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"Ausdruck von Demokratie"

Aussetzung des Assoziierungsabkommens mit der EU: Regierung in Kiew handelt pragmatisch und im Interesse der meisten Ukrainer. Ein Gespräch mit Frank Schumann *


Frank Schumann ist Verleger und Autor des Buches »Die Gauklerin. Der Fall Timoschenko« (Edition Ost, 2012).


Die ukrainische Regierung hat am Donnerstag das Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU auf Eis gelegt. Was hat in Kiew den Ausschlag gegeben, trotz jahrelanger Verhandlungen die Reißleine zu ziehen?

Gewiß nicht persönliche Animositäten oder Sympathien von Staats- und Regierungschefs, wie zu lesen ist. Auch wenn man den subjektiven Faktor nicht unterschätzen sollte: Letztlich sind Entscheidungen dieser Art Ausdruck von Interessen bestimmter Kräftegruppierungen. Früher sprach man von Klasseninteressen, was ja auch heute nicht ganz falsch ist, und vom Staat als Instrument zu dessen Durchsetzung. Und um konkret zu werden: In der Ukraine gibt es eine qualifizierte Mehrheit, die sich auch im Parlament wiederfindet, welche es ablehnt, sich in Konfrontation zu den Nachbarn bringen zu lassen. Die jetzige Administration – getragen von der »Partei der Regionen« und den Kommunisten – versteht das Land als eine Art Brücke zwischen Rußland und Westeuropa, nicht als Bollwerk gegen den Osten oder den Westen. Der Druck der EU auf die Ukraine, sich mit Haut und Haar dem Westen bedingungslos hinzugeben, dieses ultimative Entweder-Oder, hat letztlich zu einer souveränen Entscheidung geführt. Der Westen hatte Geopolitik im Stil des 19. Jahrhunderts à la Bismarck verfolgt: »Wir haben nicht eines Richteramtes zu walten, sondern deutsche Politik zu treiben.«

Kiew entschied nun ebenfalls in nationalem Interesse, was für mich Ausdruck gewachsenen Selbstbewußtseins ist. Da doch immer auf die vermeintlichen Demokratiedefizite in der Ukraine verwiesen wird, sage ich: Diese Entscheidung ist Ausdruck von Demokratie, nämlich Freiheit und Unabhängigkeit in der Entscheidung. Insofern war es sehr erhellend, als die »demokratische Opposition« im Parlament »Ganba, Ganba – Schande, Schande« skandierte und die Regierungsbank mit EU-Fahnen überhäufte, als sie der Mehrheit unterlegen war.

Inwieweit ging es bei dem Deal auch um die inhaftierte Julia Timoschenko, einstige Ikone der »Orangen Revolution« 2004?

Die EU hat extrem hoch gepokert und zudem lange auf eine Figur gesetzt, bei der inzwischen selbst im Westen der Lack ab ist. Die Kommentare der letzten Monate ließen die wachsende Distanzierung erkennen. Offenkundig meint man, daß die frühere Ministerpräsidentin doch nicht so eine makellose Weste hat wie jahrelang behauptet. Auch Timoschenko hat bemerkt, daß die Verknüpfung ihres Schicksals mit den nationalen Interessen der Ukraine in jener Sackgasse endete, in die sie die EU geführt hat. Timoschenko opferte sich darum unmittelbar nach dem Votum des Kiewer Parlaments auf dem Altar der EU, indem sie Präsident Janukowitsch anbot, auf ihre Behandlung in Deutschland zu verzichten, wenn der denn die Verträge mit der EU unterzeichnen würde.

Welche Alternativen zur EU-Assoziierung sieht die Führung um Präsident Wiktor Janukowitsch?

Sein Vorschlag, Gespräche sowohl mit der EU als auch mit Rußland über ein gemeinsames Handelsabkommen zu führen, verstehe ich als konstruktiven Versuch, die konfrontative Situation zu überwinden. Und zugleich als Test dafür, ob es dem Westen um gleichberechtigte Beziehungen zu allen Staaten inklusive Rußland geht und nicht, wie es ausschaut, lediglich um die Gewinnung eines weiteren Verbündeten gegen Moskau.

Der Rußland-Beauftragte der Bundesregierung, Andreas Schockenhoff, macht den russischen Präsidenten Wladimir Putin für das Aus des Abkommens verantwortlich. »Putin verfolgt eine Politik des Nullsummenspiels, das heißt, mir nutzt das, was meinen Gegner schwächt. Und was die anderen stark macht, ist für mich eine Schwächung«, sagte der CDU-Politiker am Freitag im RBB-Inforadio. Wie stark war bzw. ist der Druck Moskaus auf Kiew?

Ich sagte ja schon, daß diese Personalisierung von Politik unsinnig ist. Putin ist Vertreter nationaler Interessen Rußlands, und die versucht er durchzusetzen, wie dies Obama für die herrschende Kaste in den USA oder Merkel für die BRD tut. Moskaus Interessen werden unmittelbar berührt, wenn die Staaten an der Peripherie in Bündnisse eingebunden werden, welche – entgegen allen Bekundungen – nicht unbedingt freundschaftlich mit der Russischen Föderation verbunden sind. Wie würde, nur mal als Gedankenspiel, Deutschland reagieren, wenn Dänemark, Belgien und die Niederlande sich entschlössen, mit Rußland eine Art Wirtschafts- und Militärpakt einzugehen?

Kann man es Druck nennen, wenn in Kiew nüchtern kalkuliert wird: Rußland ist der größte und damit strategisch wichtigste Außenhandelspartner der Ukraine, was gewiß auch an 70 Jahren Sowjetunion liegt. Von Januar bis September 2013 ging das Volumen des Außenhandels mit der Russischen Förderation um 5,7 Milliarden Dollar zurück, das war ein Einbruch um etwa 17 Prozent. Die Russen nahmen der Ukraine weniger Waren ab, der Export schrumpfte um 1,7 Milliarden Dollar, das ist ein Rückgang um fast 13 Prozent. Wir erinnern uns der verheerenden Folgen in den frühen 90er Jahren, als die einstigen Märkte der untergegangenen DDR wegbrachen. In der Ukraine aber gibt es keinen gigantischen Finanztransfer wie seinerzeit bei uns. Dieses Land muß sich selbst helfen – und nicht zu den unverschämten Konditionen, die der Internationale Währungsfonds und die EU anbieten. Statt zu helfen, den internationalen Markt für ukrainische Waren zu öffnen, wurde beispielsweise von Kiew verlangt, die Löhne einzufrieren, die kommunalen Tarife zu verdoppeln und die Gaspreise für Privathaushalte drastisch anzuheben. Überdies wurden die IWF-Kredite zurückgefahren. Das alles zusammen habe das Faß zum Überlaufen gebracht, sagte am Freitag abend Regierungschef Nikolai Asarow in einer Talkshow. »Wir waren gezwungen, die Pause zu nehmen.«

Kiew handelt also überlegt pragmatisch und im Interesse der meisten Ukrainer, denen es wahrlich nicht gut geht. Asarow machte eine klare Ansage: So lange die jetzige Regierung und Präsident Janukowitsch in Amt sind, wird es den geforderten Sozialabbau nicht geben.

Die Oppositionsparteien von Julia Timoschenko und Witali Klitschko rufen zu Massenprotesten gegen die Regierung auf. Der Boxweltmeister meinte auf einer Kundgebung auf dem »Platz der Unabhängigkeit« in Kiew am Donnerstag abend: »Zusammen können wir diese Regierung austauschen.« Welche Resonanz haben sie in der Ukraine?

Solche Appelle verhallen im Lande weitgehend ungehört, die Resonanz in den westlichen Medien ist erheblich größer. Meine Freunde in Kiew, mit denen ich sprach, winkten nur ab. Sie gehen nicht mehr für die Interessen der Großverdiener auf die Straßen, nur weil denen augenblicklich die Felle davonzuschwimmen drohen. Außerdem gehöre die Ukraine so oder so zu Europa, ob mit oder ohne Assoziierungsabkommen, und im übrigen würden sich in der EU à la longue die vernünftigen Kräfte durchsetzen, die nicht 45 Millionen Menschen wegen einer einzigen Person leiden lassen würden. Dabei fiel auch der Name Merkel. Man hatte sehr wohl registriert, daß sich die deutsche Kanzlerin nach der Absage aus Kiew, anders als andere EU-Politiker, nur sehr zurückhaltend geäußert hat, obgleich sie doch früher zu Timoschenkos heftigsten Verteidigern gehörte.

Klitschko will 2015 bei den Präsidentschaftswahlen kandidieren. Hat er Chancen in der Ukraine?

Ich habe da Zweifel. Zwar gilt der politische Seiteneinsteiger als unverdorben und unverbraucht, auch die Ukraine sucht nach neuen Männern und Frauen in der Politik. Aber bislang vermochte er als Parlamentarier und Parteivorsitzender nicht sonderlich zu überzeugen: weder inhaltlich noch rhetorisch. Es war wohl kein Zufall, daß er zweimal bei der Oberbürgermeister-Wahl in Kiew unterlag.

Wie ist seine Partei UDAR (Schlag) politisch einzuschätzen?

Sie bildet mit der Timoschenko-Partei »Batkiwschtschina« und der nationalistischen Partei »Swoboda« in der Werchowna Rada die »demokratische Opposition«. »Swoboda«, die sich bis 2004 noch »Sozial-Nationale Partei der Ukraine« nannte, wird selbst von der Konrad-Adenauer-Stiftung als antisemitisch und fremdenfeindlich eingeschätzt. Sie feiert Terroristen wie Stepan Bandera und die Nazikollaborateure in der SS-Division Galizien, und Swoboda-Parlamentarier trafen sich mit Funktionären der rechtsextremen NPD, die in Deutschland verboten werden soll. Mit dieser Partei bildete UDAR bereits im Wahlkampf ein Bündnis. Das ist nicht nur unappetitlich, sondern auch merkwürdig, wenn man weiß, daß die jüdische Großmutter des Parteivorsitzenden Klitschko ein Holocaust-Opfer war, der Großvater Rodion Klitschko als Unteroffizier des NKWD 1940/41 in Wolhynien erfolgreich gegen Nationalisten kämpfte und sein Schwager, Leutnant Anatoli Etinson, am 1. Dezember 1943 bei der Befreiung der Ukraine von den faschistischen Okkupanten sein Leben verlor. Kurz: Ich denke, der Umgang von UDAR wirft ein bezeichnendes Licht auf die Partei und ihr Verständnis von Demokratie.

Interview: Rüdiger Göbel

* Aus: junge welt, Montag, 25. November 2013


Demonstrationen gegen Russland **

In der Ukraine sind am Sonntag Berichten westliche Medien zufolge Zehntausende Menschen gegen die Abkehr ihres Landes von der Europäischen Union auf die Straße gegangen (Foto). Nach Angaben eines AFP-Korrespondenten protestierten in der Hauptstadt Kiew rund 30000 Demonstranten gegen den Beschluß ihrer Regierung, die Vorbereitung eines Abkommens mit der EU auszusetzen. Laut dpa sollen es 50000 gewesen sein. Die Polizei sprach von 20000 Pro-EU-Demonstranten. Ebensoviele wurden allerdings auch von der Regierungspartei mobilisiert – was die hiesigen Agenturen wiederum nicht gemeldet haben. Zu den Protesten gegen Präsident Wiktor Janukowitsch hatten die Parteien um den Oppositionspolitiker und Boxweltmeister Witali Klitschko sowie der wegen Amtsmißbrauch und Korruption inhaftierten früheren Ministerpräsidentin Julia Timoschenko aufgerufen.

Die Demonstranten zogen mit EU-Flaggen und Fahnen der Oppositionsparteien zum »Platz der Unabhängigkeit« im Stadtzentrum. Auf Plakaten war die Aufschrift »Wir sind nicht die Sowjetunion, wir sind die Europäische Union« zu lesen. Janukowitsch habe mit der Absage an Brüssel den »Fehler seines Lebens« begangen, urteilte Timoschenko.

Auch die ukrainische Popsängerin Ruslana, Siegerin des Eurovision Song Contest von 2004, macht für den EU-Anschluß mobil. In einem »glühenden Appell« (dpa) auf ihrer Internetseite rief sie ihre Landsleute zu Protesten auf: »Wir müssen der Welt zeigen, daß die Ukraine nach Europa gehört, nicht nach Rußland!«

Bereits am Samstag hatten laut AFP rund 5000 ukrainische Nationalisten in Kiew der Millionen Hungertoten aus den Jahren 1932/33 gedacht. Die Kundgebungsteilnehmer trugen ukrainische Flaggen mit einem schwarzen Trauerflor. Mittendrin Witali Klitschko (Foto), der sich 2015 um das Präsidentenamt bewerben will. Die große Hungersnot Anfang der 30er Jahre in der Sowjetunion wird von ukrainischen Rechten instrumentalisiert. Vergeblich waren bisher die Bemühungen, daß UN-Gremien den angeblichen gezielten »Völkermord am ukrainischen Volk« durch das damalige Moskau anerkennen.

** Aus: junge welt, Montag, 25. November 2013


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