen auf dem berühmten Kiewer Platz der Unabhängigkeit wurden gerichtlich verboten.

Sicher scheint zu sein, dass Amtsinhaber Viktor Juschtschenko nicht wiedergewählt wird. Zu schlecht ist die Bilanz seiner fünfjährigen Amtszeit, zu groß die Enttäuschung der Wähler über sein Unvermögen, Versprechungen aus den Tagen der »Revolution in Orange« auch nur ansatzweise zu erfüllen. Vor allem ihm lastet die große Mehrheit der Bevölkerung an, dass es nicht gelungen ist, die allgegenwärtige Korruption in Wirtschaft und Politik zu bekämpfen, die endlosen Machtkämpfe zu beenden, das Ansehen der Ukraine aufzubessern und ein konstruktives Verhältnis zu Russland zu entwickeln. Das Misstrauen gegenüber der Politik und ihren Akteuren dürfte sich auch in der Wahlbeteiligung niederschlagen.

In endlosen Fernseh-Politshows vor der Wahl bezichtigten sich Politiker aller Richtungen gegenseitig der politischen und wirtschaftlichen Korruption, der persönlichen Bereicherung und des Landesverrats. So warf Juschtschenko der Regierung Timoschenko vor, durch die Gasabkommen mit Russland habe die Ukraine bereits 70 Prozent der Kontrolle über das Transportsystem verloren. Selbst Mitarbeiter des Präsidialamts konnten nicht erklären, worauf diese Behauptung beruht. Experten sprachen von »purem Populismus«.

Gasstreit dauert auch im Wahlkampf an

Die gegenseitigen Vorhaltungen und Beschimpfungen der Politiker lenken davon ab, dass mit der Wahlentscheidung am Sonntag wichtige Weichen für die Entwicklung im Innern und für die außenpolitische Orientierung der Ukraine gestellt werden. Zwar hat der KP-Vorsitzende und Präsidentschaftskandidat Petro Simonenko recht, wenn er in den Auseinandersetzungen zwischen Timoschenko und Janukowitsch in erster Linie »einen Kampf zweier mächtiger Kapitalgruppierungen um die politische Macht« sieht. Doch ist es nicht unbedeutend, welche der beiden Gruppierungen den Kurs der Ukraine bestimmt und welchen Einfluss der national-konservative Flügel um Juschtschenko künftig auf die Politik haben wird.

Weitgehende Übereinstimmung herrscht über die Annäherung der Ukraine an die EU. Was den periodisch aufflammenden Gasstreit mit Russland angeht, sprechen sich alle Lager für eine Änderung des Vertrags vom Januar 2009 aus, in dem sich die Ukraine u.a. zur Abnahme einer bestimmten Gasmenge zu Festpreisen verpflichtet hatte. Janukowitsch griff aber auch wieder die Idee eines russisch-ukrainisch-EU-europäischen Gaskonsortiums auf und sprach sich für einen Beitritt der Ukraine zum Gemeinsamen Wirtschaftsraum (Russland, Kasachstan, Belarus) aus. Er steht für eine ausgewogene, pragmatische Politik gegenüber Russland und dem Westen.

National-konservative und nationalistische Kreise dagegen nehmen Kurs auf strikte Abgrenzung von Russland und Unterordnung unter die westlichen Finanz- und Wirtschaftsstrukturen. So forderte Juschtschenko die Regierung auf, die Inlandgaspreise drastisch zu erhöhen, um damit eine Bedingung des Internationalen Währungsfonds für die Freigabe weiterer Kredite zu erfüllen. Während Juschtschenko in seiner Neujahrsansprache nochmals erklärte, die Ukraine werde »zur EU und zur NATO gehören«, betonte Janukowitsch, die Ukraine bleibe »ein neutraler Staat« und werde sich weder der NATO noch dem Bündnis einiger GUS-Staaten anschließen«.

Den Ukrainern wäre zu wünschen, dass ihre führenden Politiker nach der Wahl die politische Dauerkrise überwinden, indem sie einen Ausgleich suchen und die unterlegene Gruppierung in die politische Verantwortung einbinden. Nur so dürfte es möglich sein, dem Land Stabilität zu geben und die wirtschaftliche Lage zu verbessern.

* Aus: Neues Deutschland, 16. Januar 2010


Machtkämpfe ohne Ende

  • 31. Oktober 2004: Erste Runde der Wahl eines Nachfolgers von Staatspräsident Leonid Kutschma. In Führung liegen der frühere Premierminister Viktor Juschtschenko (39,9 Prozent) und der amtierende Regierungschef Viktor Janukowitsch (39,3 Prozent).
  • 21. November: Das offizielle Ergebnis der Stichwahl (Janukowitsch 49,5 Prozent, Juschtschenko 46,6 Prozent) ruft Vorwürfe massiver Manipulation und zweiwöchige Massenproteste hervor – die »Revolution in Orange«.
  • 3. Dezember: Oberstes Gericht verfügt die Wiederholung der Stichwahl.
  • 26. Dezember: Juschtschenko gewinnt mit 52 Prozent der Stimmen, Janukowitsch erhält 44,2 Prozent.
  • 23. Januar 2005: Juschtschenko wird als Staatspräsident vereidigt.
  • 4. Februar: Das Parlament bestätigt Juschtschenkos Verbündete Julia Timoschenko als Regierungschefin.
  • 22. September: Nachdem Juschtschenko Timoschenko entlassen hat, wird Juri Jechanurow neuer Ministerpräsident der Ukraine.
  • 10. Januar 2006: Timoschenko und Janukowitsch verbünden sich und bringen die Regierung Jechanurow durch ein Misstrauensvotum zu Fall.
  • 26. März: Parlamentswahlen sehen die Partei Janukowitschs vorn, der mit Hilfe von Sozialisten und Kommunisten am 4. August Premier wird.
  • 2. April 2007: Juschtschenko löst das Parlament auf, das sich dem Präsidenten monatelang widersetzt.
  • 30. September: Die Janukowitsch-Partei gewinnt Neuwahlen, Juschtschenko und Timoschenko verbünden sich jedoch und Timoschenko wird im Dezember wieder Regierungschefin.
  • 2. September 2008: Die Koalition zerbricht, nachdem auch Timoschenkos Partei im Parlament für eine Beschneidung der Macht des Präsidenten gestimmt hat.
  • 8. Oktober: Juschtschenko verkündet erneut die Parlamentsauflösung, im Dezember wird die Koalition aber erneuert, ohne dass die Machtkämpfe enden.
ND/ddp

Wahlkampfzitate

VIKTOR JUSCHTSCHENKO:
»Das Moskauer Projekt darf am 17. Januar nicht siegen. Timoschenko und Janukowitsch sind die besten Vertreter einer einigen Kreml-Koalition.«

JULIA TIMOSCHENKO:
»Ich will nicht, dass das Land – Gott bewahre – einen Präsidenten bekommt, der erstens ein Feigling ist und zweitens nicht versteht, was er auf diesem Posten machen soll.«
(über Janukowitsch)

VIKTOR JANUKOWITSCH:
»Wenn ich Julia so antworten würde, wie ich über sie denke oder wie ich es gerne wollte, würden Sie die Achtung vor mir verlieren. Ich bin noch nie in meinem Leben so tief gesunken, dass ich mit einer Frau in unnützem Geschwätz wetteifern würde.«

Daten

Die Ukraine ist nach Russland der größte Flächenstaat Europas und zählt rund 46 Millionen Einwohner. Das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte in der Krise 2009 um 15 Prozent. Der Staat ist mit 23 Milliarden US-Dollar im Ausland verschuldet.




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