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Misstrauensvotum in Kiew gescheitert

Opposition fordert trotzdem Neuwahl *

Die ukrainische Opposition ist im Parlament in Kiew mit ihrem Misstrauensantrag gegen Regierungschef Nikolai Asarow gescheitert. Der 65-Jährige bleibt ungeachtet der Demonstrationen im Amt. Er kündigte drastische Schlussfolgerungen und Personalveränderungen in der Regierung an. Arseni Jazenjuk, Chef der Fraktion der Vaterlandspartei von Expremier Julia Timoschenko, forderte anschließend, nun müsse Präsident Viktor Janukowitsch das Kabinett entlassen und Neuwahlen ausrufen. Janukowitsch aber reiste zu einem Besuch nach China ab. Seine Administration wurde am Abend von Tausenden Demonstranten belagert.

Die Opposition um Boxweltmeister Vitali Klitschko, der die Regierung des »Hochverrats« beschuldigte, erhielt für den Misstrauensantrag nur 186 von 226 nötigen Stimmen. In der Rada bildet die Partei der Regionen von Präsident Janukowitsch die stärkste Fraktion, die Kommunisten enthielten sich. Vor dem Parlament befanden sich Tausende Demonstranten. Premier Asarow hatte sich wegen des brutalen Polizeieinsatzes am Sonntag entschuldigt. »Ich möchte Sie im Namen der Regierung um Verzeihung bitten für das Vorgehen der Sicherheitskräfte«, sagte er. »Der Präsident und die Regierung bedauern das zutiefst.« Nach jüngsten Angaben wurden 190 Menschen verletzt, darunter Polizisten, Demonstranten und mehr als 40 Journalisten.

Der Generalsekretär des Europarats, Thorbjörn Jagland, will ab Mittwoch in Kiew vermitteln, hieß es in Straßburg. Ziel seines Besuches sei es, die Spannungen im Land zu mildern und die Möglichkeiten eines Dialogs zwischen der Regierung und der Opposition auszuloten. Die Länderorganisation sei bereit, der Ukraine und ihrer Bevölkerung bei der Suche nach einem Ausweg aus der »heiklen Situation« zu helfen. Jagland rief »alle Parteien in der Ukraine« zur Mäßigung auf.

Premier Asarow sagte, er habe mit der EU-Kommission vereinbart, die Verhandlungen über den Assoziierungsvertrag fortzusetzen. »Bereits in der nächsten Woche wird eine Regierungsdelegation nach Brüssel fahren.«

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 4. Dezember 2013


Nicht allen geht es um Europa

Rechtsradikale spielen beim Protest auf dem Kiewer Maidan eine eigene Rolle

Von Ulrich Heyden, Moskau **


Zur Protestbewegung in der Ukraine gehören neben konservativen auch nationalistische und rechtsextreme Kräfte. Ihnen geht es nicht zuerst um Europa.

»Wer nicht springt, ist Moskauer«, rufen junge Demonstranten in Kiew auf dem Platz Maidan, wenn ihnen kalt ist. Viele Demonstranten reisten aus der Westukraine an. Dort ist man traditionell gegenüber Russland sehr kritisch eingestellt. Dass die Demonstranten auf ihr Land stolz sind, zeigen sie auch mit dem stündlichen Absingen der Nationalhymne. Das Nationalgefühl ersetzt, so scheint es, die klare Vorstellung darüber, was die Protestbewegung erreichen soll. »Wir sind nicht antirussisch«, beteuern die Demonstranten.

Vitali Klitschko und andere Sprecher der Protestbewegung beteuerten nach den gewaltsamen Ausschreitungen vor der Präsidialverwaltung am Sonntag, die Mehrheit der Demonstranten sei friedlich. Die jungen Leute, die vor der Präsidialverwaltung Pflastersteine auf Polizisten warfen, seien Provokateure gewesen, erklärte Klitschko.

Die Rechtsradikalen von der Gruppe Bratstwo (Bruderschaft) und der Partei Swoboda (Freiheit) waren am Sonntag offenbar vorbereitet im Schutz der Massendemonstration eigene, militante Aktionen durchzuführen. Die Rechtsradikalen besetzten den Stadtrat und das Gewerkschaftshaus. Großes Medienecho fanden der versuchte Sturm auf die Administration des Präsidenten und die Beschädigung des Lenin-Denkmals im Stadtzentrum. Im Gewerkschaftshaus nahm ein »Stab des nationalen Widerstandes« seine Arbeit auf. Zu ihm gehören Vertreter der Parteien Vaterland (Julia Timoschenko/Arseni Jazenjuk), Swoboda (Oleg Tjagnibok) und UDAR (Vitali Klitschko).

Nach Mitteilung des ukrainischen Innenministeriums gehören die Militanten, die vor der Präsidialverwaltung wüteten und zwei öffentliche Gebäude besetzten zur »Bruderschaft«. Die Organisation wird von Dmitro Kortschinski geleitet. Er hatte 1990 in Lviv die antirussische und antisemitische Ukrainische Nationalversammlung (UNA) gegründet. Viele UNA-Mitglieder sind auch Mitglieder der Ukrainischen Nationalen Selbstverteidigung (UNSO). Diese Organisation sammelte in den letzten 20 Jahren zahlreiche militärische Erfahrungen. So kämpften von 1992 bis 1994 UNSO-Mitglieder in Transnistrien zusammen mit russischen Nationalisten für »angestammte ukrainische und russische Erde«. Wenn die Partei der Regionen keine Neuwahl des Präsidenten und der Werchowna Rada zulässt, »ist eine gewaltsame Variante unausweichlich« heißt es in einer Erklärung auf der Website der Organisation.

Wie sehr die Nationalisten und Rechtsradikalen in der Ukraine auf dem Vormarsch sind, zeigt sich an Oleg Tjagnibok. Er gehört mit Klitschko und Jazenjuk zu den Sprechern der pro-europäischen Protestbewegung, steht aber für alles andere als europäische Werte. 1991 war er Mitbegründer der Sozial-Nationalen Partei der Ukraine (SNPU), deren Mitglieder gern in schwarzen Uniformen auftraten und vor Parlamenten randalierten. Offizielles Symbol ist eine modifizierte Wolfsangel, wie sie auch von der SS-Division »Das Reich« verwendet wurde. Im Juli 2004 lobte Tjagnibok die Ukrainische Aufstandsarmee, an der Seite der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Sie hätte gekämpft »gegen Moskauer, gegen Deutsche, gegen Juden und andere Nicht-Reine, welche uns unseren ukrainischen Staat nehmen wollten«.

Im Februar 2004 wurde die SNPU in »Swoboda« umbenannt, Tjagnibok ihr Vorsitzender. Die Kommunistische Partei soll verboten und der Staatsapparat von »Agenten Moskaus« gesäubert werden. Mit den USA und Großbritannien sollen zweiseitige Vereinbarungen über gegenseitige Militärhilfe im Falle einer Aggression geschlossen werden. Swoboda holte 2012 bei den Wahlen 10,44 Prozent der Stimmen und zog mit 37 Abgeordneten in die Werchowna Rada ein. Offenbar lenkt sie immer wirksamer Unzufriedenheit auf ihre nationalistischen Mühlen.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 4. Dezember 2013


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