Ukraine: Kiewer Krise vorläufig beigelegt
Juschtschenko bremste Timoschenko mit Hilfe einstiger Gegner aus
Von Manfred Schünemann*
Erst im zweiten Wahlgang erhielt der Wunschkandidat von Präsident Viktor Juschtschenko als
Regierungschef – Juri Jechanurow – die erforderliche Mehrheit im Parlament. Jechanurow verdankt
seine Wahl auch Stimmen aus dem Lager des einstigen Juschtschenko-Rivalen Viktor
Janukowitsch.
Im ersten Anlauf am Dienstag hatten Juri Jechanurow fünf Stimmen gefehlt, im zweiten am
Donnerstag war die Mehrheit für ihn jedoch eindeutig: 289 von insgesamt 450 Abgeordneten der
Werchowna Rada stimmten für ihn. Den Umschwung zu bewirken, hatte es mehrstündiger
Gespräche Viktor Juschtschenkos mit den Vorsitzenden aller Fraktionen und den früheren
Ministerpräsidenten Julia Timoschenko und Viktor Janukowitsch bedurft. Das Land brauche bis zu
den Parlamentswahlen im kommenden Jahr eine berechenbare, pragmatisch geführte
Übergangsregierung, argumentierte Juschtschenko. Und Jechanurow sei als parteipolitisch
unabhängiger Politiker der dafür am besten geeignete Kandidat.
Neben dem Präsidentenlager stimmten schließlich auch viele Abgeordnete von Janukowitschs
Partei der Regionen für Jechanurow. Selbst aus der Fraktion der gerade von Juschtschenko
entlassenen Julia Timoschenko gab es sieben Ja-Stimmen. Kommunisten und Vereinigte
Sozialdemokraten blieben dagegen bei ihrer Ablehnung und nahmen nicht an der Wahl teil.
Präsident Juschtschenko sieht sich durch das Ergebnis in seinem politischen Konflikt mit Julia
Timoschenko gestärkt. Die einstige »Gasprinzessin« musste ihre Taktik angesichts des
Kräfteverhältnisses im Parlament erneut ändern. Sie verzichtete nicht nur auf eine Gegenkandidatur,
sondern fordert jetzt vom Präsidenten, »die Anstrengungen erneut zu vereinen und gemeinsam eine
neue Regierung zu formieren«. Gerade hatte man einander noch Korruption, Vetternwirtschaft und
Stimmenkauf vorgeworfen.
Tiefe Differenzen zwischen den einst »revolutionär« verbündeten Lagern Juschtschenkos und
Timoschenkos werden die politischen Auseinandersetzungen mindestens bis zu den
Parlamentswahlen beherrschen. Dahinter verbergen sich die unterschiedlichen Interessen
verschiedener Wirtschaftsgruppierungen. Ähnlich wie Wladimir Putin in Russland setzt
Juschtschenko seit seinem Amtsantritt auf die Unterstützung von Wirtschafts- und Finanzclans, die
mit allen Mitteln gegen eine Überprüfung ihrer Eigentumsrechte kämpfen und einen Neuverkauf des
früheren Staatseigentums strikt ablehnen. Ganz in deren Sinn erklärte Juschtschenko abermals,
dass die bestehenden Eigentumsrechte garantiert seien und lediglich »einzelne Fälle« der
Privatisierung in den 90er Jahren gerichtlich überprüft würden. In Juri Jechanurow, der als Chef der
Vermögensverwaltung lange Jahre die Privatisierung leitete, sehen diese Kreise einen Garanten
dafür. Juschtschenkos Versicherung dürfte auch jene ausländischen Teilhaber und Besitzer
privatisierter ukrainischer Unternehmen befriedigt haben, die durch die
»Neuprivatisierungsvorhaben« Julia Timoschenkos verunsichert waren. In Russland und den USA
war die Ablösung der Ministerpräsidentin jedenfalls mit Wohlwollen verfolgt worden. Konflikte um
das Edelstahlwerk Nikopol und die Asow-Stahlwerke im Donezker Gebiet betrafen nämlich
unmittelbar auch die Interessen russischer und US-amerikanischer Investoren.
In der Bevölkerung hat der Streit der beiden »Revolutionshelden« indes zu einer Desillusionierung
über Charakter, Ziele und Ergebnisse des Machtwechsels nach den Präsidentenwahlen Ende
letzten Jahres geführt. Immer mehr Ukrainer fragen, ob es tatsächlich eine »Revolution« ist, wenn
Korruption, Machtmissbrauch und andere Übel der Präsidentschaft Leonid Kutschmas fortleben und
lediglich einige Akteure ausgetauscht wurden. Gefragt wird auch nach den Finanzquellen
Juschtschenkos und nach der Rolle des Auslands, zumal in den letzten Wochen Belege für
Finanzhilfen des russischen Oligarchen Boris Beresowski und für die US-amerikanische
Unterstützung des Juschtschenko-Wahlkampfs auftauchten. Der erste Präsident der unabhängigen
Ukraine, Leonid Krawtschuk, wurde kürzlich in einem Interview nach dem »russischen Faktor« in
den ukrainischen Auseinandersetzungen befragt. Er antwortete, der russische Einfluss sei
überbetont worden. Warum – so Krawtschuk – »spricht niemand über den europäischen oder
amerikanischen Faktor, die den Wahlausgang bestimmten?«
Die innenpolitische Krise der Ukraine ist indes längst nicht beendet. Neue Zuspitzungen sind
jederzeit möglich, wodurch die ohnehin angespannte Wirtschaftslage weiter belastet würde. Auch
deshalb ist das in- und ausländische Kapital dringend an einer pragmatischen Wirtschaftspolitik
interessiert, wie sie Jechanurow vertritt. In deren Mittelpunkt steht die Stabilisierung der Investitions-
und Profitmöglichkeiten.
* Aus: Neues Deutschland, 26. September 2005
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