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"Die Ukraine ist ein Land, in dem es keine endgültigen Lösungen gibt"

Das Land bereitet sich auf Neuwahlen vor und niemand weiß, wie es dann weiter geht

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Analysen aus dem Haus der russischen Nachrichtenagentur zu den neuesten Entwicklungen in der Ukraine.



Ukraine: Nichts Endgültiges

Von Dmitri Schuscharin *

Triumvirate waren nur im Alten Rom gut, aber auch dort hielten sie nicht lange vor.

Das Dreierbündnis Juschtschenko-Janukowitsch-Moros war erzwungen und alles andere denn gleichberechtigt, aber die Entwicklung eines Szenariums mit Gewaltanwendung musste abgewendet werden. Alle begriffen von Anfang an, dass der Präsident und der Ministerpräsident ihre Posten behalten würden, während sich der Rada-Vorsitzende von dem Seinigen am ehesten werde trennen müssen. Seine Opponenten sagen das ohne Umschweife.

Es handelt sich jedoch nicht einmal um die Aussichten dieser drei Politiker, sondern vielmehr darum, dass allem Anschein nach der ukrainischen politischen Kultur eine strikte Erfüllung von noch so festen Vereinbarungen nicht eigen ist. Erst recht von so sonderbaren wie diesem Dreierabkommen. Keiner seiner Teilnehmer konnte seine Realisierung garantieren, weil keiner von ihnen über einen Mechanismus verfügte, die Abgeordneten der Rada zum Handeln ausschließlich im Rahmen des Abgesprochenen zu zwingen. Übrigens sind auch die Triumvire selbst nicht schlecht. Viktor Janukowitsch spricht von Differenzen mit Juschtschenko und fordert eine "Fortsetzung des Festes": die Verlängerung der Arbeit des Parlaments um mehr als die vom Präsidenten genehmigten beiden Tage. Denn man muss Zeit haben, um noch eine Reihe von Gesetzen zu verabschieden, die die sozialökonomische Entwicklung der Ukraine betreffen.

Aber als der größte Rebell erwies sich Alexander Moros, der die Tagesordnung völlig umwarf, das heißt gegen das Dreierabkommen verstieß. Wie auch zu erwarten war.

Das zeugt davon, dass in der Ukraine eine Demokratie existiert. Das Dreierabkommen hatte seine ganz bestimmten Gründe und war, das muss zugegeben werden, eine Wohltat. Die drei Staatsmänner erkannten, dass die Raufereien sich möglicherweise in eine Schießerei steigern würden. Offenbar waren sie sich darüber im Klaren, dass in diesem Fall niemand die Lenkung der bewaffneten Menschen würde garantieren können. Wenn vom Innenminister und vom Präsidenten einander ausschließende Befehle kommen, entsteht die Möglichkeit der Umwandlung von einfachen Kommandeuren in Feldkommandeure. Doch die Verantwortung dafür würde jene Politiker treffen, die das zugelassen haben.

Und da spielten der Präsident, der Ministerpräsident und der Rada-Vorsitzende dem Publikum Eintracht vor. Aber ihr Abkommen wurde durch keine Prozedur untermauert. Der Erlass über die Rada-Auflösung wurde vom Verfassungsgericht nicht eingeschätzt. Darüber hinaus zog das Abkommen überhaupt einen fetten Strich unter eine wie auch immer geartete Teilnahme des Verfassungsgerichtes an der Überwindung der Krise. Und natürlich gab es keine Rechtsgrundlagen dafür, dass die Parlamentssitzung eine streng begrenzte Zeit dauern und eine genau umrissene Tagesordnung haben musste.

Was herauskommt, ist höchst merkwürdig. Doch die Hauptsache haben die Beinahe-Triumvire doch getan: Das Szenarium mit Gewaltanwendung hat sich nicht erfüllt. Was die Perspektiven anbelangt, so ist eines wieder klar geworden: Die Ukraine ist ein Land, in dem es keine endgültigen Lösungen gibt.

Und da haben die Ukrainer, wie ich glaube, ausgesprochenes Glück.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 6. Juni 2007; http://de.rian.ru



Ukrainische Chroniken: Tag des Murmeltiers, Nacht des Siebenschläfers

Von Andrej Kapustin **

Informierte Leute sagen, dass sich vor etwa zehn Tagen in Kiew mehrere westliche Fachleute für "heiße Punkte" aufhielten.

Inzwischen sind sie wieder weg, und zwar leer ausgegangen. Denn sie waren außerstande, den Nerv der ukrainischen Konfrontation zu ertasten. Eigentlich darf das nicht Wunder nehmen.

Besagten Nerv der Konforntation können nicht nur angereiste Fachleute, sondern auch die meisten ukrainischen Bürger nicht ertasten. Äußerlich scheint alles unverändert zu sein. Juschtschenko und die Seinen kämpfen gegen Janukowitsch und Co. Mit allem dazugehörigen Drum und Dran: dem Kampf um das Verfassungsgericht, dem Krieg um die Generalstaatsanwaltschaft, der Schlacht um das Parlament und den Handgreiflichkeiten um das endgültige Datum der vorgezogenen Wahlen.

Die Querelen steigerten sich übrigens zu Schlägereien. Auf jeden Fall verstanden viele das Herausschlagen der Türen in der Generalstaatsanwaltschaft durch Milizen mit dem Innenminister an der Spitze als den lang ersehnten Beginn einer echten, großen Schlägerei zwischen den bewaffneten Strukturen. Das heißt zwischen der Miliz, die zu Janukowitsch hält, und allen Übrigen, die Juschtschenkos Anhänger sind: zwischen der Armee, dem Sicherheitsrat der Ukraine und sonstigen Spezialeinheiten wie "Alpha" und "Sigma". Zudem unterstellte Juschtschenko sich die Bereitschaftspolizei direkt, was ebenfalls die beunruhigenden Erwartungen steigerte. Da aber die ukrainische Rebellion rational und human ist (im Unterschied zur russischen, die schon Puschkin sinn- und schonungslos genannt hatte), konnte ein Blutvergießen auch diesmal vermieden werden. Nur dass vielleicht die Spezialeinheit "Berkut" während des Fußballspiels zwischen dem FC "Dynamo" Kiew und dem FC "Schachtjor" Donezk ihre lange Tatenlosigkeit nach Herzenslust an den Fans abreagierte. Wobei sich die grausame Verprügelung von Teenagern vor den Augen des Präsidenten und des Ministerpräsidenten abspielte, die ins Stadion gleichsam zum Zeichen der Aussöhnung aller Gewalten gekommen waren. Solche lebenden Bilder der Perspektiven des gesellschaftlichen Konfliktes.

Aber sonst ist heute alles gleichsam in Ordnung. Allerdings ist das ukrainische Heute ebenfalls ein relativer Begriff. Denn die Krise (oder ihre Imitation) hat ein reales Verstehen der Geschehnisse in Richtung Illusion verdrängt. Die Bürger der Ukraine erhielten hierbei die Möglichkeit, in der Praxis den ganzen Reiz der Empfindungen zu erkennen, die der Held des bekannten Films "Und täglich grüßt das Murmeltier" erlebte. Da aber in der Ukraine seit langem die Tradition entstanden ist, die bedeutsamsten Staatsangelegenheiten in den dunklen Stunden zu erledigen, handelt es sich um eine Art nächtliches Remake, was übrigens am Wesen der Sache nichts ändert.

Und wirklich: Was soll der statistische Durchschnittsbürger der Ukraine denken, der sich für die Ereignisse im Lande interessiert, aber zur Macht in keiner Beziehung steht? Richtig: Entweder seine Aufmerksamkeit beispielsweise auf die Wettervorhersage oder die Ernteaussichten umschalten. Oder sehr, aber sehr viel Wodka trinken. Wenn ein Mensch nämlich sehr viel Wodka trinkt, wird der Effekt des täglichen Grußes des Murmeltiers nicht mehr so akut erlebt. Denn wie kann man auf nüchternen Kopf all die jüngsten Schritte aller ukrainischen Gewalten auffassen? Angefangen, sagen wir, mit der (wiederum) nächtlichen Vereinbarung zwischen dem Ministerpräsidenten, dem Präsidenten und dem Parlamentsvorsitzenden am Vorabend des Dreifaltigkeitsfestes, als sie, sich an den Händen haltend, angestrengt lächelten und die kleinen Schwäne aus dem bekannten Ballett von Tschaikowski spielten. (Musik gab es dabei allerdings keine, denn in den Weiten der Ex-UdSSR wird sie schon seit mehr als sechzehn Jahren zwiespältig aufgenommen.) Auf jeden Fall erfuhr das Land gegen fünf Uhr morgens Kiewer Zeit endlich, dass die Wahlen für den 30. September angesetzt worden seien.

Weiter war die Rede eigentlich von Bagatellen. Darunter von der Abstimmung über mehrere Schlüsselmomente in der Zeit vor den Parlamentswahlen. Dazu war der Präsident, wie auch versprochen, bereit, einen Erlass zu unterzeichnen, der die Oberste Rada genau für zwei Tage wieder zum Leben erwecken sollte. Damit sie innerhalb dieser Zeit ihre historische Mission erfülle. Mehr noch, der Erlass wurde unterzeichnet. Und das Parlament versammelte sich in voller Stärke. Doch die 48 Stunden reichten offensichtlich nicht. Die Abgeordneten der Koalition (hauptsächlich die Sozialisten und die Kommunisten) beschlossen, das Vergnügen etwas in die Länge zu ziehen, und schafften es im vorgegebenen Zeitraum nicht. Dennoch verwandelte sich die Karosse beim zwölften Uhrschlag nicht in einen Kürbis, da Viktor Juschtschenko noch einen Erlass unterschrieb, der den Parlamentariern weitere 24 Stunden vollwertiges Leben schenkte. Aber auch das erwies sich als ungenügend, obwohl Juschtschenko, der in Kroatien weilte, schroff erklärte, er wolle das nicht noch weiter dulden und sei bereit, im Falle der Weigerung der Abgeordneten konstruktiv auf die Knöpfe zu drücken, die Wahlen für Ende Juli anzusetzen. Doch beim Erwachen erfuhren die Bürger der Ukraine, dass die Rada immer noch arbeitete, weil der Präsident erneut einen Erlass über die Verlängerung ihrer Vollmachten unterzeichnet hatte. Im Ergebnis freilich endete alles beinahe so, wie die hohen Seiten vereinbart hatten, aber das, was sich in jenen Tagen sowohl im Parlament selbst als auch in anderen Büros abspielte, wurde zu einem ausgezeichneten Lehrbehelf für die Wahlberechtigten, die nun am 30. September ihre Wahl zu treffen haben. Alle politischen Kräfte im Parlament haben somit gezeigt, dass es sich nicht lohnt, für sie zu stimmen. Nein, jemand von ihnen wird begreiflicherweise doch ins Parlament durchkommen. Aber daran, dass die Bürger der Ukraine dank den Politikern zunehmend aufhören, die Biomasse der Wahlen abzugeben, braucht man nicht zu zweifeln.

Das trifft übrigens auch auf die Anwendung von Maidan-Technologien zu, die sich allmählich wohl endgültig überleben. Natürlich wird das nicht über Nacht geschehen. Doch den Schwung, der in beiden letzten Monaten in Kiew zu beobachten war, kann man offenbar allmählich vergessen. Dies nicht etwa deshalb, weil sich die Leute aus dem Landesinnern, die sich für zwei oder drei Tage die Hauptstadt ansehen wollten, weg wären. Keinesfalls. Es fehlt nicht an solchen, die sich kostenlos einen Kiew-Besuch leisten und dafür noch 30 Dollar pro Tag bezahlt bekommen wollten. Nur, dass der Ersatz-Maidan seinen Veranstaltern im Grunde nichts eingebracht hat. Das Wahldatum ist festgesetzt, die Rada aufgelöst, Juschtschenko der Sieger. Der winzige Rest des Positiven war höchstens die Möglichkeit, auf dem "Unabhängigkeitsplatz" von der Bühne sprechen zu dürfen, in dem erhebenden Gefühl, ein Volkstribun zu sein. Doch wussten alle Redner hierbei, dass vor ihnen nur gleichgültige Besoldete mit der Parteisymbolik standen, mit denen nach der Aktion in bar abzurechnen war. Das ist nicht einmal eine Claque. Das ist ungefähr dasselbe, wie wenn ein Pop-Star zweiter Klasse den Zuschauern dafür zahlen würde, dass sie ja das Stadion füllen. Zudem haben die Landsknechte nach Berechnungen von Experten die Koalition ganz schön viel Geld gekostet. An die 75 Millionen Dollar. (Notabene: Die vorfristigen Wahlen werden dem Haushalt ein paar Millionen weniger abzwacken.)

Also erstens teuer. Zweitens hat die Partei der Regionen mit den Ihrigen die Tarife angehoben, und jetzt kennt das Land die neuen Preise sehr gut. Was seinerseits die Parteisponsoren zum Nachdenken über den zweifelhaften Effekt der Nutzung von besoldeten Legionären bewegen muss. Kurzum, jetzt gibt es keinen Zweifel daran, dass die Wahlen stattfinden werden. Freilich will Viktor Janukowitsch, dass das Parlament noch etwas länger arbeite. Doch was das für ein Organ sein wird, ist unklar. Denn der Timoschenko-Block und "Unsere Ukraine" haben ihre Abgeordnetenmandate niedergelegt und so die Oberste Rada schon durch diesen Fakt illegitim gemacht. Der Logik nach sollte jetzt eine planmäßige Vorbereitung auf die Wahlen beginnen. Aber mit Rücksicht auf die Spezifik des ukrainischen politischen Alltags wird niemand garantieren können, dass die Bürger der Ukraine, wenn sie vor dem 30. September ihre Fernseher einschalten, nicht wieder Alexander Moros auf dem Platz des Vorsitzenden der Rada sehen, wie er mit seinen Kollegen, als wäre nichts geschehen, die Tagesordnung erörtert.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

** Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 5. Juni 2007; http://de.rian.ru



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