Timoschenkos Schatten reicht bis nach Moskau
In der Ukraine blickt man mit Sorge auf den Amtswechsel in Russland
Von Manfred Schünemann *
Mit scharfen Worten hat der russische
Präsident Dmitri Medwedjew jetzt
den Umgang der Ukraine mit Ex-Regierungschefin
Julia Timoschenko
kritisiert. Kiews in den 20 Jahren Unabhängigkeit
mit mehr oder weniger
Erfolg praktizierte Balancepolitik
zwischen »europäischer Orientierung
« und »strategischer Partnerschaft
« mit Moskau stößt an Grenzen.
»Die Verfolgung politischer Gegner
ist absolut unannehmbar. Man
kann im Eifer des politischen
Kampfes einmal etwas Böses sagen,
aber unterlegene Konkurrenten
im Gefängnis? Das ist
höchst befremdlich.« Russlands
Präsident Dmitri Medwedjew
sparte jetzt bei einem Gespräch mit
Menschenrechtlern in Moskau
nicht mit Kritik an der ukrainischen
Führung. Der Fall Timoschenko
werfe einen tiefen Schatten
auf das Nachbarland. Moskau
hatte bereits zuvor massive Vorwürfe
im Zusammenhang mit ihrem
Prozess wegen angeblich ungünstiger
bilateraler Gasverträge
erhoben. Man sieht die Verurteilung
der Ex-Regierungschefin zu
sieben Jahren Haft auch als
Druckmittel der Kiewer Führung,
neue Gasverträge mit günstigeren
Preisen auszuhandeln.
Wie die EU erwartet auch
Russland von der ukrainischen
Regierung möglichst bald Grundsatzentscheidungen
über die
künftige Ausrichtung ihrer Politik.
Damit grenzen sie den außenpolitischen
Spielraum der Ukraine immer
weiter ein. Mit gewisser Sorge
blickt man deshalb in Kiew auf den
bevorstehenden Amtswechsel in
Moskau. Der künftige Präsident
Wladimir Putin hatte als Ministerpräsident
und im Präsidentschaftswahlkampf
mehrfach betont,
dass er eine Reintegration im
postsowjetischen Raum anstrebe
und die Ukraine sich entscheiden
müsse, ob sie sich daran beteiligt
oder nicht. Klar sei, dass es Vorzugspreise
für russische Rohstoffe,
vor allem Erdgas, nur innerhalb
des Integrationsraumes geben
könne, auch »halbe« Mitgliedschaften
– wie sie in Kiew ins Gespräch
gebracht wurden – werde
es nicht geben.
Die Ukraine benötigt einerseits
einen deutlich niedrigeren Preis
für die russischen Erdgaslieferungen,
um das Haushaltsdefizit den
Forderungen ihrer internationalen
Kreditgeber anzupassen und die
Freigabe einer weiteren Tranche
des IWF-Kredits zu erreichen. Andererseits
ist sie mit Blick auf das
Assoziierungsabkommen mit der
EU nach wie vor nicht bereit, die
russische Forderung nach Vollmitgliedschaft
in der Eurasischen
Wirtschaftsgemeinschaft zu erfüllen.
Kompromisslösungen wollte
Präsident Viktor Janukowitsch
möglichst noch vor dem offiziellen
Amtsantritt Putins bei einem Treffen
Anfang Mai sondieren. Doch
nun wird alles vom Fall Timoschenko
überschattet.
Dabei wird die deutliche Aktivierung
der Moskauer Politik an
der ukrainischen Südwestgrenze –
so sollen die in der Dnjestr-Republik
stationierten russischen
Truppen mit modernen Waffensystemen,
darunter auch zur Raketenabwehr,
ausgerüstet werden
– in Kiew nicht nur von Oppositionspolitikern
mit Sorge verfolgt.
Befürchtet man doch, dass Moskau
gegenüber der Ukraine ebenfalls
einen härteren Kurs verfolgen
könnte. Russland dürfte dabei die
zögerliche Haltung der EU in Bezug
auf den Assoziierungsprozess
ins Kalkül ziehen. Das von der Ukraine
mit der EU ausgehandelte
Assoziierungsabkommen wurde
zwar nach monatelangem Hinhalten
Ende März paraphiert, doch
macht die EU sowohl die formale
Unterzeichnung als auch die Ratifizierung
des Abkommens von
»Fortschritten in den Bereichen
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
« abhängig.
Als Vorwand für die EU-Forderungen
dienten schon vor der
jüngsten Zuspitzung mutmaßlich
politisch motivierte Gerichtsentscheidungen
gegen ukrainische
Oppositionspolitiker, allen voran
Timoschenko – wobei man vernachlässigt,
dass politische Entscheidungen
über die Aufhebung
des Urteils oder über eine Haftverschonung
zwecks medizinischer
Behandlung ebenfalls einer
Rechtsbeugung gleichkämen.
Trotzdem ist ein Einlenken von
Präsident Janukowitsch in dieser
Frage nicht allein mit Blick auf die
Fußballeuropameisterschaft nicht
auszuschließen, denn er möchte
eine dauerhafte Blockierung des
»Kurses der europäischen Orientierung
« vermeiden und angesichts
der Parlamentswahlen im
Oktober auf Erfolge in dieser Politik
verweisen können. Allerdings
wird von der EU auch ein Ausschluss
Timoschenkos von diesen
Wahlen für unvereinbar mit einer
demokratischen Wahlentscheidung
erklärt.
* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 2. Mai 2012
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