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Ein Trio streitet um das höchste Staatsamt der Ukraine

Kämpfe zwischen Parlament, Regierung und Präsident dauern an / Polemik Moskau–Kiew

Von Manfred Schünemann *

Das neue Parlamentsjahr begann in der Ukraine wie das alte endete: Mit einer Blockade des Präsidiums durch Abgeordnete der Partei der Regionen (PdR). Die Kämpfe zwischen Parlament, Regierung und Präsident dauern also an.

Die »Regionalen« bekundeten mit der Blockade des Parlamentspräsidiums ihren Unwillen über die Ablehnung einer Vorlage zur Erhöhung des Sozialhilfesatzes und des gesetzlichen Mindestlohnes. Damit hatten sie im beginnenden Wahlkampf punkten wollen. Aber auch ein Vorschlag Präsident Viktor Juschtschenkos, die Werchowna Rada möge gegen die russische Kritik an seiner Amtsführung Stellung beziehen, fand keine Zustimmung.

Nach langem Tauziehen steht der Termin der Präsidentenwahl fest: der 10. Januar 2010. Die Hauptkontrahenten – Oppositionsführer Viktor Janukowitsch, Ministerpräsidentin Julia Timoschenko und Amtsinhaber Viktor Juschtschenko – wetzen längst die Klingen. Während sich Janukowitsch als Garant größerer sozialer Sicherheit in allen Regionen der Ukraine empfiehlt, setzt Juschtschenko immer stärker auf die national-patriotische Wählerschaft in der Westukraine und den zentralen Regionen. Dabei kam ihm ein »Offener Brief« des russischen Präsidenten Dmitri Medwedjew, der den gegenwärtigen Zustand der ukrainisch-russischen Beziehungen sehr kritisch bewertete, durchaus gelegen. Medwedjew lastete die Verantwortung für den schlechten Zustand dem ukrainischen Präsidenten an und konstatierte: »Man kann die Jahre Ihrer Präsidentschaft nicht anders als ein Abrücken der ukrainischen Seite von den Prinzipien der Freundschaft und Partnerschaft mit Russland, wie sie im Vertrag von 1997 verankert sind, bewerten.« Der Moskauer Präsident verwies auf die »antirussische Position« der Ukraine im Georgienkonflikt, das anhaltende Streben Kiews nach raschem NATO-Beitritt, auf diskriminierende Bedingungen für russische Investoren und auf Bemühungen in der Ukraine, die »gemeinsame Geschichte umzudeuten, nazistische Helfershelfer (im Kampf gegen Hitlerdeutschland) zu heroisieren und die Rolle radikal-nationalistischer Kräfte zu überhöhen«. Nicht genug damit, ordnete Medwedjew einen Ausreisestopp für den neuen russischen Botschafter an. Er sehe »unter der jetzigen Administration (in Kiew) keine Aussicht für eine Wiederherstellung normaler Beziehungen«, sagte Medwedjew. In Moskau und Kiew ist die Rede von der tiefsten Krise in den ukrainisch-russischen Beziehungen seit dem Zerfall der Sowjetunion und sogar von einem »diplomatischen Krieg«.

Ohne realen Hintergrund ist die Kritik Medwedjews nicht. Juschtschenko lieferte in den letzten Tagen weitere Belege dafür. So bezeichnete er die Ukraine am Unabhängigkeitstag (24. August) als »postkoloniales« und »posttotalitäres« Land, in dem man »70 Jahre eine Kaserne erbaut habe«. Seit 18 Jahren versuche man, »diese Kaserne in ein normales Wohnhaus umzubauen, obwohl alle Konstruktionselemente nur für Kasernen geeignet sind und die Architekten ausschließlich gewöhnt sind, Kasernen zu bauen«. Um die Aufgabe dennoch zu erfüllen, bedürfe es der Ausprägung des »Ukrainischen Glaubens« und der »Ukrainischen Idee«. Nationalistischen Gruppierungen dienen solche Thesen in der Diskussion zur sowjetischen Geschichte, insbesondere zum Zweiten Weltkrieg, stets auch als Hintergrund für die Glorifizierung des Ukrainischen Nationalen Widerstands, was wiederum scharfe Reaktionen in der russischen Öffentlichkeit hervorruft. Beides ist der sachlichen Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte ebenso abträglich wie den Beziehungen zwischen beiden Staaten.

Natürlich ist es der offiziellen russischen Politik nicht gleichgültig, wer in Kiew präsidiert. Fraglich bleibt, ob ein polemischer »Offener Brief« mit scharfer Kritik an der politischen Linie des Staatsoberhaupts den eigenen Interesse dienlich ist. Viele Reaktionen in der Ukraine sprechen dagegen. National-patriotische und liberal-zentristische Kreise rufen dazu auf, sich angesichts der »russischen Vorwürfe und Drohungen« um Präsident Juschtschenko zusammenzuschließen. Auch russische Kommentatoren weisen deshalb darauf hin, dass die scharfe russische Ablehnung Juschtschenkos schon 2004 zum gegenteiligen Ergebnis geführt hat.

Ministerpräsidentin Julia Timoschenko empfiehlt sich den Wählern derweil als erfolgreiche Krisenmanagerin. So war es der Regierung gelungen, den Internationalen Währungsfonds (IWF) rechtzeitig zur Freigabe der dritten Tranche des IWF-Kredits in Höhe von 3,3 Milliarden US-Dollar zu bewegen, um damit Zahlungsverpflichtungen gegenüber Gazprom und anderen Gläubigern erfüllen und eine drohende Zahlungsunfähigkeit abwenden zu können. Im »Präsidentenstreit« hielt sie sich zurück. Politik, meinte Frau Timoschenko, sei ein Vorrecht der Präsidenten, die Regierungschefs kümmerten sich dagegen um »normale Wirtschaftsbeziehungen«. In diesem Sinne traf sie sich am Rande der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag des Überfalls Hitlerdeutschlands auf Polen mit Wladimir Putin und handelte einen Kompromiss in Sachen Liefer- und Zahlungsbedingungen für Erdgas und Erdöl aus. So wird es wohl vorläufig nicht wieder zu Lieferproblemen kommen.

Insgesamt deuten die Abschwächung der Inflationsrate im Juli (15,5 Prozent), das Stagnieren der Verbraucherpreise und ein leichtes Anwachsen der Industrieproduktion auf eine Erholung der Wirtschaft hin, wenn auch die Auswirkungen der internationalen Krise für die Ukraine gravierend bleiben. Die Industrieproduktion sank im ersten Halbjahr um etwa ein Drittel, die Investitionen um fast die Hälfte und die Realeinkommen um fast 20 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum im Vorjahr.

* Aus: Neues Deutschland, 5. September 2009


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