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Bruch mit Russland wäre für Ukraine katastrophal

Die ukrainische Oberste Rada hat ihre Arbeit im September mit den ersten Salven im Handelskrieg mit Russland begonnen.

Von Juri Boiko *

Dieser Krieg wird intensiver als alle vorherigen.

Russlands Vizepremier Igor Schuwalow hat am 1. September die Minister damit beauftragt, die russische Wirtschaft vor Waren aus der Ukraine zu schützen. Von außen sieht das wie der Schutz der russischen Produzenten und Verbraucher vor dem WTO-Mitglied Ukraine aus.

Der ukrainischen Regierung wird es begreiflicherweise recht schwer fallen, sich mit der russischen Seite über die Milderung der Wirtschaftssanktionen zu einigen. Aber verantwortlich für die augenscheinliche Politisierung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern ist die ukrainische Führung, die ihr Land planmäßig in eine außenpolitische Konfrontation mit der Russischen Föderation hineinzieht.

Kiew hätte im Kaukasuskonflikt neutral bleiben sollen

Bei aller Mehrdeutigkeit der jüngsten Ereignisse im Kaukasus hätten die ukrainischen Machthaber lieber von einem pragmatischen Prinzip ausgehen sollen - die Sorge um das Wohl des Volkes. Dieser Pragmatismus setzt aber die volle Neutralität des Landes gegenüber dem Kaukasus-Konflikt voraus. Leider unterstützen der Präsident und das Außenministerium der Ukraine nur die Position einer Konfliktpartei. Ihre Erklärungen und Handlungen belegen, dass die Ukraine Russland die Alleinschuld für den Beginn der bewaffneten Konfrontation gibt.

Dabei zeugt die Logik der realen Ereignisse, die am 8. August in Südossetien begannen, und, was nicht minder wichtig ist, die Logik der politischen, ökonomischen, kulturellen und anderen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine davon, dass Kiew in diesem Konflikt Neutralität wahren müsste.

Es ist ja offensichtlich: Wenn der Präsident und das Außenministerium Partei für den Aggressor, der als erster Waffen einsetzte und das friedliche Zchinwali überfiel, ergreifen, provoziert das Russland zu unfreundschaftlichen Antworten. Dies bestätigen die jüngsten Verfügungen des russischen Vizepremiers Schuwalow.

Leider wurden aus den vorherigen Handelskriegen mit Russland nicht die richtigen Schlüsse gezogen, und in den letzten vier Jahre stand die Wirtschaft des Landes auf völlig verlorenem Posten. Es muss festgestellt werden, dass in den Jahren nach der Orangenen Revolution anstatt der so notwendigen politischen und ökonomischen Reformen endlose politische Kriege unternommen wurden, die dazu noch mit persönlichen Machtkämpfen vermischt wurden. Ergebnis: Während wir gestern Russlands Partner waren, sind wir heute Konkurrenten, und für Morgen werden uns Konfrontation und Feindschaft vorgeschlagen.

Russland der wichtigste Handelspartner

Dabei ist Russland gegenwärtig der bedeutendste Handelspartner der Ukraine und wird es offenbar noch mehrere Jahrzehnte lang bleiben, da sein Anteil an ihrem Gesamtwarenumsatz 29 Prozent ausmacht (Angaben für die ersten sechs Monate 2008). 2007 stieg der ukrainische Export nach Russland um 44,2 Prozent auf 13,3 Milliarden Dollar. Gegenüber 2006 nahm der Gesamtwarenumsatz zwischen Russland und der Ukraine 2007 um 22,4 Prozent zu und betrug beinahe 30 Milliarden Dollar.

Anfang dieses Jahres einigten sich die Staatschefs beider Länder darauf, den Gesamtwarenumsatz auf 50 Milliarden Dollar anzuheben.

Leider macht der eingeleitete Handelskrieg diese Pläne zunichte. Heute ist Russland der wichtigste Absatzmarkt für viele ukrainische Erzeugnisse, darunter solche des Maschinenbaus, der Fleisch- und der Molkereiindustrie sowie einiger Walzgutarten. Experten zufolge werde nicht einmal der WTO-Beitritt der Ukraine den Trend zur Erhöhung des russischen Anteils an der Struktur des ukrainischen Exports gänzlich überwinden können.

Unter schlechten Beziehungen zu Russland leiden v.a. die Exportunternehmen

Die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine werden vor allem diejenigen ukrainischen Exportunternehmen zu spüren bekommen, die sich nach Russland orientieren. Heute gelten auf dem russischen Markt Handelsrestriktionen für ukrainische Produzenten in Höhe von ca. 700 Millionen Dollar. Dabei gab es eine Vereinbarung, dass sie 2009 - 2010 zum Teil abgeschafft werden sollten. Darüber wurde zwischen uns und den Russen intensiv verhandelt, als Viktor Janukowitsch noch ukrainischer Regierungschef war.

Umso wahrscheinlicher ist, dass die russische Regierung die Beschränkungen verlängert. Unsere Unterstützung für Georgien, könnte unsere Exporteure somit Hunderte Millionen Dollar kosten. In erster Linie werden die Gasverbraucher die Ergebnisse des Handelskrieges zu spüren bekommen. Im Juni erklärte Gazprom-Chef Alexej Miller, 2009 werde der Gaspreis für unser Land 400 Dollar pro 1000 Kubikmeter betragen.

Die Exportbeschränkung für Kokskohle aus Russland kann ein Schlag gegen die ukrainische Hüttenindustrie sein. Von der Notwendigkeit eines solchen Schritts sprach vor kurzem Premier Wladimir Putin. Unterdessen wird der Kohlemangel in der Ukraine schon jetzt spürbar. Im laufenden Jahr wollten die Produzenten ihn zum Teil durch Lieferungen aus Russland ausgleichen, wo sie 4 Millionen Tonnen dieses Rohstoffs zu kaufen planten. Diese Pläne müssen am ehesten aufgegeben werden.

Folgen des Wirtschaftskriegs mit Russland erlebt bereits das Rohrwalzwerk von Charzyssk (Gruppe Metinvest). Seit Jahresbeginn hat das Unternehmen die Stahlrohrproduktion auf weniger als die Hälfte gesenkt. Es verliert die Aufträge des wichtigsten Abnehmers, der russischen Gesellschaft Gazprom. Wegen politischer Interessen sind die Ergebnisse der langjährigen Arbeit der Regierung Janukowitsch, die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zu entwickeln, aufs Spiel gesetzt worden.

2007 wurde ein Programm über die Wirtschaftszusammenarbeit zwischen beiden Ländern bis 2010 unterzeichnet. Es umfasste alle Zweige, darunter den Brennstoff-Energie-Komplex, den Flugzeugbau und die Raumfahrtindustrie, die Atomwirtschaft, den Militär-Industrie- und den Agrar-Industrie-Komplex. Die Regierung Timoschenko hat die Verwirklichung dieses Programms praktisch abgeblockt. Das Verbot, ukrainisches Milchpulver in die Russische Föderation zu liefern, könnte, ebenso wie 2006, das erste Glied in der Kette der darauf folgenden Sanktionen gegen unsere Fleisch- und Molkereiwarenproduzenten sein. Die möglichen Verluste der ukrainischen Molkereiindustrie dürften sich auf 15 bis 25 Millionen Dollar monatlich belaufen.

Ich will daran erinnern, dass wir nach dem Importverbot von Tierprodukten aus der Ukraine nach Russland eine Überproduktionskrise erlebten: da die Produktions- und Handelspläne von Produzenten, Verarbeitungsbetrieben und Exporteuren gestört wurden.

Verluste für ukrainische Rüstungsindustrie

Nicht weniger empfindliche Verluste wird der Militär-Industrie-Komplex des Landes erleiden. Denn heute ist Russland der wichtigste Handelspartner der Ukraine im Rüstungsbereich, 40 bis 50 Prozent des ukrainischen Rüstungsexports gehen nach Russland. 2007 bezifferte sich der Umfang der Zusammenarbeit in diesem Bereich auf 200 bis 250 Millionen Dollar. Insgesamt beteiligen sich an der militärtechnischen Kooperation über 100 Unternehmen in beiden Ländern.

So liefert das Unternehmen Motor Sitsch von Saporoschje Flugzeugtriebwerke für russische Hubschrauber, außerdem baut es Turbinenluftstrahltriebwerke für die Flügelraketen X-55, X-59M, Uran und Club. Die staatliche Vereinigung Sarja-Maschprojekt produziert Gasturbinen für russische Luftkissen-Landungsschiffe "Murena".

Außerdem bauen ukrainische Betriebe Flugzeugraketen, Bombenwerfer, bordgestützte Raketenstartanlagen, hydraulische und Kraftstoffanlagen für die russischen Flugzeuge Su-30MKI, Su-30MKK und Su-27SK/UBK. In der Luft- und Raumfahrtindustrie arbeiten die Ukraine und Russland erfolgreich an den Flugzeug-Projekten An-124, An-128, An-140 und Tu-334. Das Kiewer Unternehmen Artjom liefert Luft-Luft-Raketen R-27 für die russischen Su- und MiG-Jäger. Die An-Maschinen, die in den Flugzeugwerken von Kiew und Charkow gebaut werden, bestehen zu 70 Prozent aus Zulieferteilen russischer Produktion.

Für 2008 plante die Regierung der Ukraine, das Außenhandelsdefizit auf 9,174 Milliarden Dollar zu senken. Aber nach dem ersten Halbjahr beträgt es 9,845 Milliarden Dollar. Falls die russische Seite schon 2008 zusätzliche Handelssanktionen einführt, könnte sich der Passivsaldo des ukrainischen Außenhandels auf mehr als 20 Milliarden Dollar belaufen, was die Gold- und Devisenreserven der Nationalbank der Ukraine übersteigt.

Höhere Gaspreise verschlechtern Außenhandelsbilanz

Wenn sich die politischen und demnach die kommerziellen und ökonomischen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland 2009 weiter verschlechtern, könnten die Folgen für die ukrainische Wirtschaft katastrophal sein. Zum Beispiel wird schon allein die Erhöhung des Gaspreises auf 350 Dollar pro 1000 Kubikmeter (mildere Variante) zu einer Verschlechterung des Außenhandelssaldos um weitere 9,35 Milliarden Dollar führen.

Bald läuft der komplexe ukrainisch-russische Vertrag "Über Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine" (Großer Vertrag) vom 31. Mai 1997 ab. Die abermalige Verschärfung der ukrainisch-russischen Beziehungen könnte seine Verlängerung verhindern.

In diesem Fall wird sich die Ukraine zahlreichen sozioökonomischen Problemen gegenübersehen. Wie werden zum Beispiel ohne den Vertrag die Grenz- und Visaprobleme sowie die Frage der wirtschaftlichen Nutzung der Schelfe des Asowschen und des Schwarzen Meeres gelöst werden? Wie werden sich die Basiszweige der ukrainischen Industrie - der Militär-Industrie-, der Agrar-Industrie-Komplex und der Maschinenbau - entwickeln?

Ohne konkrete Antworten auf diese Fragen sind alle politischen Spekulationen im Grunde volksfeindlich. In diesem Zusammenhang halte ich es für notwendig, mich mit der Frage nach dem Stand des Verhandlungsprozesses und dem Zeitpunkt seines Abschlusses an den Präsidenten und das Außenministerium der Ukraine zu wenden.

Nationale Interessen bedroht

Meinerseits will ich erklären, dass die Zuspitzung der Beziehungen zum wichtigsten Wirtschaftspartner und Nachbarn nicht den nationalen Interessen der Ukraine entspricht. Die geopolitischen Spiele der ukrainischen Führung bedrohen die wirtschaftliche Sicherheit des Landes. Deshalb setzen wir uns für einen neuen Dialog ein.

Ich bin davon überzeugt, dass die ukrainischen Unternehmerverbände jene gesunde und pragmatische Kraft sein können, die es den Politikern verwehren wird, die Wirtschaftsinteressen des Landes zu schmälern. Der Moment ist gekommen, an dem die Unternehmer beider Länder ihre Anstrengungen zur Erhaltung der ökonomischen Partnerschaft zwischen Russland und der Ukraine aktivieren müssen.

Der Kaukasus-Konflikt und die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland haben nicht nur eine außenpolitische Dimension. Sie sind ein "bequemes" Thema für den "inneren Gebrauch" bei den kommenden Präsidentschaftswahlen. Doch die Ausnutzung Russlands als Feindbild fügt der Konsolidierung der ukrainischen Gesellschaft direkten Schaden zu. Das einzige Ergebnis einer solchen Politik wird eine tiefere Spaltung zwischen dem Ost- und Westteil des Landes sowie politische Destabilisierung sein, was den Boden für gesellschaftliche Konfrontationen bereitet.

* Juri Boiko ist Abgeordneter der Obersten Rada (Parlament) und Vorsitzender des Verbands der Arbeitgeber der Ukraine.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 8. September 2008; http://de.rian.ru


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