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Streit unter Brüdern

Rußland, die Ukraine und der Gaspreis – eine Geschichte in Fortsetzungen und vermutlich ohne Happy End

Von Thomas Immanuel Steinberg*

Der russische Energiekonzern Gasprom ist Befürchtungen entgegengetreten, die Gaslieferungen nach Westeuropa seien nicht mehr sicher. Der Vizechef des Unternehmens, Alexander Medwedew, betonte am Donnerstag auf einer Energiekonferenz in Berlin, Gasprom tue alles dafür, die Versorgungssicherheit aufrecht zu halten. Auch die Klärung des Streits mit der Ukraine werde sich grundsätzlich positiv auf die Versorgungssituation auswirken. Tatsächlich?

Im Streit um den Preis für Erdgas drehte Rußland der Ukraine Anfang des Jahres den Hahn zu. Drei Tage später war man sich einig, und das Gas floß wie gewohnt. Allerdings mißfiel dem ukrainischen Parlament der gefundene Kompromiß, und es entließ die Regierung. Die aber bleibt im Amt – bis zur Wahl im März.

Erbe der UdSSR

Geschichtsbuch und Atlas helfen bei der Erhellung des Vorgangs. Die sowjetische Gasindustrie entstand nach 1920 in der West-Ukraine. Ingenieure und Forscher für die ganze Sowjetunion wurden dort ausgebildet. Sie erschlossen die sibirischen Gasfelder. Bohrungen und Leitungen, Lieferungen und Zahlungen wurden innersowjetisch und innerhalb des RGW realwirtschaftlich über Verrechnungspreise geplant und gesteuert. In der Ukraine dominiert auch heute Russisch als Muttersprache, und Ukrainisch ist dem Russischen sehr ähnlich.

1991 erklärte Kiew die ehemalige Sowjetrepublik und früheren Teil des russischen Zarenreiches für unabhängig. Gasprom, der weltweit größte Förderer und Netzbetreiber, lieferte weiter Gas an die Ukraine und durch sie hindurch an die slowakischen Grenze zur Weiterleitung nach Westen. Die nun plötzlich fremden, in einem souveränen Staat lebenden Brüder, sollten nach Ansicht Moskaus den international üblichen Preis für den Energieträger zahlen. »Die Verhandlungen wurden hitzig«, berichtet Jérôme Guillet, einst bei Gasprom beschäftigt. »Preiserhöhungen wurden angekündigt, aber nicht umgesetzt; von Schulden war die Rede und von Vertragsstrafen. Lieferstopps wurden angedroht, Notzahlungen geleistet, Bartergeschäfte (Ware gegen Ware) abgeschlossen – und trotzdem hatte am Ende die Ukraine immer noch fast nichts für das gelieferte Gas bezahlt.« 1992/1993 unterbrach Guillet zufolge Rußland den Gasfluß ein paar Tage. Die Ukraine habe im Gegenzug für den Westen bestimmtes Transitgas in gleicher Menge wie bisher abgezweigt. Seitdem sei das Gas störungsfrei durch die Leitungen geströmt – trotz unklarer Vertragsgrundlagen, Schuldenstände und Aussichten.

»Gleichzeitig«, so war im Wall Street Journal vor drei Jahren zu lesen, »nutzten Manager die Unfähigkeit von Gasprom, Rechnungen einzutreiben, zur eigenen Bereicherung. Wie in Rußland, so bezahlten auch in der Ukraine die Endverbraucher ziemlich oft für ihr Gas. Aber der Eintreiber leitete die Einkünfte nicht an Gasprom weiter.« Im Gegenzug erfand der Konzern eine private Firma namens Itera. Die wurde zwischengeschaltet und konnte ihre Lieferungen bei Zahlungsverzug unterbrechen, ohne Vergeltung durch Störung des Gastransits nach Westen befürchten zu müssen.

Auch turkmenisches Gas aus dem russischen Netz für den Westen wurde als Itera-Gas deklariert. Die ukrainischen Transiteinnahmen aus diesem Geschäft seien in Form von Geld, Gütern oder Fabriken zwischen den Ukrainern, Itera, ihren Partnern in Rußland und Turkmenien aufgeteilt worden. »Das führte zu heftiger Korruption und garstigen politischen Debatten in der Ukraine um die Teilnahme an diesem saftigen Geschäft – mit dem Volk als dem üblichen Leidtragenden«, so das Blatt weiter. Mehrere Cliquen bereicherten sich unterschiedlich schnell an den Ecken und Varianten des Erdgasgeschäfts – eine plausible Erklärung für scheinbar fundamentale Differenzen unter den »Politikern« im ukrainischen Parlament.

Verhandlungssache

Inzwischen lieferte Gasprom an die Ukraine selbst nur noch soviel Gas, wie der Gegenwert der Gebühren für das Transitgas bis zur Westgrenze ausmachte. Man kam also zumindest im laufenden Geschäft auf seine Kosten. Die ukrainische Revolution hatte sich jedoch kapitalistische Vertragsgestaltung auf die orangefarbenen Fahnen geschrieben. Gasprom ging also 2005 darauf ein und verlangte von der Ukraine den Weltmarktpreis für den zu liefernden Rohstoff. Doch das ist ein Ding, das für Erdgas auch im Kapitalismus nicht existiert. Gas zu Geld machen kann nur, wer langfristig Mittel in Leitungen, Kompressoren und Speicher bindet – durch Verträge mit einem bindungswilligen Abnehmer. Oft wird ein Ausgangspreis vereinbart und ein variabler Durchschnittspreis, der sich ohne die extremen Ausschläge an der Entwicklung auf einem Rohöl-Spotmarkt orientiert. In anderen Fällen wird der Leitungsbau mit Liefermengen abgegolten.

So lehnte die Ukraine das Scheinangebot von Gasprom ab. Dennoch haben sich beide, ohne viele Federn zu lassen, geeinigt. Denn die Staaten der früheren Sowjetunion sind weiter eng miteinander verflochten.

Beispiel eins: In der südostukrainischen Halbmillionenstadt Mariupol, bis 1992 nach dem Sowjetführer Shdanow genannt, produziert Asowstal devisenbringende Stähle – mit Erdgas direkt aus dem russischen Netz. Seit 1994 übergeht Asowstal die windigen ukrainischen Eintreiber und zahlt direkt an Gasprom.

Beispiel zwei: Eine ukrainische Transitleitung führt Gas nach Rumänien, Bulgarien und Griechenland. Sie durchquert Transnistrien, einen russisch besiedelten und nach Rußland ausgerichteten Landstreifen.

Beispiel drei: Die Ukraine produzierte bisher alle Gasrohre über einen Meter Durchmesser und die unter 35 Zentimeter; Rußland dagegen die mittleren Größen, auch für die Ukraine – noch ein Grund, meint Jérôme Guillet, für allerhand Kuhhandel. Stratfor (Strategic Forecasting Inc.), die US-Politprognostiker und vielzitierten Kaffeesatzleser, wollen geostrategische Linien hinter der ukrainisch-russischen Kabbelei entdeckt haben. Die dürften vorerst hauptsächlich in den Köpfen der US-Rechercheure verlaufen.

* Quelle: Website "Steinberg-Recherche"; www.steinbergrecherche.com.
Der Beitrag erschien am 20. Januar 2006 außerdem in der "jungen Welt"



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