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Ukraine vor Herbst der Entscheidungen

Beim Streit um die weitere Annäherung an die EU spielt auch Russland eine wichtige Rolle

Von Manfred Schünemann *

Tausende haben in der Ukraine am Tag der Unabhängigkeit für eine Annäherung an die EU demonstriert. Das geplante Assoziierungsabkommen nannte Präsident Viktor Janukowitsch am Sonnabend einen »wichtigen Anreiz zur Schaffung eines modernen europäischen Staates«. Auch Oppositionspolitiker wie Vitali Klitschko und Julia Timoschenko plädierten dafür.

Richtige Feiertagsstimmung wollte in der Ukraine jetzt nicht aufkommen. Dazu sind die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme des Landes zu groß. Wie in anderen ost- und südeuropäischen Staaten auch, konnte sich die Wirtschaft bisher nicht von den Folgen der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise und insbesondere von der Krise in der Eurozone erholen. Nach allen Prognosen wird das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr bestenfalls stagnieren. Die Industrieproduktion sank im ersten Halbjahr um 5,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Aufgrund des weltweiten Rückgangs der Nachfrage und Preise für mineralische Rohstoffe, Stahl und Eisenerzeugnisse (mehr als ein Drittel der ukrainischen Exportgüter) werden die Exporterlöse sinken und das Außenhandelsdefizit weiter anwachsen.

Auch das geplante Haushaltsdefizit von 3,5 Prozent wird am Ende wohl bei über fünf Prozent liegen und nur durch eine weitere Neuverschuldung im Inland (Staatsanleihen) und bei internationalen Kreditgebern wie IWF und Weltbank auszuglechen sein. Der IWF hat aber deutlich gemacht, dass die Freigabe neuer Milliardenkredite nur bei strikter Erfüllung von Sparauflagen zur Haushaltskonsolidierung und bei konsequenter Durchsetzung »marktgerechter« Wohnungsmieten sowie Gas- und Stromtarife erfolgen wird.

Gerade diese Forderungen rufen in der Bevölkerung ernsthafte Besorgnisse hervor, da Tariferhöhungen von bis zu 30 Prozent bei durchschnittlichen Monatslöhnen von etwa 300 Euro und Renten von etwa 120 Euro nicht zu schultern sind. Bisher war die Regierung von Ministerpräsident Mikola Asarow vor solchen Erhöhungen zurückgeschreckt und möchte sie auch jetzt möglichst bis nach den Entscheidungen der EU zur Unterzeichnung der Assoziierungs- und Freihandelsabkommen hinauszögern. Nach wie vor befürwortet zwar eine große Mehrheit der Bevölkerung die Anbindung an die EU; gleichzeitig wachsen aber die Zweifel, ob die Integrationsabkommen tatsächlich den Weg zu einer nachhaltigen Konsolidierung der ukrainischen Wirtschaft, zum wirtschaftlichen Aufschwung und zur Verbesserung der sozialen Lage frei machen.

In den letzten Wochen wuchs in Unternehmerkreisen die nicht unbegründete Sorge, dass sich mit den Abkommen die Absatzbedingungen für ukrainische Waren aufgrund der EU-Standards und langfristigen Zertifizierungsverfahren nicht verbessern könnten, der heimische Markt aber noch weiter für EU-Produkte geöffnet werden müsste. Zugleich würden zusätzliche Erschwernisse für Handel und Produktionskooperation mit den Ländern der Eurasischen Zollunion EAZU (Russland, Kasachstan, Belarus) entstehen.

Der jüngste »Handelskrieg« mit Moskau (u.a. zeitweiliger Einfuhrstopp für ukrainische Konditoreierzeugnisse, Verschärfung der Einfuhrkontrollen für Fleisch und Fleischprodukte, Kürzung der Getreideimporte) und die Androhung von Einschränkungen der Kooperation im Maschinenbau, der Rüstungsindustrie und der Luft- und Raumfahrt machen deutlich, was auf die ukrainische Wirtschaft im Falle einer tatsächlichen Westintegration zukommt.

Russland benutzt die traditionellen Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern, um den Druck auf Kiew zu verstärken, doch noch der EAZU als Vollmitglied beizutreten. Bisher war Moskau offenbar davon ausgegangen, dass die EU – vor allem Deutschland – aufgrund der »Demokratie- und Menschenrechtsdefizite« in der Ukraine die Unterzeichnung der Integrationsabkommen ablehnen bzw. weiter verzögern und Kiew sich dann der Zollunion anschließen würde. Als »Unterpfand« dafür galt die andauernde Inhaftierung und Strafverfolgung von Julia Timoschenko durch die ukrainische Justiz. Seit Brüssel und Berlin aber einen Verzicht auf ihre bedingungslose Freilassung als Vorbedingung erkennen lassen und intensiv an einem Deal über Timoschenkos zeitweilige medizinische Behandlung in Deutschland gearbeitet wird, setzt Russland immer stärker auf ökonomische Hebel und politischen Druck.

Gerade erst publizierte die einflussreiche Kiewer Wochenzeitung »Zerkalo Nedeli« einen ganzen Komplex möglicher Maßnahmen, um eine Unterzeichnung der EU-Abkommen zu verhindern und bis 2015 die Einbindung der Ukraine in die EAZU zu erreichen. Von der »Formierung eines wirksamen Netzes aller pro-russischen Kräfte für den Beitritt zur EAZU« bis hin zum Sieg eines entsprechenden Kandidaten bei den Präsidentenwahlen 2015 ist da ebenso die Rede wie von der »politischen Neutralisierung und Schwächung des Medieneinflusses der Kräfte für eine EU-Integration«. Eine Schlüsselrolle komme dabei der Bürgerbewegung »Ukrainische Wahl« mit Viktor Medwedtschuk an der Spitze zu, an deren Kongress Präsident Wladimir Putin bei seinem letzten Kiew-Besuch teilnahm und dafür den Meinungsaustausch mit Präsident Janukowitsch auf eine Viertelstunde verkürzte. Es ist davon auszugehen, dass Moskau seinen Druck auf die ukrainische Führung mit Blick auf die abschließende Überprüfung durch die EU-Kommission im September/Oktober noch weiter erhöhen wird. Gleichzeitig unternimmt Kiew derzeit alles, um die Bedingungen der EU für die Unterzeichnung der Abkommen im November zumindest formal zu erfüllen. Selbst die jüngste Forderung der »Venedig-Kommission« zur Teilnahmeberechtigung von »strafrechtlich belangten ukrainischen Bürgern« an Wahlen soll durch rasche Gesetzesänderungen noch erfüllt werden.

* Aus: neues deutschland, Montag, 26. August 2013


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