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"Jeder Kapitalist hat kriminellen Hintergrund"

Größte Gefahr für die ukrainische Demokratie ist der Einfluß der faschistischen Swoboda-Partei. Gespräch mit Wasil Cherepanin *


Wasil Cherepanin ist Direktor des Forschungszentrums für visuelle Kultur in Kiew. Er war zur ­Biennale in Berlin.


EU-Spitzenpolitiker wollen nicht zur Fußball-EM in die Ukraine fahren. Welchen Eindruck macht das dort?

Wer kümmert sich schon darum, ob einige Minister dabei sind oder nicht? Die Leute werden die Spiele sehen und feiern. Der Boykott ist nicht für unsere Öffentlichkeit, sondern für die westeuropäische. Den EU-Politikern dient er als Chance, sich als Demokraten zu zeigen. Der Ukraine hilft das nicht.

Der inhaftierten früheren Ministerpräsidentin Julia Timoschenko auch nicht?

Kaum. Aber es ist sowieso problematisch, daß das einzige Thema, das im Westen von der Ukraine wahrgenommen wird, der Fall Timoschenko ist. Zwischen ihrem »orange« Block und den »Blauen« um Präsident Wiktor Janukowitsch und der Partei der Regionen gibt es keine so tiefgreifenden Unterschiede. Es geht vor allem um Verteilungskämpfe innerhalb der oligarchischen Elite, der Timoschenko angehört hat. Jeder Kapitalist in der Ukraine hat einen kriminellen Hintergrund, weil es in den 1990er Jahren auf postsowjetischem Territorium keine anderen Wege gab, zu Geld zu kommen. Natürlich ist Timoschenko ein Opfer politischer Justiz, aber sie ist auch Teil der gleichen politischen Kultur.

Die »orange Revolution« war also nur eine Farce?

Nein, sie war eine wirkliche Bewegung und hat viele politische Energien freigesetzt. Damals hatten die »orange« Politiker sehr großen Rückhalt, aber den haben sie fast vollständig verloren, weil ihre Politik nichts mit den konkreten ökonomischen und sozialen Fragen zu tun hatte, die die Leute betreffen. Hauptthema des damaligen Präsidenten Wiktor Jusch­tschenko war eine nationalistische Vergangenheitspolitik. Auch die Menschenrechte spielten für ihn kaum eine Rolle.

Ihr Institut wurde vor kurzem selbst Opfer von Zensur ...

Die Ausstellung »Ukrainischer Körper« wurde vorgeblich wegen Nacktdarstellungen und der Behandlung von Homosexualität als »pornographisch« geschlossen. Unidirektor Sergej Kwit warf uns öffentlich »entartete Kunst« vor. Der steht der faschistischen Swoboda-Partei nahe. Der Senat der Mohyla-Akademie hat uns Ende April formell aus der Uni ausgeschlossen, wir haben vor wenigen Tagen unser neues Domizil im Kino Schowten bezogen.

Das war wohl nicht der erste Konflikt?

Nein. Unser Zentrum ist nicht nur eine Galerie, sondern Plattform für Diskussionen, Konferenzen und Seminare. Wir wollen Kunst und Wissen mit Politik und vor allem mit Graswurzelbewegungen zusammenbringen. Die alten Bürokraten verstehen diese neuen Strukturen und Netzwerke nicht, für die sind wir gefährlich. Bei Themen zu Sexualität oder Faschismus gab es häufig Angriffe durch rechtsextreme Gruppen. Letztes Jahr hatten wir eine Diskussion über rechte Ideologie und die Swoboda-Partei, da saßen in der ersten Reihe die Parteiführung und hinten die Straßenkämpfer mit Gesichtsmasken, die pöbelten und mich am Schluß bedrohten.

Wie schätzen Sie die Svoboda-Partei ein?

Bisher ist sie vor allem im Westen der Ukraine stark. Bei der Wahl im Herbst kommt sie mit Sicherheit auch ins nationale Parlament. Diejenigen, die früher den Timoschenko-Block und »Unsere Ukraine« gewählt haben, wählen heute Swoboda. Für die regierende »Partei der Regionen« ist das sehr bequem: Gegenüber einer solchen Opposition kann sie sich selbst als normal und vernünftig darstellen. Es gibt auch direkte Verbindungen zwischen der Regierungspartei und Swoboda, bis hin zu finanzieller Unterstützung. Die gesellschaftliche Akzeptanz, die diese Partei erfährt, ist im Moment die größte Gefahr für die ukrainische Demokratie.

Welche Folgen hat die Schließung Ihres Instituts?

Wir machen eben unabhängig weiter. Die Zensur hat eine bisher unbekannte öffentliche Empörung unter Künstlern losgetreten und neue politische Felder erschlossen. Der offizielle Kunstbetrieb ist zwar nicht solidarisch und scheut jeglichen Skandal, aber hinter unserem Institut steht fast die gesamte junge Künstlerszene.

Interview: Frank Brendle

* Aus: junge Welt, Freitag, 11. Mai 2012

Ukrainische Gesundheitsministerin: Timoschenko bekommt Medikamente aus Deutschland

Die inhaftierte ukrainische Ex-Premierministerin Julia Timoschenko, die aus der Strafanstalt in ein Krankenhaus in Charkiw gebracht wurde, wird laut Raissa Bogatyrjowa, Vizeregierungschefin und Gesundheitsministerin der Ukraine, mit ausländischen Präparaten behandelt.

Zuvor hatte Timoschenko geäußert, sie misstraue den ukrainischen Ärzten, die nicht unabhängig seien. Timoschenko willigte in die Einlieferung ins Krankenhaus unter der Bedingung ein, dass ihr behandelnder Arzt der Neurologe Lutz Harms von der Berliner Charité-Klinik sein wird.

„Gemäß einer vorherigen Vereinbarung hat der Arzt, der sie behandelt und die unmittelbare Verantwortung für ihre Untersuchung, Behandlung und deren Ergebnisse trägt, die Arzneien aus Deutschland mitgebracht“, sagte Bogatyrjowa am Donnerstag bei einem Briefing. Mit der Liste der pharmazeutischen Präparate seien die ukrainischen Mediziner vertraut gemacht worden.

„Je nach Situation und Beschwerden der Patientin wird der Arzt die Medikamente einsetzen, die er für nötig hält“, hieß es.

(RIA Novosti, 10.05.2012)



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