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Ukraine streitet weiter um EU-Abkommen

Timoschenko im Hungerstreik / Konservative Rechtsallianz mit deutschen Verbindungen einig im Protest

Von Klaus Joachim Herrmann *

Julia Timoschenko im Hungerstreik, Studenten auf den Straßen und die Opposition einigt sich auf ein gemeinsames Vorgehen. Die Ukraine streitet weiter um die Annäherung an die EU.

Die inhaftierte ehemalige Regierungschefin, die am Vorabend unter Hinweis auf eine Erkältungswelle in ihrer Charkiwer Klinik abgeschirmt wurde, ließ die Entscheidung zum Hungerstreik durch den Anwalt überbringen. Ziel des Protestes ist, dass der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch Freitag im litauischen Vilnius doch noch das EU-Assoziierungsabkommen unterzeichnet.

Danach sieht es nicht aus. Immerhin versicherte Janukowitsch in einer Videobotschaft an die Nation, das Land »geht den europäischen Weg« und er selbst werde »niemals etwas zum Nachteil der Ukraine oder ihres Volkes tun«. An dem Gipfel zur Östlichen Partnerschaft nimmt er wohl teil.

»Wir beginnen Anfang Dezember Verhandlungen mit Russland über die Wiederherstellung normaler Handels- und Wirtschaftsbeziehungen«, kündigte in Kiew Ministerpräsident Mykola Asarow an. Er räumte ein, dass Russland eine Verschiebung des EU-Abkommens angeregt habe. Als »unangemessen« wies der Sprecher von Russlands Präsidenten Wladimir Putin aber Vorwürfe zurück, Moskau habe massiven Druck auf Kiew ausgeübt.

Etwa 2000 streikende Studenten demonstrierten in der Innenstadt Kiews. Dort wurden am Tage die in der Nacht auch dank wärmender Feuer nicht unterbrochenen Proteste fortgesetzt. Der ukrainische Politologe Valeri Kutscheruk wurde von der Agentur UNIAN aber mit der Kritik zitiert, die Parteien hätten Wahlen einige Tage vergessen und auf ihre Fahnen verzichten sollen: »Die Menschen sind nicht wegen Politikern, sondern wegen einer Idee auf den Straßen, die nichts gemeinsam hat mit den Interessen der Oppositionsführer.«

Die einigten sich auf ein gemeinsames Vorgehen. »Wir sind alle verschieden, aber uns eint der Traum von Europa«, hieß es in einer Erklärung. Getragen werden die Proteste von den Parteien »Batkiwschtschina« (Vaterland) Julia Timoschenkos, UDAR (Schlag) des Boxers Vitali Klitschko und der rechtsextremen »Swoboda« (Freiheit) von Oleh Tiahnybok quasi als konservative Rechtsallianz. Auf Verbindungen zu deutschen Partnern verwiesen die »Informationen zur Deutschen Außenpolitik«, ein sich als parteipolitisch unabhängig verstehendes Internetportal.

Arbeitet die »Vaterlandspartei« schon länger mit der CDU zusammen, kann Klitschkos »Schlag« als deren Ziehkind gelten. Der Parteichef dankte ihr schon für Unterstützung bei einer »kohärenten Ideologie« und einem »soliden Parteiprogramm«. Vaterland und Schlag kooperieren auf europäischer Ebene mit der konservativ-bürgerlichen Europäischen Volkspartei (EVP).

»Swoboda« schmiedete ein Bündnis gegen Janukowitsch und die Kommunisten, freute sich Sachsens NPD-Fraktion an den Ultra-Nationalisten bei deren Besuch. Verbündet sind sie auch mit Frankreichs Front National (FN) in der »Allianz der Europäischen Nationalen Bewegungen«.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 27. November 2013


»Die Ukraine will sich an niemanden binden«

Unsichere Kantonisten in Kiew: Rußland stellt sich auf weitere Kehrtwendungen ein. Ein Gespräch mit Fjodor Lukjanow **

Fjodor ­Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs.

Wie betrachtet man in Rußland das, was derzeit zwischen der Ukraine und der EU abläuft?

Mit Genugtuung (lacht). Die Entscheidung des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch, den Assoziierungsvertrag nicht zu unterschreiben, kam für uns nicht überraschend. Bis vor ungefähr drei Wochen war die ganze offizielle Propaganda der Ukraine darauf ausgerichtet, die Vorzüge der EU-Assoziierung herauszustellen; danach hat sich das völlig gedreht, und die Annäherung an die EU wurde in den Zeitungen und im Fernsehen als Weg ins Unbekannte mit großen Risiken für die Ukraine dargestellt.

Natürlich ist in den letzten Wochen klar geworden, daß es bei diesem Vertrag von beiden Seiten auch um eine Konkurrenz um Einfluß geht. Das verbirgt niemand mehr, wir auch nicht. Wir sagen, okay, diese Entscheidung der Ukraine ist ein erster Schritt, wenn das ernstgemeint ist, müssen weitere folgen, insbesondere der Beitritt zur Zollunion.

Aber genau das hat Janukowitsch ja nicht angekündigt, den Beitritt zur Zollunion. Er warf nur der EU vor, die Ukraine nicht hinreichend für die Konsequenzen einer Assoziierung zu entschädigen.

Eben. Europa hat gedacht, die Ukraine wolle sich durch die Assoziierung an die EU binden oder eben durch den Verzicht auf sie an Rußland. Aber das trifft die ukrainische Position nicht; die Ukraine will sich an niemanden binden, und zwar nicht aus bösem Willen, sondern weil sie nicht kann, aus objektiven Gründen. Die Ukraine ist extrem zerrissen, was ihre Interessen angeht, das geht weit über die Frage Ost oder West hinaus. In der Ukraine melden sich ständig irgendwelche wirtschaftlichen Gruppierungen oder Clans mit Wünschen zu Wort, es gibt unterschiedliche soziale Interessen, die verschiedene politische Konsequenzen nahelegen, und so gibt es in der Ukraine auf politischer Ebene niemanden, der so etwas wie ein nationales Interesse formulieren könnte. Und solange das so ist, wird diese Schaukelpolitik weitergehen. Wir drängen die Ukraine überhaupt nicht dazu, der Zollunion beizutreten, denn wenn sie heute beiträte, dann wäre sie morgen schlimmer als Großbritannien in der EU: Ein Land, das zu jeder Frage sein eigenes Süppchen kochen will.

Wenn man in Rußland die Ukraine für so einen unzuverlässigen Partner hält – wozu braucht man sie dann überhaupt?

Ich denke, man kann in Rußland heute zwei Herangehensweisen in der Ukraine-Politik unterscheiden. Die eine kann man die traditionalistische nennen, da werden die historischen Bindungen zwischen Russen und Ukrainern sehr stark betont. Das personalisiert sich in dem Putin-Berater Sergej Glasjew, der in Zaporoshje in der Ukraine geboren wurde und sozusagen um seine Heimat kämpft. Diese Richtung akzentuiert sehr stark das industrielle Potential der Ukraine, die alten Zulieferungen im Rüstungs- und Raumfahrtbereich in sowjetischer Zeit, und kann sich nur schwer damit abfinden, daß dies alles jetzt nicht mehr »dazugehören« soll. Die andere Linie geht eher pragmatisch an die Frage heran und sagt: Was bringt uns das denn? Was haben wir davon, wenn wir jetzt in gemeinsame Projekte mit der Ukraine investieren, und danach machen sie dort wieder eine ihrer Kehrtwendungen? Ich habe den Eindruck, daß diese zweite Tendenz nach und nach an Bedeutung gewinnt. Das ist auch eine Generationenfrage.

Wenn das so ist – warum kämpft Rußland dann so um Einfluß in der Ukraine und läßt sie nicht einfach ihren Weg gehen?

(Lacht) Da ist auch eine Art Spielerpsychologie am Werk: Wenn wir sie nicht gewinnen können, sollt ihr sie auch nicht haben. Das ist nicht völlig rational.

Wie werden sich die russisch-ukrainischen Beziehungen weiter gestalten?

Das läßt sich nicht eindeutig sagen. Es gibt in Rußland seit einiger Zeit die Tendenz zu einer Art industrieller Autarkiepolitik. Auch wenn es anfangs vielleicht teurer ist, bauen wir lieber die Kapazitäten bei uns wieder auf, anstatt auf wackelige Kooperationen mit der Ukraine oder sonst jemandem zu setzen. Ich nenne ihnen ein Beispiel eines anderen Nachbarlands, mit dem wir im übrigen sehr gute und enge Beziehungen haben: Kasachstan. Trotzdem baut Rußland jetzt seinen eigenen Raumfahrtbahnhof, um nicht länger von Baikonur abhängig zu sein. So ähnlich könnte es mit der Ukraine auch kommen.

Interview: Reinhard Lauterbach

** Aus: junge welt, Mittwoch, 27. November 2013


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